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Drei Interpretationen

Im folgenden werden die drei Akademiker Galileis drei Thesen zur Interpretation der Quantenmechanik diskutieren. Sagredo wird mit der Abstraktionsthese beginnen, Salviati für die Objektivitätsthese eintreten und Simplicio die Subjektivitätsthese verteidigen. Die Diskussion wird sich an folgende Grundbegriffe orientieren: Objektivität und Realität, Lokalität und Vollständigkeit, Gesetzlichkeit und Kausalität sowie Korrespondenz und Komplementarität.

Sagredo nimmt ein Buch von Peter Mittelsteadt zur Hand und liest die Kernthese der Kopenhagener Deutung vor: ,,Die Quantentheorie bezieht sich auf das atomare Naturgeschehen, wie es sich zeigt, wenn es mit realisierbaren Meßgeräten untersucht wird. Diese auf Bohr und Heisenberg zurückgehende Abstraktionsthese räumt dem Meßvorgang eine zentrale Rolle ein und sieht in der Quantenmechanik eine Theorie, die sich nur auf beobachtbare Größen bezieht.``

Sagredo greift sich ein Blatt Papier und erläutert die Schrödinger Gleichung :

\begin{displaymath}
{h \over {2 \pi i}} {\Psi}^{'} \, = H \Psi \end{displaymath}

,,H ist der nach Hamilton benannte Energieoperator und $\Psi $ bezeichnet die Zustandsfunktion. Denkt man an die Materiewellen, wird sie auch Wellenfunktion genannt. In der Algebra der Atome wird $\Psi $als Bestandteil eines linearen Funktionenraumes behandelt und Zustandsvektor genannt. Die Struktur linearer Funktionenräume wurde zuerst von Hilbert untersucht. Deshalb wird der Zustands-Raum der Quantenmechanik Hilbert-Raum genannt. Kennzeichen eines linearen Raumes ist das Superpositionsprinzip. D.h. jede Überlagerung von Zuständen $\Psi_n$ bildet wieder einen Zustand $\Psi $:

\begin{displaymath}
\Psi = \sum a_n \Psi_n \, = a_1 \Psi_1 + ... + a_n \Psi_n + ... \end{displaymath}

Die a's werden auch Entwicklungskoeffizienten genannt und sind komplex, d.h. als Summe einer reellen und einer imaginären Zahl darstellbar. Die Erwartungswerte der Energieniveaus lassen sich aus den Matrixelementen berechnen:

\begin{displaymath}
\overline{a} = \Psi^{\star} A \Psi \, \, \, bzw. \, \,
 \overline{E} = \Psi^{\star} H \Psi , \end{displaymath}

wenn es sich bei A um den Energieoperator H handelt ... ``

,,Die Formalisierung der Heisenberg'schen Algebra im Hilbert-Raum ist noch interpretations-invariant``, wirft Simplicio ein. ,,Aber fahre fort, oh Freund, Dir wird sicher schon ein Beispiel auf der Zunge liegen.``

,,Du sagst es``, beginnt Sagredo. ,,Denken wir uns ein Photon oder Elektron, das in zwei möglichen Zuständen $\Psi_1,\, \Psi_2$vorkommen kann. Z.B. die Richtungen auf und ab des Drehimpulses, oder zwei Energieniveaus des Elektrons. Ein Photon könnte z.B. in zwei entgegengesetzten Richtungen polarisiert sein. Der Zustandsvektor hat dann die Form:

Psi = a_1 x Psi_1 + a_2 x Psi_2 = (a_1 a_2)(Psi_1)
                                           (Psi_2)

Nehmen wir das Beispiel des in zwei Energieniveaus vorkommenden Elektrons. In linearen Räumen können die Operatoren durch quadratische Rechenschemata dargestellt werden, die Matrizen heißen. Der Zustandsvektor wird durch seine Entwicklungskoeffizienten bestimmt, und zwar als Zeilen- oder Spaltenvektor. Für den Erwartungswert $ \overline{E} = \Psi^{\star} H \Psi \, $ folgt damit explizit:

(a_1* a_2*)(E_11 E_12)(a_1)
           (E_21 E_22)(a_2)

Komponentenweises Ausmultiplizieren liefert:

\begin{displaymath}
\overline{E} = a_1^\star a_1 E_{11} + a_1^\star a_2 E_{12} + 
 a_2^\star a_1 E_{21} + a_2^\star a_2 E_{22} \end{displaymath}

Matrix mal Spaltenvektor ergibt einen Spaltenvektor. Zeilenvektor mal Spaltenvektor liefert eine reelle Zahl, das Skalarprodukt. Die Terme mit unterschiedlichen Indizes 12 bzw. 21 heißen Mischterme. Im Wellenbild entsprechen ihnen Interferenzen. Derartige Überlagerungen zweier Zustände in einem machen die Quantenmechanik zu einem Rätsel. Wir werden darauf zurück kommen. Handelt es sich nun bei den Zuständen $\Psi_1,\, \Psi_2$ um sogenannte Eigenzustände des Operators, verbleiben in der Matrix lediglich zwei Diagonalelemente und werden Eigenwerte genannt:

(a_1* a_2*)(E_11     )(a_1)
           (     E_22)(a_2)

Wir multiplizieren komponentenweise aus:

\begin{displaymath}
\overline{E} = \vert a_1\vert^2 E_1 + \vert a_2\vert^2 E_2 \, , \end{displaymath}

wobei |a1|2 das reelle Betragsquadrat des komplexen Entwicklungskoeffizienten $a_1^\star a_1$ bezeichnet. Mit einem Verhältnis der relativen Wahrscheinlichkeiten $w_1 = a_1^\star a_1$ und $w_2 = a_2^\star a_2$ von z.B. $w_1 / w_2 = 10 / 1 \,$folgt, daß der Energieeigenwert E1 10 mal häufiger gemessen würde als der Energieeigenwert E2.

Damit sind wir aber unversehens in die Interpretationsproblematik gelangt! Die statistische Interpretation der Quantenmechanik liegt nämlich in der Annahme, im Zustand $\Psi $ mit der Wahrscheinlichkeit wn den Eigenwert En zu messen. Durch den Vorgang der Messung wird aus den Meßwerten Ek des Operators H genau ein Wert ausgewählt. Z.B. befinden sich die Elektronen des Wasserstoffs in der Flamme des Bunsenbrenners auf dem Energieniveau E2.``

Sagredo greift zu Heisenbergs Physikalischen Prinzipien der Quantentheorie. ,,Der Meßprozeß muß in zwei scharf unterschiedene Akte zerlegt werden. Der erste Schritt der Messung besteht darin, daß das System einem äußeren physikalisch realen, den Ablauf der Ereignisse ändernden Eingriff - z.B. Bestrahlung mit Licht oder Einschalten eines Feldes - unterzogen wird. Dieser Eingriff hat zur Folge, daß das zu beobachtende System in ein Gemenge von - im allgemeinen unendlich vielen - Zuständen übergeht. ... Der zweite Akt der Messung greift dann unter den unendlich vielen Zuständen des Gemenges einen ganz bestimmten heraus. Dieser zweite Schritt stellt keinen Prozeß dar, der selbst den Verlauf des Geschehens beeinflußt, sondern verändert lediglich unsere Kenntnis der realen Verhältnisse.

Wenn wir an die Zerlegung des Meßoperators H durch die Matrixelemente denken, dann wird H durch die Messung zu einem Operator H = Ho + Hw erweitert. Ho bezieht sich auf das eigentlich zu messende System und Hw auf die Wechselwirkung zwischen System und Meßgerät während der Messung. Die Meß-Wechselwirkung überführt die Superposition aller Zustände von System und Meßgerät in ein Gemenge. Das ist eine Zustands-Überlagerung ohne Mischterme. Erst mit der Trennung von Meßgerät und System wird vom Meßgerät abstrahiert und E2 zu einer objektiven Eigenschaft des Systems. Diese erkenntnistheoretische Forderung, Objekte zu beschreiben, hat also die statistische Unbestimmtheit in der Voraussage der Eigenschaften der Objekte zur Folge!

Das Rätsel der Quantenmechanik besteht nun darin, daß sich der Erwartungswert $ \overline{E} = w_1 E_1 + w_2 E_2$ auch auf den Zustand $\Psi = a_1 \Psi_1 + a_2 \Psi_2 $ eines einzelnen Elektrons bezieht! Diese von Bohr sogenannte Individualität atomarer Zustände bereitet den Naturphilosophen bis heute Kopfzerbrechen. Für die Kopenhagener kommt den Zuständen bzw. den Wellenfunktionen deshalb überhaupt keine Realität zu. $\Psi^{\star} \Psi $ bzw. $\vert \Psi \vert^2$ legt für sie lediglich die Wahrscheinlichkeit fest, im Zeitintervall $\Delta t$ einen der beiden Energiewerte E1 oder E2 zu messen. D.h. vor der Messung befindet sich das Elektron in einer quantenmechanischen Zustands-Überlagerung. Nach der Messung liegt demgegenüber ein klassisch eindeutiger Meßwert, z.B. E2, vor.

Die Natur bzw. das physikalische System wird genötigt, Farbe zu bekennen. Zunächst werden ja durch den Meßeingriff aus der quantenmechanischen Zustandsentwicklung alle Mischterme getilgt. Aus dem so entstandenen Gemenge wird dann genau ein Wert als Meßwert ausgewählt. Um der Objektivität willen, wird also die Eindeutigkeit und Reproduzierbarkeit der Messung mit dem Preis der statistischen Unschärfe erkauft. Denn aufgrund der Heisenberg'schen Unschärferelation $\Delta E \Delta t \ge h$ können Zeitpunkt und Energiewert des Elektrons nicht zugleich exakt bestimmt werden. Weil die Frequenzmessung einer Spektrallinie ein minimales Zeitmaß erfordert. Die Nichtkommutativität der Quantenmechanik widerspricht zudem der klassischen Logik und Wahrscheinlichkeitstheorie. Es gilt z.B. nicht die klassische Tautologie $a \rightarrow (b \rightarrow a)$! Denn die Messung sogenannter inkommensurabler Eigenschaften mit nichtverschwindendem Kommutator hängt von der Reihenfolge der Messung ab. Weil jede Messung den Systemzustand stört. Dieses Problem der Objektivierung nichtkommensurabler Eigenschaften ist für die Kopenhagener der Grund dafür, der Natur und dem physikalischen System zwar grundsätzlich Realität zuzusprechen. Zugleich aber den subjektiven Eingriff der Messung anzuerkennen und die Theorie auf die Behandlung beobachtbarer Größen zu beschränken ... ``

,,Um den Preis der Vollständigkeit``, meldet Salviati sich zu Wort.

,,Du wirst noch Gelegenheit haben, uns Deine Objektivitätsthese vorzutragen``, fährt Sagredo fort. ,,Unterstellen wir eine endlich schnelle ($\le c$) und endlich große ($\ge h$) Wirkungsausbreitung, dann ist die Quantenmechanik eine lokale und vollständige Theorie. Sie ist allerdings unvereinbar mit der Annahme einer objektiven Realität. Aussagen über das Wie des Seins sind immer auch subjektiv ... ``

,,Womit wir bei der Subjektivitätsthese wären ... ``

,,Später, Simplicio, später. Kommen wir zur Gesetzlichkeit und Kausalität des Naturgeschehens. Die Schrödinger Gleichung legt in streng deterministischer Weise den raum-zeitlichen Wirkungsverlauf fest; allerdings nur für die Wahrscheinlichkeitsverteilung atomarer Zustände. Für Wirkungen oberhalb der Planck'schen Konstanten geht die Ursache der Wirkung stets voran. Lediglich Erwartungswerte ändern sich also gesetzmäßig und kausal. Raum-Zeit-Beschreibung und Kausalität atomarer Vorgänge sind nur um den Preis einer prinzipiellen Unschärfe vereinbar. Eine eindeutig-exakte Zuordnung von Ursache und Wirkung wäre nur ohne störende Messung möglich.

Das atomare Naturgeschehen erfolgt entweder im Raum-Zeit-Kontinuum der Schrödinger Gleichung, die den gesetzmäßigen Verlauf ungestörter Zustands-Entwicklungen bzw. Wahrscheinlichkeits-Verteilungen beschreibt. Oder aber wir führen eine Messung aus. Der Gesamtzustand zerfällt dann diskontinuierlich und willkürlich in ein Gemenge. Ein Eingriff, der auch Kollaps der Wellenfunktion genannt wird``, betont Sagredo und hebt nochmals hervor: ,,Die Heisenberg'sche Algebra ist exakt und kausal, abstrahiert aber von den Besonderheiten konkreter Zustands-Beschreibungen in Raum und Zeit. Die Schrödinger'schen Wellenfunktionen sind raumzeitlich exakt, kausal aber unscharf. Bohr hat deshalb das Naturgeschehen im Raum-Zeit-Kontinuum einerseits und die Kausalität atomarer Vorgänge andererseits als komplementär betrachtet.``

,,Das muß ich mir noch `mal vergegenwärtigen``, unterbricht Simplicio. ,,Die Zeitentwicklung für den Meßoperator in der Heisenberg Gleichung

\begin{displaymath}
{h \over {2 \pi i}} A^{'} = AH -HA \end{displaymath}

ist exakt und kausal, weil auf keinen speziellen Zustand Bezug genommen wird. Die Algebra der Atome ist damit Zustands-invariant. Eine konkrete Messung zu bestimmter Zeit am gewählten Ort setzt aber immer eine spezielle Zustandsentwicklung voraus, die bis zum Meßeingriff streng kausal verläuft; dann aber kollabiert und nur unscharfe Resultate liefert.``

,,Also``, beginnt Salviati mit Bedacht, ,,gerade indem wir möglichst genau den Ursache-Wirkungs-Zusammenhang, die Kausalität des Naturgeschehens, in Erfahrung bringen wollen, zerstören wir das Raum-Zeit-Kontinuum und damit die Kausalität! Sägen quasi den Ast ab, auf dem wir sitzen.`` Nach einem Moment der Stille fährt er fort: ,,Dann ist das Wirkungsquantum der Dreh- und Angelpunkt dafür, Welle- und Teilchen-Vorstellung sowie Raum-Zeit-Kontinuum und Kausalität selbstkonsistent in Einklang zu bringen.``

,,Nach Gödel schließen sich Konsistenz und Vollständigkeit aus``, erinnert Simplicio und fügt hinzu. ,,Eine ganzheitliche Theorie, die Subjekt und Objekt vereint, kann nur bis auf eine endliche Unbestimmtheit konsistent sein.``

,,Nun ist es aber an der Zeit, der Objektivitätsthese das Wort zu geben``, hebt Salviati ungeduldig zu reden an. ,,Du hast mich nicht minder verwirrt mit Deinem sowohl-als-auch der Kopenhagener, Sagredo. Mir scheint, Du scheust ein klares Urteil.``

Nur die Fülle führt zur Klarheit. Und im Abgrund wohnt die Wahrheit zitiert Sagredo: ,,Auf daß Du mich überzeugen mögest, lieber Freund.``

,,Nun denn``, beginnt Salviati. ,,Die Quantentheorie zeigt das atomare Naturgeschehen, wie es an sich ist.``

,,Eine kühne These``, läßt Simplicio sich ironisch vernehmen.

,,Ich beginne mit einer Arbeit , die Einstein, Podolsky und Rosen (EPR) 1935 veröffentlichten. Sie fragten sich: Kann man die quantenmechanische Beschreibung der physikalischen Wirklichkeit als vollständig betrachten? Folgende Kurzfassung stellten sie ihrer Arbeit voran: In einer vollständigen Theorie gibt es zu jedem Element der Realität stets ein entsprechendes Element. Eine hinreichende Bedingung für die Realität einer physikalischen Größe ist die Möglichkeit sie vorherzusagen, ohne das System zu stören. In der Quantenmechanik schließt im Falle von zwei physikalischen Größen, die durch nicht-kommutierende Operatoren beschrieben werden, das Wissen von der einen das Wissen von der anderen aus. Damit ist entweder (1) die Beschreibung der Realität, die durch die Wellenfunktion in der Quantenmechanik gegeben wird, nicht vollständig oder (2) diesen beiden Größen kann nicht gleichzeitig Realität zukommen. Die Betrachtung des Problems, Vorhersagen bezüglich eines Systems auf der Grundlage von Messungen zu machen, die an einem anderen System, das zuvor mit dem ersteren in Wechselwirkung stand, ausgeführt wurden, führen zu dem Ergebnis, daß wenn (1) falsch ist, dann auch (2) falsch ist. Man wird so zu dem Schluß geführt, daß die Beschreibung der Realität, wie sie von der Wellenfunktion geleistet wird, nicht vollständig ist.``

Für einen Moment tritt Ruhe ein. Sagredo blickt in die Runde. ,,Zum besseren Verständnis will ich die Logik des Gedankens noch einmal wiederholen. EPR beginnen mit drei Prämissen: Ihren Kriterien der Vollständigkeit und Realität sowie der Nichtkommutativität der Quantenmechanik. Aus diesen drei Voraussetzungen folgern sie die Alternative: Entweder ist die Quantenmechanik unvollständig oder zwei nichtkommutativen Größen kann nicht zugleich Realität zukommen.

Die Betrachtung eines Gedankenexperiments mit zwei korrelierten Teilchen, das der Lokalitätsbedingung der Relativitätstheorie zu genügen hat, führt EPR zur Hauptthese ihrer Arbeit: D.h. wenn die Quantenmechanik vollständig ist, dann kommt nichtkommutativen Größen Realität zu. Also ist die Quantenmechanik unvollständig.

Stellen wir uns als Beispiel ein System vor, das zum Zeitpunkt t1 am Ort q in zwei Teilchen zerfällt. D.h. $q_A = q_B,\, p_A = -p_B$.Weil der Gesamtimpuls des Systems p = pA + pB bekannt ist und über die Zeit erhalten bleibt, kann durch exakte Messung des Impulses pA zum Zeitpunkt t2 auch der Impuls pB exakt bestimmt werden, obwohl er nicht gemessen wurde ... ``

,,Und nicht nur das``, meldet Simplicio sich zu Wort. ,,Durch Messung von pA werde zwar im Einklang mit der Unschärferelation qA, aber nicht qB unscharf. D.h. eine weitere Messung ließe auch die exakte Kenntnis von qB zu, im Widerspruch zur Unbestimmtheitsrelation $\Delta p_B \Delta q_B \ge h$. Um die Unschärferelation aufrecht zu erhalten, Sagredo, müßtest Du eine Korrelation der beiden Teilchen nicht nur zum Anfangszeitpunkt t1, sondern auch zu jedem späteren Zeitpunkt annehmen. Sind die Teilchen aber so weit voneinander entfernt, daß sie sich nur noch mit Überlichtgeschwindigkeit beeinflussen können, ergibt sich für EPR ein Widerspruch zur Lokalitätsforderung.``

,,Moment``, wirft Sagredo ein. ,,Ihr setzt offensichtlich unbesehen die Geltung des EPR'schen Realitätskriteriums voraus. Wie aber bereits Bohr 1935 hervorgehoben hatte, weist es eine Zweideutigkeit auf. Denn es besteht ja die Freiheit, pA und qB oder pB und qA zu messen. Die daraus berechneten Werte stehen nicht im Widerspruch zur Kopenhagener Abstraktionsthese, nur beobachtbare Größen in der Theorie zuzulassen.``

,,Ein Paradoxon entsteht also nur unter der Annahme, störungsfreie Messungen an beliebigen Größen vornehmen zu können``, wiederholt Simplicio mit Bedacht und fügt hinzu: ,,Wenn wir eine objektive Realität als an sich gegeben unterstellen, dann ist es in der Tat paradox, wenn zwei nichtkommutierenden Größen nicht auch zugleich Realität zukommen soll. Die Paradoxie entsteht also aus dem Widerstreit zwischen Einsteins Intuition und Bohrs Komplementarität .``

,,Du sagst es``, beginnt Salviati an Sagredo gewandt. ,,Mit Deiner zweideutig-komplementären Abwiegelei kommst Du bei mir nicht weiter. Auch Schrödinger fühlte sich durch EPR's Arbeit herausgefordert. Allerdings nicht zur Verteidigung der Kopenhagener Deutung. Vielmehr formulierte er ebenfalls 1935 in einer Arbeit: Die gegenwärtige Situation der Quantenmechanik eine Paradoxie, die unter dem Titel Schrödingers Katze in die Literatur einging. Ich zitiere: Man kann auch ganz burleske Fälle konstruieren. Eine Katze wird in eine Stahlkammer gesperrt, zusammen mit folgender Höllenmaschine (die man gegen den direkten Zugriff der Katze sichern muß): in einem Geiger'schen Zählrohr befindet sich eine winzige Menge radioaktiver Substanz, so wenig, daß im Laufe einer Stunde vielleicht eines von den Atomen zerfällt, ebenso wahrscheinlich aber auch keines; geschieht es, so spricht das Zählrohr an und betätigt über ein Relais ein Hämmerchen, das ein Kölbchen mit Blausäure zertrümmert. Hat man dieses ganze System eine Stunde lang sich selbst überlassen, so wird man sich sagen, daß die Katze nocht lebt, wenn inzwischen kein Atom zerfallen ist. Der erste Atomzerfall würde sie vergiftet haben. Die $\Psi $-Funktion des ganzen Systems würde das so zum Ausdruck bringen, daß in ihr die lebende und die tote Katze zu gleichen Teilen gemischt oder verschmiert sind.

Das typische an diesen Fällen ist, daß eine ursprünglich auf den Atombereich beschränkte Unbestimmtheit sich in grobsinnliche Unbestimmtheit umsetzt, die sich dann durch direkte Beobachtung entscheiden läßt. Das hindert uns, in so naiver Weise ein ,,verwaschenes Modell`` als Abbild der Wirklichkeit gelten zu lassen. An sich enthielte es nichts Unklares oder Widerspruchsvolles. Es ist ein Unterschied zwischen einer verwackelten oder unscharf eingestellten Photographie und einer Aufnahme von Wolken und Nebelschwaden. ``

,,Eine Superposition der Zustände tot und lebendig wäre nur mit Bezug auf eine unterstellte objektive Realität absurd``, schaltet Sagredo sich ein. ,,Nach Ansicht der Kopenhagener handelt es sich bei der Überlagerung von Zuständen lediglich um eine Wahrscheinlichkeits-Verteilung. In diesem Falle z.B.: $\Psi_k = 0,5 \Psi_t + 0,5 \Psi_l$. D.h. natürlich nicht, daß die Katze zu 50% tot und zu 50% lebendig ist. Vielmehr wird die Wahrscheinlichkeit dafür, die Katze (innerhalb einer Stunde) noch am Leben vorzufinden 50% betragen. Ich wiederhole: Solange ich keine Messung mache, indem ich in die Kammer schaue, kommt den beiden Zuständen überhaupt keine Realität zu.``

,,Mich bringt diese Kuriosität der Schrödinger'schen Katze auf eine andere Idee``, beginnt Simplicio sichtlich erregt. ,,Befinden wir uns nicht genaugenommen auch im Lebensalltag stets in einer ähnlichen Situation? Ich meine, wenn ich z.B. an einen Freund denke; solange ich nichts von ihm höre, kann ich mir doch nicht sicher sein, ob er überhaupt noch lebt. Oder wenn ich an mich denke, so bestehe ich doch auch aus einer Überlagerung von Persöhnlichkeits-Zuständen ... ``

,,Meiner Ahnung nach hängt alles mit allem zusammen, besteht das Universum aus einer Superposition potentiell unendlich vieler Zustände, die stets ein untrennbares Ganzes bilden.``

,,Ja, ja, Salviati``, bemerkt Sagredo ironisch, ,,Ahnungen und Intuitionen sind aber eher der Religion denn der Wissenschaftstheorie zuzuordnen. Schon Bohr mokierte sich über Einsteins kosmische Religiösität. So hatte Einstein einmal gegenüber der statistischen Interpretation der Quantenmechanik geäußert, Gott würfele nicht. Bohr entgegnete darauf belustigt und ganz Sprachphilosoph, daß er nicht wisse, was Einstein mit dem Wort würfeln in Verbindung mit Gott überhaupt meine.``

,,Dir wird Deine Überheblichkeit noch vergehen``, erwidert Salviati. ,,Denn ich greife Bohms Vorschlag einer Deutung der Quantentheorie durch ,,verborgene`` Variable auf. In seiner 1952 veröffentlichten Arbeit hebt er insbesondere den Kollaps der Wellenfunktion hervor und stellt eine exakte, rationale und objektive Beschreibung individueller Systeme auf dem Quantenniveau in Aussicht.

Schon de'Broglie entwickelte aus seiner Wellentheorie der Materie die Vorstellung von der realen Existenz sogenannter Führungswellen. Wenn wir an das mit Wasser-Wellen herangespülte Strandgut denken, lassen sich Teilchen in Analogie zum Strandgut als von einer Materiewelle geführt auffassen. In der Theorie Bohms ist die Wellenfunktion so etwas wie ein Quantenfeld, das auf Teilchen eine Quantenkraft auszuüben vermag. Bohm postulierte in Analogie zu den Gravitations- und elektromagnetischen Kräften Quantenkräfte, die er als Wirkung verborgener Variabler ansah.``

,,Freu Dich nur nicht zu früh``, relativiert Simplicio die Bohm'sche Theorie. ,,Denn erstmals 1964 formulierte Bell eine experimentell prüfbare Ungleichung zwischen den Wahrscheinlichkeiten korrelierter Zwei-Zustands-Systeme, wie EPR sie lediglich als Gedankenexperiment betrachtet hatten. Mit entgegengesetzt polarisierten Teilchen konnte seither vielfach experimentell bestätigt werden, daß es sich bei der Quantenmechanik um eine nichtlokale Theorie handelt. Nichtlokal ist bereits der interpretations-invariante Kern der Theorie. Bei der Messung stellte man die Winkel der Polarisatoren erst ein, nachdem die korrelierten Teilchen bereits in entgegengesetzter Richtung davongeflogen und so weit von einander entfernt waren, daß sie nicht mehr mit Lichtgeschwindigkeit in Kontakt treten konnten. Wie immer man die Polarisatoren ausrichtete, die Messung des einen Teilchens legte stets auch die Polarisation des anderen fest, obwohl sie nicht mehr in Kontakt treten konnten. Im Internet gibt es eine kleine Animation , die sehr schön die Situation veranschaulicht. Nun Salviati``, wie willst Du Deine Objektivitätsthese noch aufrecht erhalten``, geht Simplicio seinen Freund an.

,,Indem ich die Flucht nach vorn antrete und allen Teilzuständen einer Superposition zugleich objektive Realität zuspreche ... ``

,,Also die Mutmaßung der unendlich vielen Welten ``, wirft Sagredo ein.

,,So ist es. Ich nehme eine Wellenfunktion des gesamten Universums an. Und allen ihren potentiell unendlich vielen Zustands-Entwicklungen kommt zugleich Realität zu!``

,,Aber das ich doch absurd``, empört sich Sagredo. ,,Nach Ockham sind wir gehalten, die Zahl der Existenzannahmen in Grenzen zu halten. Deine ontologische These ist zudem hinfällig, weil niemand die zahlreichen Parallelwelten in Erfahrung zu bringen vermag.``

,,Du hast es noch nicht richtig erfaßt, lieber Freund``, entgegnet Salviati ruhig. ,,Es handelt sich nicht um parallele Welten, sondern um verzweigende Welten. Mit jeder Messung oder Entscheidung wird aus der jeweiligen Zustands-Entwicklung ein Zweig beschritten, eine Welt erwählt, die allerdings orthogonal, also bildlich gesprochen senkrecht, zu den anderen Welten steht. Für uns sind es Möglichkeiten``, erläutert Salviati, ,,im ganzen betrachtet, verzweigt sich der Kosmos aus dem Urblitz in eine Vielzahl von Wirklichkeiten!``

,,Dann kollabiert die Wellenfunktion gar nicht? Vielmehr entwickelt sich die Gesamt-Wellenfunktion des Universums streng deterministisch und kausal? Und auch das Meßproblem gibt es nicht, da ja alles Bestandteil des Kosmos ist. Eine Trennung von Subjekt und Objekt entfällt? Ist denn eine solche Supertheorie überhaupt selbstkonsistent formulierbar? Wenn wir an Gödel denken, kann sie jedenfalls nicht vollständig sein, wenn sie widerspruchsfrei sein soll. Und wie wir von Bell wissen, ist sie zudem nichtlokal``, gibt Simplicio zu bedenken.

,,Man kann nicht alles haben. Aber die Viele-Welten-Interpretation löst nicht nur die EPR- und Schrödinger'schen Paradoxa, sondern auch das sogenannte Problem der verzögerten Auswahl. Dieses unter der Bezeichnung Wigners Freund diskutierte Paradoxon besagt folgendes: Angenommen der Physiker Wigner nimmt nicht für sich, sondern für einen anderweitig beschäftigten Freund eine Messung an einem Quantensystem vor. Wie wir von Heisenberg wissen, besteht der Meßvorgang aus zwei Schritten: der Zustandsreduktion und der Auswahl eines Meßwertes. Nehme ich die Messung nun nicht für mich, sondern für einen Freund vor, drängt sich offensichtlich die Frage auf, ob die Reduktion nicht erst dann einträte, wenn ich meine Auswahl dem Freund mitteilte. Wenn wir an den Zustand der Schrödinger'schen Katze denken, müßte sich auch Wigners Freund bis zur Mitteilung des Meßergebnisses in einer Zustandsüberlagerung hinsichtlich seiner Erwartung befinden. Wenn ich den Gedanken weiter führe, heißt das also, daß sich die Zustandsüberlagerung solange aufrecht erhielte, bis endlich allen Beobachtern im Universum das Ergebnis mitgeteilt worden wäre ... ``

,,Sofern die Kenntnisnahme des Meßwertes rückwirkungsfrei sein sollte``, wirft Simplicio ein.

,,Die Materie strukturiert sich. Die Struktur materialisiert sich nicht``, betont Salviati und fährt fort. ,,Kommen wir zur Nichtlokalität der Quantenmechanik. Auch sie verliert ihre Magie unter der Annahme, daß der Kosmos insgesamt in allen seinen Zuständen korreliert bzw. verschränkt ist, wie Schrödinger es nannte. Dabei widerspricht die Nichtlokalität keinesfalls der Lokalitätsforderung im Rahmen der Relativitätstheorie. Denn mit Lokalität ist in der Quantenmechanik lediglich eine Trennbarkeit oder Separabilität zur isolierten Betrachtung von System-Zuständen gemeint.

Anders als mit Bezug zum Universum war auch die Trägheit nicht verständlich. Quantenmechanisch erscheint sie nunmehr in neuem Licht. Könnte es sich doch um eine Verschränkung aller Massen handeln. Die Annahme der simultanen Existenz verzweigter Welten beinhaltet zumindest physikalische Vollständigkeit und Realität im Sinne EPR's. Zudem vollzieht sich die Selbstentwicklung des Kosmos an sich streng deterministisch und kausal. Mit der Präparation der Schrödinger'schen Katze z.B. verzweigt sich ihr Zustand in zwei weitere Unterzustände. Ihrem Leben in der Gefahr einerseits und ihrem Tod durch Vergiftung andererseits.

Du wirst es nicht glauben, aber es ist sogar eine experimentelle Prüfung der Viele-Welten-Interpretion vorgeschlagen worden: Ein einzelnes Ion wird von seiner Umgebung isoliert und in einer Ionenfalle gefangen. An einem anderen System wird eine Messung mit zwei möglichen Ereignissen ausgeführt. Daraus ergeben sich zwei parallele Welten. In Abhängigkeit des Ergebnisses wird das Ion angeregt, und zwar nur aufgrund des Einflusses aus einer Welt. Die Anregung des Ions erfolgt, bevor es mit seiner Umgebung wechselwirkt! Eine Registrierung dieser Anregung in der anderen Welt wäre ein Indiz zur Bestätigung der Viele-Welten-Annahme. ``

Sagredo bleibt skeptisch. ,,Warten wir es ab! Deine materialistische Interpretation durch die Annahme einer objektiven Existenz potentiell unendlich vieler Welten, Salviati, steht der idealistischen Subjektivitätsthese in ihrer Vagheit und metaphysischen Last kaum nach.``

,,Dem Vorwurf der Vagheit, Sagredo, setze ich mich gerade nicht aus``, läßt Simplicio sich provozieren. ,,Auch mir erscheint die Annahme der realen Existenz aller Teilzustände der sich endlos verzweigenden kosmischen Wellenfunktion gelinde gesagt bizarr. Viel besser verhält es sich allerdings auch nicht mit dem magischen Kollaps der Wellenfunktion.`` Simplicio macht eine bedeutungsschwere Pause. Seine Freunde blicken ihn erwartungsvoll an. ,,Betrachten wir doch einfach die Einstein'sche These, nach der die Theorie entscheide, was beobachtbar sei, in einem anderen Kontext. Bereits mit dem theoriegeleiteten Bau des Meßgerätes werden die Bedingungen gesetzt, unter denen die Wellenfunktion des System-Zustandes in ein Gemenge zerfällt, wenn Quantensystem und Meßgerät in Wechselwirkung treten. Das Meßgerät zwingt dem System sozusagen seine Struktur, seinen Bauplan auf, ganz so wie es die Theorie vorschreibt. Umgekehrt versetzt das System das Meßgerät in einen Zustand, dem genau ein Wert des Gemenges entspricht.``

,,Die Störung des Systems durch das Meßgerät führt zum Kollaps der Wellenfunktion``, ergänzt Sagredo und wundert sich. ,,So sehen das auch die Kopenhagener.``

,,Aber was sagen die Kopenhagener zu Wigners Freund?`` fragt Simplicio überlegen. ,,Mit der verzögerten Auswahl bleibt auch die ursprüngliche Zustands-Überlagerung weiter bestehen. Aber nicht real, Salviati, sondern bloß in Gedanken. Die Wellenfunktion kollabiert für Wigners Freund erst dann, wenn ihm das Ergebnis mitgeteilt wird. Denn aufgrund seiner Kenntnis der Theorie befindet er sich in einer Zustands-Überlagerung der Erwartung; ganz so wie durch den quantenmechanischen Erwartungswert beschrieben.``

,,Damit ersetzt Du den magischen Kollaps der Wellenfunktion lediglich durch einen subjektiven Bewußtseinsakt``, zweifelt Salviati.

,,Ganz recht``, bestätigt Simplicio. ,,Subjekt und Objekt sind halt wechselseitig aufeinander bezogen. Ich komme zur Formulierung der Subjektivitätsthese: Die Quantentheorie bezieht sich auf das atomare Naturgeschehen, wie es sich in der Wahrnehmung bewußter Subjekte zeigt.``

,,Esse est percipi``, murmelt Sagredeo.

,,Ja, Sein heißt wahrgenommen sein``, stimmt Simplicio zu und ergänzt: ,,Unterhalb des Wirkungsquantums verschwimmen die Konturen. Hier wäre eine Rückwirkung der Denkvorgänge auf den Verlauf der Wellenfunktion möglich. Handelt es sich doch bei der Wellenfunktion nach Ansicht der Kopenhagener lediglich um eine Wahrscheinlichkeitsverteilung, um unsere Kenntnismöglichkeiten des Systems ... Ja, warum sollte die Führungswelle Bohms nicht unserem Hirn entspringen können ... ``


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Ingo Tessmann
7/29/1998