Seine erste Krise aufgrund der Unvollkommenheit der speziellen Relativitätstheorie meisterte
Einstein mit Bravour, indem er die Invarianz seiner Theorie gerade soweit verallgemeinerte
wie es die Gravitation erforderte, um nach der einfachen Beziehung zwischen Trägheit und Energie
auch den allerdings sehr viel komplizierteren Zusammenhang zwischen Trägheit und Gewicht zu
erklären. Mit 12 hatte er sich aus den Fesseln religiöser Bevormundung befreit, mit 17 seine
Persönlichkeit transzendiert, mit 26 die Elektrodynamik Lorentz-invariant formuliert,
um endlich im Alter von 36 Jahren mit der Einstein-Invarianz die Gravitationstheorie
in ihrer Gültigkeit bis an die Grenzen des Universums auszudehnen. Thomas Manns Weg in die
Vollkommenheit der Literatur verlief ganz ähnlich. Die Engstirnigkeit blasiert-autoritärer
Bevormundung versuchte er mit 18 im Frühlingssturm hinwegzufegen. Im Alter von 21 Jahren
äußerte er sich erstmals öffentlich zum Verhältnis von Kunst und Kritik. Sein Aufsatz
Kritik und Schaffen erschien im Oktober 1896 in der Zeitschrift ,,Das zwanzigste
Jahrhundert`` anläßlich der vernichtenden Kritik des damaligen ,,Literaturpapstes``
Alfred Kerr an dem Lustspiel ,,Die kranke Zeit`` des Schriftstellers und Dramaturgen
Richard Skowronnek. Thomas Mann wendet sich entschieden gegen die ,,richtende`` Kritik
und plädiert für eine ,,erklärende`` Kritik: Mit dem Dahinschmelzen des Glaubens
an ein ,,Schönes an sich`` hat der Kritiker aufgehört, ein Richter zu sein und
ist zum Erklärer geworden. Nach einer vergleichenden Betrachtung von Künstler und Kritiker
kommt er zu dem Schluß: Der Künstler ist einseitig, wie jede starke Persönlichkeit; der
Kritiker ist vielseitig, eben weil er keine Persönlichkeit ist, denn er ist jeden Tag eine neue.
Und Mann bemerkt weiter, daß der moderne Begriff des Kritikers mit dem des Schauspielers und
des Interpreten zusammenfällt,-... Der Kunstkritiker hat also die Aufgabe, Kunst zu erklären,
sie nachzuspielen oder zu interpretieren. Über die Kriterien der Interpretation sagt Thomas Mann
noch nichts. Er begnügt sich lediglich mit einem vagen Hinweis auf den ,,Relativismus``
im Gegensatz zum Glauben an ein ,,Schönes an sich``. Gäbe es so etwas wie
,,innere Vollkommenheit`` und ,,äußere Bewährung`` auch in der Kunst?
Ein ,,Vollkommenheitsmaßstab`` sollte dann Richtschnur der Interpretation und Sache
des Kritikers sein und seine ,,Bewährung`` hätte das Kunstwerk beim Publikum zu bestehen.
Die Sicherheit, die Einstein beim Erschauen der Invarianten im Wirken der Natur erlangte, suchte
Mann im Erspüren seiner eigenen Natur zu erreichen.
Benutzte der Dichter für die Masken und Formen seiner Selbstdarstellung lebende Vorbilder,
blieben Mißverständnisse nicht aus. Um sich gegen den Vorwurf zu wehren, mit den Buddenbrooks
lediglich einen ,,Schlüsselroman`` des Lübecker Bürgertums im 19. Jahrhundert geschrieben zu haben,
veröffentlicht der Autor 1906 in den ,,Münchner Neuesten Nachrichten`` einen Essay unter
dem Titel: Bilse und Ich. Im Gegensatz zum bloßen Schlüsselroman Bilse erhebt Thomas
Mann für sich den Anspruch, ein Dichter zu sein, dem das Stoffliche, der Mummenschanz der Fabel
gar nichts, die Seele, die Beseelung aber alles bedeute: Die Beseelung ... da ist es, das
schöne Wort! Es ist nicht die Gabe der Erfindung - die der Beseelung ist es, welche den Dichter
macht. Um der damit drohenden Einseitigkeit des Dichters im Verhältnis zur Wirklichkeit zu entgehen,
knüpft Mann sogleich an Nietzsches Erkenntnis-Lyrik an, in der Kunst und Erkenntnis
zusammenflössen. Ein Erkenntnis-Lyriker will erkennen und gestalten: tief erkennen und schön
gestalten; und das geduldige Ertragen der Schmerzen, die von beidem unzertrennlich sind, gibt seinem
Leben die sittliche Weihe. Weiß man um diese Schmerzen? Daß alles Gestalten, Schaffen, Hervorbringen
Schmerz ist, Kampf und kreißende Qual ...? Aber nicht nur das Kunstschaffen, sondern auch
die Erkenntnisgewinnung ist mühsam: Daß aber auch die Erkenntnis, jene künstlerische
Erkenntnis, die man gemeinhin als ,,Beobachtung`` bezeichnet, wehe tut - weiß man
auch das? Die Beobachtung als Leidenschaft, als Passion, Martyrium, Heldentum - wer kennt sie?
Auch Einstein kannte sie. Er schrieb 1936 in seinem Selbstporträt: Das Bittere und das
Süße kam von außen, das Harte von innen, aus dem eigenen Streben. Ich tat in der Hauptsache,
wozu mich die eigene Natur trieb. ... Auch Pfeile des Hasses wurden nach mir geschossen; sie trafen
mich aber nie, weil sie gewissermaßen zu einer anderen Welt gehörten, zu der ich keine Beziehungen
habe. Ich lebte in jener Einsamkeit, die in der Jugend schmerzlich, in den Jahren der Reife aber
köstlich ist. Konstruktives Gestalten und reflexives Erkennen eint Kunst und Wissenschaft
gleichermaßen. Und so knüpft Thomas Mann am Schluß seines Essays an die Wissenschaften an:
Man spricht heute gern von ,,voraussetzungsloser`` Wissenschaft. Will man sich
weigern, auch der Schönen Wissenschaft, der Fröhlichen Wissenschaft der Kunst Voraussetzungslosigkeit
einzuräumen? ,,Der Künstler``, hat ein Dichter und Denker gesagt, ,,der nicht sein
ganzes Selbst preisgibt, ist ein unnützer Knecht.`` Das ist unsterblich wahr. Wie aber kann
ich mein ganzes Selbst preisgeben, ohne zugleich die Welt preiszugeben, die meine Vorstellung ist?
Meine Vorstellung, mein Erlebnis, mein Traum, mein Schmerz? Nicht von Euch
ist die Rede, gar niemals, seid es nun getröstet, sondern von mir, von mir ... - Lest dies!
Merkt dies! Es ist ein Sendschreiben, ein kleines Manifest. Die ,,Beseelungen`` des
Künstlers und die ,,Vergeistigungen`` des Wissenschaftlers werden noch zu präzisieren
sein. Der ,,Gefühlsinnigkeit`` beim Dichten und Denken der beiden entsprach ihre
,,Gefühlskälte`` nach außen. Damit glichen sie sozialen schwarzen Löchern,
die alles anziehen, was ihnen zu nahe kommt, selbst aber nur im verborgenen Strahlen. Allein
das Werk kündet vom Schmerz seiner hitzigen Entstehung. Der Schmerz des ungenügenden Schülers
wird in den Buddenbrooks in einem Satz zusammengefaßt: Petersen setzte sich und war
gerichtet. Eine an Gretchens Ende
gemahnende Heimsuchung.
Mit den Buddenbrooks hatte sich Mann als Meister der Epik etabliert. Zugleich faszinierte ihn aber das Musikdrama Wagners . Die Auseinandersetzung mit Wagners theoretischen Schriften beginnt mit dem Versuch über das Theater, ein Essay, der 1908 in der Zeitschrift ,,Nord und Süd`` erschien. Seine Zielrichtung ist polemisch und richtet sich gegen die anmaßende künstlerische Vorherrschaft des Theaters. Bereits einleitend steckt Thomas Mann den Rahmen seines Grundgedankens ab durch eine begriffliche Unterscheidung von Theater, Drama und Literatur: Das Theater macht Zugeständnisse an die Literatur, es hat den Ehrgeiz, sich ihrer bisweilen anzunehmen. Aber das Theater hat die Literatur nicht nötig, es könnte offenbar ohne sie bestehen. Das ist mein Eindruck. Man muß dem Theater eine gewisse absolute Daseinsfähigkeit und Daseinsberechtigung zuerkennen. Es ist ein Gebiet für sich, eine Welt für sich, eine fremde Welt: die Dichtung ist dort nicht eigentlich zu Hause, auch die dramatische nicht, wie wir sie verstehen,- das ist mein Eindruck. Die theatralische Kunst ist eigentlich überhaupt keine Dichtung; denn sie unterscheidet sich wesentlich von der des eigentlichen, des absoluten Dichters; sie ist nicht sowohl ein Dichten für die Bühne, als ein Dichten auf der Bühne, sie ist eine Umwendung der dichterischen Natur ins Mimische, und sie ist ganz eigentlich Sache des Schauspielers ... Manns Auszeichnung der dichterischen Epik gegenüber dem bloß mimischen Theater gipfelt in der Beurteilung des Wagnerischen Musikdramas als Epos: Wagner, mit der Gestaltung seines dramatischen Entwurfes ,,Siegfrieds Tod`` beschäftigt, ertrug es nicht (er erzählt es selbst), daß eine große Vorgeschichte vorm Anfang lag. Er schrieb den Jungen Siegfried, die Walküre, das Rheingold, er ruhte nicht, bis er alles zur direkten ,,sinnlichen`` Darstellung gebracht hatte, in vier Abenden alles, von der Urzelle, dem Erzbeginn, dem ersten tiefen es des Rheingoldvorspiels an. Er glaubte, nur so sei es dramatisch. Dennoch sieht jeder Künstler, daß nur seine motivische Technik, eine epische Technik, wie gesagt, ihm diese Ausführlichkeit wünschenswert machte. Was er schuf, war ein szenisches Epos,- etwas Wundervolles, aber kein Drama, im modernen nicht und gewiß nicht im Sinn der Tragödie. Damit hatte sich der Schriftsteller den Musiker gleichsam anverwandelt. Denn ebenso wie Wagner seinen ,,Ring des Nibelungen`` aus der Götterdämmerung heraus nachkomponierte, konnte Mann seine Buddenbrooks aus dem Verfall einer Familie heraus entwickeln, der dem Schicksal des kleinen Hanno vorausging. Auf den Untergang der Götter folgte der Untergang des Bürgertums;- mit ungewissem Ausgang.
Auf das Selbstverständnis des Schriftstellers kam Thomas Mann anläßlich einer Umfrage im März 1910 wieder zu sprechen. Die gesellschaftliche Stellung des Schriftstellers in Deutschland wurde zu seinen Lebzeiten aber nie veröffentlicht und ist in der GKFA nach der Handschrift im Thomas Mann Archiv gedruckt worden. Der Schriftsteller hebt an mit einem Vergleich zwischen Deutschland und Frankreich: Die deutsche Kunst ist die Musik, und auch die bildenden Künste erfreuen sich bei uns offizieller Achtung. Aber in Frankreich ist ohne Conkurrenz die Litteratur die Nationalkunst ... Den Deutschen sei geradezu eine gewisse Litteratur-Fremdheit, ja - Feindschaft eingeboren. Das spüre man besonders in München: Hier ist es, wo der Litterat, dieser Künstler der Erkenntnis (von der Kunst im naiven und treuherzigen Sinne geschieden durch Bewußtheit, durch Geist, durch Moralismus, durch Kritik) der scheuesten Befremdung, dem tiefsten Mißtrauen begegnet. Als Künstler der Erkenntnis wendet sich Thomas Mann vehement gegen eine Trivialisierung der Literatur und warnt davor, einen Abgrund zwischen Schriftsteller und Dichtertum aufzureißen: Im Lande Wagners, wo der litterarische Einschlag im Dichterischen, der sprachlich-analytische, beinahe für nichts geachtet, wo Jeder ,,Litterat`` geschimpft wird, der nicht lallt sondern schreibt ... Nach Manns Selbstverständnis geht der Dichter von der Idee aus und setzt sie in Plastik, Gestaltung, Leben um. Der absolute Schriftsteller geht vom Leben, Erlebnis, vom Sinnlichen aus und setzt es in Ideen, in Geist um, ,,verwandelt Alles in Licht und Flamme``, wie Nietzsche sagt. Weit entfernt, hierin einen Wesensunterschied zu sehen, plädiert Mann für eine Aufhebung des Gegensatzes durch schriftstellerisches Dichtertum und dichterische Kritik. Den so verstandenen literarischen Geist hält er abschließend für die höchste Offenbarung des Menschengeistes überhaupt. Er ist es, der das Verständnis für alles Menschliche weckt, der Sittigung, Veredelung, Bildung verbreitet ...
Bereits einen Monat später hatte Thomas Mann wiederum einen Anlaß, sich über seinen literarischen Geist in Königliche Hoheit zu äußern und sich dabei gegen das naive Mißverständnis zu wehren, es handele sich bloß um einen ,,Hofroman``. Im Aprilheft des Kunstwart 1910 führt er dazu aus: Der Fürst, den ich eigentlich im Sinne hatte, ist der, von dem Schiller in seinem Karl VII. sagen läßt: ,,Drum soll der Sänger mit dem König gehen, sie beide wohnen auf der Menschheit Höhen.`` Die anspielungsreiche Analyse des fürstlichen Daseins als eines formalen, unsachlichen, übersachlichen, mit einem Worte artistischen Daseins und die Erlösung der Hoheit durch die Liebe: Das ist der Inhalt meines Romans, und, voller Sympathie für jede Art ,,Sonderfall``, predigt er Menschlichkeit. Es handele sich um eine didaktische Allegorie, ein lehrhaftes Märchen, in dem er symbolisch die Krise des Individuums ausmale, also wiederum nur von sich selbst rede: - gerade, als ob ich es je mit einem andern ,,Stoff`` zu tun gehabt hätte, als mit meinem eigenen Leben. Wer ist ein Dichter? Der, dessen Leben symbolisch ist. In mir lebt der Glaube, daß ich nur von mir zu erzählen brauche, um auch der Zeit, der Allgemeinheit die Zunge zu lösen, und ohne diesen Glauben könnte ich mich der Qualen des Produzierens entschlagen.
Das Leben eines Dichters sei symbolisch und indem er nur von sich erzähle, spreche er auch
für die Allgemeinheit. Einstein steigerte diese Haltung des Erkenntnisdichters oder
Wissensästheten weit über die Allgemeinheit der Bürgerlichkeit hinaus in das
allumfassende Weltall. Die Wissenschaft des Physikers und die Kunst des Dichters überschneiden
sich dabei im Humanismus und im Festhalten an klassischen Prinzipien. In seiner Auseinandersetzung
mit Wagner, die 1911 im Juliheft Der Merker erschien, redet Thomas Mann erstmals öffentlich
einer neuen Klassizität das Wort, die sein Werk fortan prägen sollte und ihm ebenso wie
Einstein den Weg aus der ersten Schaffenskrise wies. Versöhnlich hebt der Dichter an: Was ich
Richard Wagner an Kunstglück und Kunsterkenntnis verdanke, kann ich nie vergessen und sollte ich
mich noch so weit im Geiste von ihm entfernen. Er fährt fort mit seiner Kritik an einer Kunst,
die zuviel Gewicht auf ihre Wirkung lege; ganz so wie er es schon seinem Bruder Heinrich gegenüber
getan hatte: Heute jedoch glaube ich nicht mehr, wenn ich es jemals glaubte, daß die Höhe
eines Kunstwerkes in der Unüberbietbarkeit seiner Wirkungsmittel bestehe. Und Thomas Mann beschließt
seinen Artikel mit der Forderung nach einer neuen Klassizität: Denke ich aber an das
Meisterwerk des zwanzigsten Jahrhunderts, so schwebt mir etwas vor, was sich von dem Wagnerischen
sehr wesentlich und, wie ich glaube, vorteilhaft unterscheidet,- irgend etwas ausnehmend Logisches,
Formvolles und Klares, etwas zugleich Strenges und Heiteres von nicht geringerer Willensspannung als
jenes, aber von kühlerer, vornehmerer und selbst gesunderer Geistigkeit, etwas, das seine Größe
nicht im Barock-Kollossalischen und seine Schönheit nicht im Rausche sucht,- eine neue Klassizität,
dünkt mich, muß kommen. Als Vorspiel dieser Neuorientierung erschien 1912 die Novelle Der Tod
in Venedig und ihren Höhepunkt erreichte Manns Klassizität 1924 mit Der Zauberberg. Ein
ähnlicher Zusammenhang ist zwischen der speziellen und allgemeinen Relativitätstheorie Einsteins
zu sehen, wobei sein Durchbruch zur Klassizität zeitgleich zu dem Manns erfolgte.
Einen ersten Abschluß seiner immer wieder angefangenen, aber nie ausgeführten Abhandlung über Geist und Kunst erreichte Thomas Mann 1913 mit seinem Beitrag Der Literat in den Januarausgaben des März. Der Essay bleibt allerdings Fragment, was angesichts der Weite des Themas kaum verwundert. Unverblümt gesteht der Dichter einleitend sein Scheitern ein: Eine große Abhandlung über Geist und Kunst, Kritik und Plastik, Erkenntnis und Schönheit, Wissen und Schöpfertum, Zivilisation und Kultur, Vernunft und Dämonie wurde vor Jahren erträumt und entworfen. Der Gegenstand führte ins Ungemessene, und die essayistische Disziplin des Verfassers reichte nicht aus, ihn zu komponieren. So blieb der Plan als amorphe Notizenmasse liegen. Was folgt, sind ein paar zusammenhängende Seiten aus dem Kapitel, in welchem versucht werden sollte, den Typus des literarischen Menschen in seiner abstrakten Reinheit kritisch darzustellen. Ganz im Sinne seiner vorangegangenen Überlegungen, wird der Literat vielleicht am vollkommensten durch den Namen eines Künstlers der Erkenntnis bestimmt. Und im Anschluß an Goethe fährt er fort: Schönschreiben heißt beinahe schön denken, und von da ist es nicht weit mehr zum schönen Handeln. Hat Schönheit in der Mathematik nicht selten die Wahrheit ihrer Interpretation zur Folge, geht es in der Literatur um die mit dem Schönheitssinn verbundene Tugend. Dabei drückt der Literat aus, indem er erlebt, er erlebt, indem er ausdrückt, und er lebt, um auszudrücken. Sein Künstleridealismus, sein Schönheitssinn, seine Sensibilität gegen das Gemeine, Lächerliche, Unwürdige führt zur Vernichtung aller niederen Leidenschaften, der Bosheit, des Neides, der Herrschsucht, der Rachgier, der Eifersucht; seine Kunst zu zergliedern und zu bezeichnen, die kühlende, erledigende Wirkung des literarischen Wortes führt zur Auflösung und Beilegung der Leidenschaft überhaupt, zur Sanftmut, zur Stille. Es ist bemerkenswert wie nahe hier der Dichter mit seiner Charakterisierung des Literaten als Künstlers der Erkenntnis dem Physiker auf seiner Flucht vor den primitiven Gefühlen des Alltagswahns mit seiner trostlosen Öde und schmerzlichen Rauheit in die kühle und weite Hochgebirgslandschaft des reinen und klaren Geistes gekommen ist.
Kunst ist dazu da, dem Häßlichen und Rohen in der Welt das Heitere, Gütige und Schöne in mahnendem Spott entgegen zu halten. Diesen Satz Manns setzt Carstensen seinem Buch: Thomas Mann - sehr menschlich voran. Frei nach Einstein könnte man ihn wie folgt umschreiben: Wissenschaft ist dazu da, dem Häßlichen und Rohen in der Welt das Einfache, Klare und Wahre in mathematischer Exaktheit entgegen zu halten. Im Januar 1921 hat sich der Physiker anläßlich einer Anfrage ,,aphoristisch`` über Das Gemeinsame am künstlerischen und wissenschaftlichen Erleben geäußert: Wo die Welt aufhört, Schauplatz des persönlichen Hoffens, Wünschens und Wollens zu sein, wo wir uns ihr als freie Geschöpfe bewundernd, fragend, schauend gegenüberstellen, da treten wir ins Reich der Kunst und Wissenschaft ein. Wird das Geschaute und Erlebte in der Sprache der Logik nachgebildet, so treiben wir Wissenschaft, wird es durch Formen vermittelt, deren Zusammenhänge dem bewußten Denken unzugänglich, doch intuitiv als sinnvoll erkannt sind, so treiben wir Kunst. Beiden gemeinsam ist die liebende Hingabe an das Überpersönliche, Willensferne. Mahnenden Spott und strenge Logik wußte der Erkenntnis-Künstler Einstein immer wieder in der Kritik an der positivistischen Quantenmechanik zu vereinen. Ganz ähnlich verhielt es sich mit dem dekadenten Ästhetizismus, von dem sich der Erkenntnis-Künstler Mann mit formvollendeter Ironie zu befreien wußte.