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Einsteins Entwicklung vom Positivisten zum Klassiker

Die Entwicklung Einsteins vom Positivisten zum Klassiker hat Pais nachgezeichnet. In seinem Nekrolog hebt Einstein einige Gesichtspunkte hervor, nach denen physikalische Theorien überhaupt kritisiert werden können, nämlich innere Vollkommenheit und äußere Bewährung sowie Einfachheit und Reichhaltigkeit. Zur inneren Vollkommenheit fügt er erläuternd hinzu: Wir schätzen eine Theorie höher, wenn sie nicht eine vom logischen Standpunkt willkürliche Wahl unter an sich gleichberechtigten und analog gebauten Theorien ist. Willkür war dem Theoretiker einfach zuwider und man ist geneigt, anzunehmen, daß sich sein theoretischer Vollkommenheitsanspruch mit seinem Persönlichkeitsideal deckte und ihm bewußte Strukturen seiner inneren Natur repräsentierte. Hat ihm der Positivismus bis hin zu seinen berühmten Arbeiten aus dem Jahre 1905 als Richtschnur gedient, kritisiert er aber sodann an Mach, daß er ein zu großes Gewicht auf die äußere Bewährung einer Theorie lege und ihre spekulativ-mathematische Ausgestaltung lediglich als ,,Denkökonomie`` ansehe. Im Nekrolog weist Einstein darauf hin, daß ihm Machs Erkenntnistheorie in jungen Jahren sehr beeindruckt habe, ihm heute aber als im wesentlichen unhaltbar erscheine: Er hat nämlich die dem Wesen nach konstruktive und spekulative Natur alles Denkens und im besonderen des wissenschaftlichen Denkens nicht richtig ins Licht gestellt und infolge davon die Theorie gerade an solchen Stellen verurteilt, an welchen der konstruktiv-spekulative Charakter unverhüllbar zutage tritt, z.B. in der kinetischen Atomtheorie. In seiner Arbeit zur Brownschen Bewegung hat Einstein dann zweierlei gezeigt: Zum einen ließen sich die beobachtbaren chaotischen Bewegungen aus einer unterliegenden Schicht von Ordnung verstehen. Und darüber hinaus lieferten die theoretischen Folgerungen überhaupt erst die Möglichkeit einer experimentellen Überprüfung der streng deterministisch-atomistischen Struktur der Materie. Ebenso verhielt es sich mit den bizarren Folgerungen aus der speziellen Relativitätstheorie : der Längenkontraktion, der Zeitdilatation, dem Additionstheorem der Geschwindigkeiten, dem Zwillingsparadoxon und der Proportionalität von Energie und Frequenz eines Lichtkomplexes sowie der berühmten Formel über die Trägheit der Energie. 1920 hat Einstein in einem aufschlußreichen Artikel die Grundgedanken und Methoden der Relativitätstheorie in ihrer Entwicklung dargestellt. Darin beschreibt er seine unbefriedigenden Versuche, Newtons Gravitationstheorie in seine Theorie einzufügen: Als ich im Jahre 1907 an einem zusammenfassenden Artikel über die spezielle Relativitätstheorie für das Jahrbuch der Radioaktivität und Elektronik arbeitete, war ich auch versucht, die Newtonsche Theorie der Gravitation derart zu modifizieren, daß sich ihre Gesetze in die spezielle Relativitätstheorie einfügen. Meine Versuche in diese Richtung zeigten, daß dies zwar möglich sei, aber sie befriedigten mich nicht, weil sie von physikalisch unbegründeten Hypothesen ausgingen.

Unzufrieden mit der Willkür seiner Annahmen, kommt ihm dann beglückt der zündende Gedanke über das Äquivalenzprinzip: Dann stieß ich auf den glücklichsten Gedanken meines Lebens, und zwar in der folgenden Form. Wie das elektrische Feld, das von der magnetoelektrischen Induktion hervorgerufen wird, besitzt auch das Gravitationsfeld nur eine relative Existenz. Für einen Beobachter, der sich im freien Fall vom Dach eines Hauses befindet, existiert - zumindest in seiner unmittelbaen Umgebung - kein Gravitationsfeld. Wenn nämlich der fallende Beobachter einige andere Körper fallen läßt, dann befinden sie sich im Bezug auf ihn im Zustand der Ruhe oder gleichförmigen Bewegung ... . Inspiriert fährt das Genie fort: Durch diese Betrachtungsweise erhält das eigentümliche experimentelle Gesetz, daß in einem Gravitationsfeld alle Körper mit der gleichen Beschleunigung fallen, mit einem Schlag eine tiefe physikalische Bedeutung. Und es folgt die Konsequenz: So ist die experimentell nachgewiesene Unabhängigkeit der Fallbeschleunigung ein starkes Argument für die Tatsache, daß das Relativitätspostulat auch auf Koordinatensysteme ausgedehnt werden muß, die sich zueinander in nicht gleichförmiger Bewegung befinden. Damit war der Weg in die Verallgemeinerung des Relativitätsprinzips geebnet. Seinen glücklichsten Gedanken hat er irgendwann im November 1907 gehabt; denn in seiner Kyoto-Vorlesung führt er im Dezember 1922 aus: Ich saß auf meinem Sessel im Berner Patentamt, als mir plötzlich folgender Gedanke kam: ,,Wenn sich eine Person im freien Fall befindet, dann spürt sie ihr eigenes Gewicht nicht.`` Ich war verblüfft. Dieser einfache Gedanke machte auf mich einen tiefen Eindruck. Er trieb mich in Richtung einer Theorie der Gravitation. Einstein fährt fort in seinem Streben nach Vereinheitlichung: Als ich im Jahr 1907 an einem Überblicksartikel über die Konsequenzen der speziellen Relativitätstheorie schrieb, mußte ich erkennen, daß alle natürlichen Phänomene mit Ausnahme des Gravitationsgesetzes in den Begriffen der speziellen Relativitätstheorie dargestellt werden konnten. Ich verspürte eine tiefe Sehnsucht den Grund dafür zu erkennen. ... Es war für mich außerordentlich unbefriedigend, daß im Rahmen der speziellen Relativitätstheorie die Beziehung zwischen Trägheit und Energie so schön hergeleitet werden kann, während es doch keine Relation zwischen Trägheit und Gewicht gibt. Ich vermutete, daß eine solche Beziehung im Rahmen der speziellen Relativitätstheorie nicht erklärt werden könne.

Zwischen 1907 und 1911 beschäftigten Einstein Probleme der Quantentheorie. Erst im Juni 1911 wendet er sein Interesse wieder der Gravitationstheorie zu mit einer Arbeit Über den Einfluß der Gravitation auf die Fortpflanzung des Lichts. In ihr scheint ersmals die Perspektive auf, das Äquivalenzprinzip aus einer neuen Gravitationstheorie herzuleiten: Natürlich kann man ein beliebiges Schwerefeld nicht durch einen Bewegungszustand des Systems ohne Gravitationsfeld ersetzen, ebensowenig, als man durch eine Relativitätstransformation alle Punkte eines beliebig bewegten Mediums auf Ruhe transformieren kann. 1912 trifft der Physiker dann die schwerwiegende Entscheidung, den Boden des unbedingten Äquivalenzprinzips zu verlassen und eine nichtlineare Theorie des Gravitationsfeldes zu entwickeln: Wenn jegliche Energiedichte eine (negative) Divergenz der Kraftlinien der Gravitation erzeugt, so muß dies auch für die Energiedichte der Gravitation selbst gelten, d.h. für das Feld c gilt die Gleichung:

\begin{displaymath}
\Delta c = k \left[{c \sigma + {1 \over {2k}}{(\nabla c)^2 \over c}}\right] \end{displaymath}

k bezeichnet eine Konstante und $\sigma$ symbolisiert die Materiedichte.

Mit Hilfe seines alten Studienfreundes und Mathematikers Marcel Grossmann gelang Einstein Anfang August 1912 der große Durchbruch zur Riemannschen Geometrie. In einem Brief an den Kollegen Sommerfeld bekennt er im Oktober 1912: Ich beschäftige mich jetzt ausschließlich mit dem Gravitationsproblem und glaube nun, mit Hilfe eines hiesigen befreundeten Mathematikers aller Schwierigkeiten Herr zu werden. Aber das eine ist sicher, daß ich mich im Leben noch nicht annäherend so geplagt habe und daß ich große Hochachtung für die Mathematik eingeflößt bekommen habe, die ich bis jetzt in ihren subtileren Teilen in meiner Einfalt für puren Luxus ansah! Gegen dies Problem ist die ursprüngliche Relativitätstheorie eine Kinderei. In der Kyoto-Vorlesung erinnert er sich: Sind alle beschleunigten Systeme äquivalent, dann kann nicht in ihnen allen die euklidische Geometrie gelten. Die Geometrie aufzugeben und die physikalischen Gesetze beizubehalten, entspricht der Beschreibung von Gedanken ohne Worte. Wir müssen nach Worten suchen, ehe wir Gedanken darstellen können. Wonach müssen wir nun an dieser Stelle suchen? Dieses Problem blieb für mich bis 1912 unlösbar, als ich plötzlich erkannte, daß der Schlüssel zur Lösung des Mysteriums in der Gaußschen Flächentheorie zu finden war. Wie ich erkannte, haben die Gaußschen Flächenkoordinaten eine besondere Bedeutung. Allerdings wußte ich damals noch nicht, daß Riemann die Grundlage der Theorie in noch gründlicherer Weise untersucht hatte. Einstein und Grossmann beginnen ihre Arbeit bei der fundamentalen quadratischen Invariante des Linienelements:

\begin{displaymath}
ds^2 = g_{\mu \nu} dx^{\mu} dx^{\nu} \end{displaymath}

Die zehn Größen $g_{\mu \nu}$ des metrischen Tensors sahen sie dabei als dynamische Felder an, die in irgendeiner Weise die Gravitation beschreiben sollten. Wie aus der Gleichung für das Linienelement hervorgeht, kann aus den allgemeinen $dx^{\mu}$ der entsprechende natürliche Abstand nur dann ermittelt werden, wenn die das Gravitationsfeld bestimmenden Größen $g_{\mu \nu}$ bekannt sind. ... Das Gravitationsfeld beeinflußt die Meßkörper und Uhren in bestimmter Weise. Damit war der Zusammenhang zwischen Gravitationsfeld und ,,Raumzeit`` hergestellt und das Programm der allgemeinen Relativitätstheorie formuliert. Die Suche nach den Feldgleichungen begann und sollte sich als äußert mühsam erweisen. Erst im November 1915 legte Einstein schließlich der ,,Preußischen Akademie der Wissenschaften`` eine Arbeit vor, in der er das logische Gebäude der allgemeinen Relativitätstheorie endlich abschließen konnte. In seiner berühmten Feldgleichung bestimmen sich dabei wechselseitig die Tensoren T und R der Energiedichte und Raumzeit-Krümmung:

\begin{displaymath}
R^{\mu \nu} = -\kappa \left({T^{\mu \nu} - {1\over 2} g^{\mu...
 ... 
 R^{\mu \nu} - {1\over 2} g^{\mu \nu} R = -\kappa T^{\mu \nu}\end{displaymath}

Einstein beschließt seine Arbeit mit den Worten: Jede der speziellen Relativitätstheorie gemäße physikalische Theorie kann vermittels des absoluten Differentialkalküls in das System der allgemeinen Relativitätstheorie eingereiht werden, ohne daß letztere irgendein Kriterium für die Zulässigkeit jener Theorie lieferte. Damit ist endlich die allgemeine Relativitätstheorie als logisches Gebäude abgeschlossen. Auch das Äquivalenzprinzip und die Poisson-Gleichung der Newtonschen Gravitationstheorie waren als Spezialfälle in der Einsteinschen Theorie enthalten. Im Juni 1933 erinnert sich das Genie an seine Jahre ahnungsvollen Suchens und Sehnens: Aber das ahnungsvolle, Jahre währende Suchen im Dunkeln mit seiner gespannten Sehnsucht, seiner Abwechslung von Zuversicht und Ermattung und seinem endlichen Durchbrechen zur Klarheit, das kennt nur, wer es selber erlebt hat. Auf seiner Flucht vor dem Nur-Persönlichen war er über die operationalen Bestimmungen von Raum und Zeit in der speziellen Relativitätstheorie zu einem objektiv-kosmologischen Zusammenhang von Energiedichte, Raumzeit-Krümmung und Gravitationsfeld in der allgemeinen Relativitätstheorie gelangt. Einsteins Gravitationstheorie bildete den Endpunkt einer Entwicklung von Euklid über Galilei und Newton sowie Gauß und Riemann bis hin zu seiner Bestimmung der Raumzeit-Metrik als Gravitationsfeld. Damit vollendetete Einstein die klassische Theorie Newtons und blieb zeitlebens seinem Maßstab der Vollkommenheit treu. Eine vollkommene Theorie konnte gar nicht falsch sein. Folglich waren ihm die empirischen Bestätigungen einiger der Folgerungen seiner Theorie selbstverständlich, wie z.B. die Periheldrehung des Merkurs, die Lichtablenkung im Schwerefeld und die Rotverschiebung im Sprektrum weit entfernter Sterne. In der Öffentlichkeit dagegen machte ihn die erste experimentelle Bestätigung der Ablenkung des Lichts eines Fixsterns im Schwerefeld der Sonne bei einer Sonnenfinsternis 1919 schlagartig weltberühmt. Aber Ruhm verpflichtet - ebenso wie das erreichte wissensästhetische Niveau. Eine derart großartige Theorie mathematischer Schönheit und physikalischer Interpretierbarkeit war nicht mehr zu toppen. Ähnlich wie Thomas Mann nach dem Erfolg der Buddenbrooks geriet auch Albert Einstein nach Vollendung der allgemeinen Relativitätstheorie in eine Krise, zumal er immer wieder daran scheiterte, die Quantentheorie in eine seinen Ansprüchen genügende Theorie umzugestalten sowie Gravitation und Elektromagnetismus in einer Theorie zu vereinheitlichen.


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Ingo Tessmann
2/16/2003