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Erkenntnisweisen

Das Biographische hat die persönlich-individuellen Besonderheiten der beiden geradezu komplementären Genies zutage gefördert. Spielte der Dichter als Kind gerne mit Puppen und inszenierte mit Freude und Hingabe mythische oder märchenhafte Rollenspiele, begeisterte den jungen Physiker das geheime Wirken der Natur im Magnetismus der Kompaßnadel oder im paradoxen Verhalten der Lichterscheinungen. Zudem keimte im Naturforscher früh die Faszination für die formale Strenge der Mathematik am Beispiel der Euklidischen Geometrie , während der Schriftsteller sich am Schreiben von Rezensionen in der Schülerzeitschrift Der Frühlingssturm übte oder staunend der Entwicklung erster Erzählungen folgte. Die mit der Flucht aus dem Nur-Persönlichen vorgebildete, gleichsam menschheits-invariante Persönlichkeit Einsteins prägte später sein gesamtes Werk, indem sie ihn für das Erschauen der Natur-Invarianten sensibilisierte. Und umgekehrt gelang es auch dem Dichter zum gleichsam menschlich-invarianten vorzudringen, gerade indem er aus den wiederkehrenden Erschütterungen seiner inneren Natur schöpfte. Innere und äußere Natur sind halt nur zwei Seiten einer Medaille. In der Tischrede anläßlich seines 50. Geburtstages führte der Dichter aus: Wenn ich einen Wunsch für den Nachruhm meines Werkes habe, so ist es der, man möge von ihm sagen, daß es lebensfreundlich ist, obwohl es vom Tode weiß. Nicht nur um die erzählerische Ausgestaltung schlichter Lebensschicksale geht es dem Literaten, sondern auch um deren Einbettung in den ,,mythopoetischen`` Zusammenhang der Menschheitsgeschichte.

Pais faßt in seiner wissenschaftlichen Biographie Albert Einsteins die beiden Wesenszüge des Physikers prägnant zusammen: Sollte mich jemand um eine Einsteinbiographie in einem Satz ersuchen, ich würde ihm antworten: ,,Er war der freieste Mensch, den ich jemals kennengelernt habe.`` Sollte ich um eine wissenschaftliche Biographie in einem Satz gebeten werden, ich würde schreiben: ,,Er verstand besser als alle vor oder nach ihm, Invarianzprinzipien zu erfinden und statistische Schwankungen anzuwenden.`` Vom Umgang mit dem Kompaß 1884 über das Erweckungserlebnis durch die Geometrie 1891 und das Gedankenexperiment zum Licht-Paradoxon 1895 führte ihn das Suchen nach Invarianten in den Lichterscheinungen im Rahmen der Elektrodynamik Maxwells zur speziellen Relativitätstheorie von 1905 und im Anschluß an die Gravitationstheorie Newtons 1915 zur allgemeinen Relativitätstheorie . Die Basis seines Schaffens war die Forderung, daß physikalische Sätze weitestgehend unabhängig vom Bewegungszustand ihres Bezugssystems sein sollten. Dieser in den Relativitätsprinzipien präzisierten Maxime entsprach die experimentelle Einsicht, daß Messungen nur unabhängig vom jeweiligen Bewegungszustand des Laborsystems sinnvoll verallgemeinert werden konnten. Neben dieser Entwicklungslinie, die auf eine einheitliche Feldtheorie aller Naturerscheinungen hinauslief und durch seinen Maßstab der Vollkommenheit bestimmt war, beginnt der zweite Forschungsstrang Einsteins zur statistischen Physik mit dem Lesen der Mechanik Ernst Machs während seiner Studienzeit 1899. Machs positivistische Kritik Newtons motivierte ihn nicht nur zur Entwicklung der Relativitätstheorie, sondern auch zur Formulierung der statistischen Physik. In seinem Nekrolog heißt es dazu: Nicht vertraut mit den früher erschienenen und den Gegenstand tatsächlich erschöpfenden Untersuchungen von Boltzmann und Gibbs , entwickelte ich die statistische Mechanik und die auf sie gegründete molekular-kinetische Theorie der Thermodynamik. Mein Hauptziel dabei war, Tatsachen zu finden, welche die Existenz von Atomen bestimmter endlicher Größe möglichst sicherstellten. Von Machs historisch-kritischer Darstellung der Mechanik und Einsteins erster wissenschaftlicher Arbeit über Folgerungen aus den Kapilaritätserscheinungen von 1901 sowie den Untersuchungen zur Brown'schen Bewegung und zur Photonenhypothese von 1905 über die LASER-Theorie von 1917 erstreckt sich Einsteins Anwendung statistischer Schwankungen bis hin zu der Vermutung über die Unvollständigkeit der Quantenmechanik aus dem Jahre 1935. Diese als Einstein-Podolsky-Rosen-(EPR)-Paradoxon bezeichnete Untersuchung beflügelt bis heute eine naturphilosophische Dabatte , in der nicht nur formal, sondern auch mit empirischen Argumenten über Realismus oder Positivismus, Objektivität oder Subjektivismus, Determinismus oder Wahrscheinlichkeit, Lokalität oder Fernwirkung diskutiert wird. Mit dem EPR-Paradoxon hatte Einstein seinen feldtheoretischen Anspruch auf Realismus, Objektivität, Determinismus und Lokalität auch auf die Atome angewandt. Auf Einsteins Weg vom Positivismus zum Realismus werde ich im Detail mit Bezug auf seine Arbeiten zwischen 1905 und 1915 zu sprechen kommen. Ähnlich wie Thomas Mann Gegensätze durch seine doppelte Optik verträglich zu machen suchte, bemühte sich auch Albert Einstein lebenslang um die Vereinbarung widerstreitender Themata in der Naturphilosophie , wie Ordnung und Gewißheit oder Chaos und Wahrscheinlichkeit sowie kontinuierliche Feldtheorie oder diskontinuierlicher Atomismus. Wiederholt hat er sich deshalb zur Methodenlehre und Erkenntnistheorie der Physik geäußert:

Prinzipien der theoretischen Physik (1914)

Prinzipien der Forschung (1918)

Äther und Relativitätstheorie (1920)

Geometrie und Erfahrung (1921)

Das Raum-, Äther- und Feldproblem der Physik (1930)

Zur Methodik der theoretischen Physik (1930)

Physik und Realität (1936)

Das Fundament der Physik (1940)

Quantenmechanik und Wirklichkeit (1948)

So wie Einstein sein Leben der Wissenschaft widmete und in seinem Werk aufging, hat Mann versucht, sein Leben zum Kunstwerk zu gestalten. Auch Thomas Mann hat sich vielfach zu den Methoden und der Ästhetik seiner Literatur geäußert:

Frühlingssturm (1893)

Kritik und Schaffen (1896)

Bilse und ich (1906)

Versuch über das Theater (1908)

Die gesellschaftliche Stellung des Schriftstellers in Deutschland (1910)

Über ,,Königliche Hoheit`` II (1910)

Auseinandersetzung mit Wagner (1911)

Der Literat (1913)

Die Entstehung des Doktor Faustus (1949)

Im Gegensatz zu Einstein konnte sich Mann nicht von sich selbst befreien im Anschauen der großartigen äußeren Natur. Der Schriftsteller hatte lebenslang den Kampf mit sich selbst auszutragen. Aber auch ihm gelang ein Stück weit die Befreiung durch Übertragung ins Werk. Das beginnt bereits 1893. Im Auftakt zu seiner Schülerzeitung Der Frühlingssturm schreibt er: Frühlingssturm! Ja, wie der Frühlingssturm in die verstaubte Natur, so wollen wir hineinfahren mit Worten und Gedanken in die Fülle von Gehirnverstaubtheit und Ignoranz und bornierten, aufgeblasenen Philistertums, die sich uns entegegenstellt. Das will unser Blatt, das will der ,,Frühlingssturm``!- Mit frischem Wind will er die Gehirne lüften, und zwar mit deutlichen Gedanken und stilsicheren Worten. Im Januar 1895 schreibt er an seinen in Lübeck zurückgebliebenen Schulfreund Otto Grautoff und ermutigt ihn folgendermaßen zum Weiterschreiben: Aber nur tapfer weiter! Halte Dich an das, was Deine Seele erlebt hat. ... Ringe danach, Deine vagen Empfindungen in deutliche Gedanken umzusetzen, und dann ringe mit der Sprache, um die Gedanken äußern zu können. So mache ich es auch, und es wird mir nicht leichter als Dir. Im April 1897 hat er dann seinen Weg gefunden, wie er verhüllt von sich in seinem Werk sprechen kann. Wiederum in einem Brief an den Freund gefällt er sich zunächst in der Pose des Ästheten: Was meine Anschauungsweise betrifft, so habe ich wenig Sinn für Moral und wenig Sympathie für Wissenschaft; ... Ich sehe die Welt ... mit artistischen Augen an. Und im Anschluß an die Erwähnung einer seiner wichtigen frühen Erzählungen, kommt er auf die nunmehr heilsame Wirkung des Schreibens zu sprechen: ... Seit dem ,,Kleinen Herrn Friedemann`` vermag ich plötzlich die diskreten Formen und Masken zu finden, in denen ich mit meinen Erlebnissen unter die Leute gehen kann, während ich ehemals, wollte ich mich auch nur mirselbst mitteilen, eines heimlichen Tagebuches bedurfte. ... Unter dem Titel In my beginning is my end ist Heftrich im Thomas Mann Jahrbuch 1998 den Weg des Dichters vom Kleinen Herrn Friedemann und Buddenbrooks bis hin zum Doktor Faustus nachgegangen.



 
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Ingo Tessmann
2/16/2003