Im folgenden werden die drei Akademiker Galileis drei Thesen zur
Interpretation der Quantenmechanik diskutieren. Sagredo wird mit der
Abstraktionsthese beginnen, Salviati für die Objektivitätsthese
eintreten und Simplicio die Subjektivitätsthese verteidigen. Die Diskussion
wird sich an folgende Grundbegriffe orientieren: Objektivität und Realität,
Lokalität und Vollständigkeit, Gesetzlichkeit und Kausalität sowie Korrespondenz
und Komplementarität.
Sagredo nimmt ein Buch von Peter Mittelsteadt zur Hand und liest
die Kernthese der Kopenhagener Deutung vor: ,,Die Quantentheorie
bezieht sich auf das atomare Naturgeschehen, wie es sich zeigt, wenn es
mit realisierbaren Meßgeräten untersucht wird. Diese auf Bohr
und Heisenberg
zurückgehende Abstraktionsthese räumt dem Meßvorgang eine zentrale
Rolle ein und sieht in der Quantenmechanik eine Theorie, die sich nur auf
beobachtbare Größen bezieht.``
Sagredo greift sich ein Blatt Papier und erläutert die Schrödinger Gleichung :
,,H ist der nach Hamilton benannte Energieoperator und bezeichnet die Zustandsfunktion. Denkt man an die Materiewellen, wird sie auch Wellenfunktion genannt. In der Algebra der Atome wird als Bestandteil eines linearen Funktionenraumes behandelt und Zustandsvektor genannt. Die Struktur linearer Funktionenräume wurde zuerst von Hilbert untersucht. Deshalb wird der Zustands-Raum der Quantenmechanik Hilbert-Raum genannt. Kennzeichen eines linearen Raumes ist das Superpositionsprinzip. D.h. jede Überlagerung von Zuständen bildet wieder einen Zustand :
Die a's werden auch Entwicklungskoeffizienten genannt und sind komplex, d.h. als Summe einer reellen und einer imaginären Zahl darstellbar. Die Erwartungswerte der Energieniveaus lassen sich aus den Matrixelementen berechnen:
wenn es sich bei A um den Energieoperator H handelt ... ``
,,Die Formalisierung der Heisenberg'schen Algebra im Hilbert-Raum
ist noch interpretations-invariant``, wirft Simplicio ein.
,,Aber fahre fort, oh Freund, Dir wird sicher schon ein Beispiel
auf der Zunge liegen.``
,,Du sagst es``, beginnt Sagredo. ,,Denken wir uns ein Photon oder Elektron, das in zwei möglichen Zuständen vorkommen kann. Z.B. die Richtungen auf und ab des Drehimpulses, oder zwei Energieniveaus des Elektrons. Ein Photon könnte z.B. in zwei entgegengesetzten Richtungen polarisiert sein. Der Zustandsvektor hat dann die Form:
Psi = a_1 x Psi_1 + a_2 x Psi_2 = (a_1 a_2)(Psi_1) (Psi_2)
Nehmen wir das Beispiel des in zwei Energieniveaus vorkommenden Elektrons. In linearen Räumen können die Operatoren durch quadratische Rechenschemata dargestellt werden, die Matrizen heißen. Der Zustandsvektor wird durch seine Entwicklungskoeffizienten bestimmt, und zwar als Zeilen- oder Spaltenvektor. Für den Erwartungswert folgt damit explizit:
(a_1* a_2*)(E_11 E_12)(a_1) (E_21 E_22)(a_2)
Komponentenweises Ausmultiplizieren liefert:
Matrix mal Spaltenvektor ergibt einen Spaltenvektor. Zeilenvektor mal Spaltenvektor liefert eine reelle Zahl, das Skalarprodukt. Die Terme mit unterschiedlichen Indizes 12 bzw. 21 heißen Mischterme. Im Wellenbild entsprechen ihnen Interferenzen. Derartige Überlagerungen zweier Zustände in einem machen die Quantenmechanik zu einem Rätsel. Wir werden darauf zurück kommen. Handelt es sich nun bei den Zuständen um sogenannte Eigenzustände des Operators, verbleiben in der Matrix lediglich zwei Diagonalelemente und werden Eigenwerte genannt:
(a_1* a_2*)(E_11 )(a_1) ( E_22)(a_2)
Wir multiplizieren komponentenweise aus:
wobei |a1|2 das reelle Betragsquadrat des komplexen Entwicklungskoeffizienten bezeichnet. Mit einem Verhältnis der relativen Wahrscheinlichkeiten und von z.B. folgt, daß der Energieeigenwert E1 10 mal häufiger gemessen würde als der Energieeigenwert E2.
Damit sind wir aber unversehens
in die Interpretationsproblematik gelangt! Die statistische Interpretation
der Quantenmechanik liegt nämlich in der Annahme,
im Zustand mit der Wahrscheinlichkeit wn den Eigenwert En
zu messen. Durch den Vorgang der Messung wird aus den Meßwerten Ek des
Operators H genau ein Wert ausgewählt. Z.B. befinden sich die Elektronen
des Wasserstoffs in der Flamme des Bunsenbrenners auf dem Energieniveau
E2.``
Sagredo greift zu Heisenbergs Physikalischen Prinzipien der Quantentheorie. ,,Der Meßprozeß muß in zwei scharf unterschiedene Akte zerlegt werden. Der erste Schritt der Messung besteht darin, daß das System einem äußeren physikalisch realen, den Ablauf der Ereignisse ändernden Eingriff - z.B. Bestrahlung mit Licht oder Einschalten eines Feldes - unterzogen wird. Dieser Eingriff hat zur Folge, daß das zu beobachtende System in ein Gemenge von - im allgemeinen unendlich vielen - Zuständen übergeht. ... Der zweite Akt der Messung greift dann unter den unendlich vielen Zuständen des Gemenges einen ganz bestimmten heraus. Dieser zweite Schritt stellt keinen Prozeß dar, der selbst den Verlauf des Geschehens beeinflußt, sondern verändert lediglich unsere Kenntnis der realen Verhältnisse.
Wenn wir an die Zerlegung des Meßoperators H durch die Matrixelemente denken, dann wird H durch die Messung zu einem Operator H = Ho + Hw erweitert. Ho bezieht sich auf das eigentlich zu messende System und Hw auf die Wechselwirkung zwischen System und Meßgerät während der Messung. Die Meß-Wechselwirkung überführt die Superposition aller Zustände von System und Meßgerät in ein Gemenge. Das ist eine Zustands-Überlagerung ohne Mischterme. Erst mit der Trennung von Meßgerät und System wird vom Meßgerät abstrahiert und E2 zu einer objektiven Eigenschaft des Systems. Diese erkenntnistheoretische Forderung, Objekte zu beschreiben, hat also die statistische Unbestimmtheit in der Voraussage der Eigenschaften der Objekte zur Folge!
Das Rätsel der Quantenmechanik besteht nun darin, daß sich der
Erwartungswert auch auf den
Zustand eines einzelnen
Elektrons bezieht! Diese von Bohr sogenannte Individualität
atomarer Zustände bereitet den Naturphilosophen bis heute Kopfzerbrechen.
Für die Kopenhagener kommt den Zuständen bzw. den Wellenfunktionen
deshalb überhaupt keine Realität zu.
bzw. legt für sie lediglich die Wahrscheinlichkeit
fest, im Zeitintervall einen der beiden Energiewerte E1
oder E2 zu messen. D.h. vor der Messung befindet sich das Elektron
in einer quantenmechanischen Zustands-Überlagerung. Nach der
Messung liegt demgegenüber ein klassisch eindeutiger Meßwert,
z.B. E2, vor.
Die Natur bzw. das physikalische System wird
genötigt, Farbe zu bekennen. Zunächst werden ja durch den Meßeingriff
aus der quantenmechanischen Zustandsentwicklung alle Mischterme getilgt.
Aus dem so entstandenen Gemenge wird dann genau ein Wert als
Meßwert ausgewählt. Um der Objektivität willen, wird also
die Eindeutigkeit und Reproduzierbarkeit der Messung mit dem Preis
der statistischen Unschärfe erkauft. Denn aufgrund der Heisenberg'schen
Unschärferelation können Zeitpunkt und
Energiewert des Elektrons nicht zugleich exakt bestimmt
werden. Weil die Frequenzmessung einer Spektrallinie ein minimales
Zeitmaß erfordert. Die Nichtkommutativität der Quantenmechanik widerspricht
zudem der klassischen Logik und Wahrscheinlichkeitstheorie. Es gilt
z.B. nicht die klassische Tautologie !
Denn die Messung sogenannter inkommensurabler Eigenschaften mit
nichtverschwindendem Kommutator hängt von der Reihenfolge der
Messung ab. Weil jede Messung den Systemzustand stört. Dieses
Problem der Objektivierung nichtkommensurabler
Eigenschaften ist für die Kopenhagener der Grund dafür, der Natur und
dem physikalischen System zwar grundsätzlich Realität zuzusprechen.
Zugleich aber den subjektiven Eingriff der Messung anzuerkennen und die
Theorie auf die Behandlung beobachtbarer Größen zu
beschränken ... ``
,,Um den Preis der Vollständigkeit``, meldet Salviati sich zu
Wort.
,,Du wirst noch Gelegenheit haben, uns Deine Objektivitätsthese
vorzutragen``, fährt Sagredo fort. ,,Unterstellen wir eine endlich
schnelle () und endlich große () Wirkungsausbreitung, dann
ist die Quantenmechanik eine lokale und vollständige Theorie. Sie
ist allerdings unvereinbar mit der Annahme einer objektiven
Realität. Aussagen über das Wie des Seins sind immer auch
subjektiv ... ``
,,Womit wir bei der Subjektivitätsthese wären ... ``
,,Später, Simplicio, später. Kommen wir zur Gesetzlichkeit und Kausalität des Naturgeschehens. Die Schrödinger Gleichung legt in streng deterministischer Weise den raum-zeitlichen Wirkungsverlauf fest; allerdings nur für die Wahrscheinlichkeitsverteilung atomarer Zustände. Für Wirkungen oberhalb der Planck'schen Konstanten geht die Ursache der Wirkung stets voran. Lediglich Erwartungswerte ändern sich also gesetzmäßig und kausal. Raum-Zeit-Beschreibung und Kausalität atomarer Vorgänge sind nur um den Preis einer prinzipiellen Unschärfe vereinbar. Eine eindeutig-exakte Zuordnung von Ursache und Wirkung wäre nur ohne störende Messung möglich.
Das atomare Naturgeschehen erfolgt entweder
im Raum-Zeit-Kontinuum der Schrödinger Gleichung, die den gesetzmäßigen
Verlauf ungestörter Zustands-Entwicklungen
bzw. Wahrscheinlichkeits-Verteilungen beschreibt. Oder aber
wir führen eine Messung aus. Der Gesamtzustand zerfällt dann
diskontinuierlich und willkürlich in ein Gemenge.
Ein Eingriff, der auch Kollaps der Wellenfunktion genannt
wird``, betont Sagredo und hebt nochmals hervor: ,,Die
Heisenberg'sche Algebra ist exakt und kausal, abstrahiert aber von
den Besonderheiten konkreter Zustands-Beschreibungen in Raum und Zeit.
Die Schrödinger'schen Wellenfunktionen sind raumzeitlich exakt, kausal aber
unscharf. Bohr hat deshalb das Naturgeschehen im Raum-Zeit-Kontinuum einerseits
und die Kausalität atomarer Vorgänge andererseits als komplementär
betrachtet.``
,,Das muß ich mir noch `mal vergegenwärtigen``, unterbricht Simplicio. ,,Die Zeitentwicklung für den Meßoperator in der Heisenberg Gleichung
ist exakt und kausal, weil auf keinen speziellen Zustand Bezug genommen wird. Die Algebra der Atome ist damit Zustands-invariant. Eine konkrete Messung zu bestimmter Zeit am gewählten Ort setzt aber immer eine spezielle Zustandsentwicklung voraus, die bis zum Meßeingriff streng kausal verläuft; dann aber kollabiert und nur unscharfe Resultate liefert.``
,,Also``, beginnt Salviati mit Bedacht, ,,gerade indem wir
möglichst genau den Ursache-Wirkungs-Zusammenhang, die Kausalität des
Naturgeschehens, in Erfahrung bringen wollen, zerstören wir das
Raum-Zeit-Kontinuum und damit die Kausalität! Sägen quasi den Ast ab, auf
dem wir sitzen.`` Nach einem Moment der
Stille fährt er fort: ,,Dann ist das Wirkungsquantum der
Dreh- und Angelpunkt dafür, Welle- und Teilchen-Vorstellung sowie
Raum-Zeit-Kontinuum und Kausalität selbstkonsistent in Einklang
zu bringen.``
,,Nach Gödel schließen sich Konsistenz und Vollständigkeit aus``,
erinnert Simplicio und fügt hinzu. ,,Eine ganzheitliche Theorie, die
Subjekt und Objekt vereint, kann nur bis auf eine endliche
Unbestimmtheit konsistent sein.``
,,Nun ist es aber an der Zeit, der Objektivitätsthese das
Wort zu geben``, hebt Salviati ungeduldig zu reden an. ,,Du
hast mich nicht minder verwirrt mit Deinem sowohl-als-auch der
Kopenhagener, Sagredo. Mir scheint, Du scheust ein klares Urteil.``
Nur die Fülle führt zur Klarheit. Und im Abgrund wohnt die Wahrheit
zitiert Sagredo: ,,Auf daß Du mich überzeugen
mögest, lieber Freund.``
,,Nun denn``, beginnt Salviati. ,,Die Quantentheorie zeigt
das atomare Naturgeschehen, wie es an sich ist.``
,,Eine kühne These``, läßt Simplicio sich ironisch
vernehmen.
,,Ich beginne mit einer Arbeit
, die Einstein, Podolsky und
Rosen (EPR) 1935 veröffentlichten. Sie fragten
sich: Kann man die quantenmechanische Beschreibung der physikalischen
Wirklichkeit als vollständig betrachten? Folgende Kurzfassung stellten
sie ihrer Arbeit voran: In einer vollständigen Theorie gibt es
zu jedem Element der Realität stets ein entsprechendes Element. Eine
hinreichende Bedingung für die Realität einer physikalischen
Größe ist die Möglichkeit sie vorherzusagen, ohne das System zu stören.
In der Quantenmechanik schließt im Falle von zwei physikalischen Größen,
die durch nicht-kommutierende Operatoren beschrieben werden, das
Wissen von der einen das Wissen von der anderen aus. Damit ist entweder
(1) die Beschreibung der Realität, die durch die Wellenfunktion in der
Quantenmechanik gegeben wird, nicht vollständig oder (2) diesen beiden
Größen kann nicht gleichzeitig Realität zukommen. Die Betrachtung des
Problems, Vorhersagen bezüglich eines Systems auf der Grundlage von
Messungen zu machen, die an einem anderen System, das zuvor mit dem
ersteren in Wechselwirkung stand, ausgeführt wurden, führen zu dem
Ergebnis, daß wenn (1) falsch ist, dann auch (2) falsch ist. Man wird
so zu dem Schluß geführt, daß die Beschreibung der Realität, wie sie
von der Wellenfunktion geleistet wird, nicht vollständig ist.``
Für einen Moment tritt Ruhe ein. Sagredo blickt in die Runde. ,,Zum besseren Verständnis will ich die Logik des Gedankens noch einmal wiederholen. EPR beginnen mit drei Prämissen: Ihren Kriterien der Vollständigkeit und Realität sowie der Nichtkommutativität der Quantenmechanik. Aus diesen drei Voraussetzungen folgern sie die Alternative: Entweder ist die Quantenmechanik unvollständig oder zwei nichtkommutativen Größen kann nicht zugleich Realität zukommen.
Die Betrachtung eines Gedankenexperiments mit zwei korrelierten Teilchen,
das der Lokalitätsbedingung der Relativitätstheorie zu genügen hat,
führt EPR zur Hauptthese ihrer Arbeit: D.h. wenn die
Quantenmechanik vollständig ist, dann kommt nichtkommutativen
Größen Realität zu. Also ist die Quantenmechanik
unvollständig.
Stellen wir uns als Beispiel ein System vor, das zum Zeitpunkt
t1 am Ort q in zwei Teilchen zerfällt. D.h. .Weil der Gesamtimpuls des Systems p = pA + pB bekannt ist und über
die Zeit erhalten bleibt, kann durch exakte Messung des Impulses pA
zum Zeitpunkt t2 auch der Impuls pB exakt bestimmt werden, obwohl er
nicht gemessen wurde ... ``
,,Und nicht nur das``, meldet Simplicio sich zu Wort. ,,Durch
Messung von pA werde zwar im Einklang mit der Unschärferelation qA,
aber nicht qB unscharf. D.h. eine weitere Messung ließe auch die
exakte Kenntnis von qB zu, im Widerspruch zur
Unbestimmtheitsrelation .
Um die Unschärferelation aufrecht zu erhalten, Sagredo, müßtest Du
eine Korrelation der beiden Teilchen nicht nur zum Anfangszeitpunkt t1,
sondern auch zu jedem späteren Zeitpunkt annehmen. Sind die Teilchen aber
so weit voneinander entfernt, daß sie sich nur noch mit
Überlichtgeschwindigkeit beeinflussen können, ergibt sich für
EPR ein Widerspruch zur Lokalitätsforderung.``
,,Moment``, wirft Sagredo ein. ,,Ihr setzt offensichtlich
unbesehen die Geltung des EPR'schen Realitätskriteriums voraus. Wie aber
bereits Bohr 1935 hervorgehoben hatte, weist es eine Zweideutigkeit auf.
Denn es besteht ja die Freiheit, pA und qB oder pB und qA
zu messen. Die daraus berechneten Werte stehen nicht im Widerspruch
zur Kopenhagener Abstraktionsthese, nur beobachtbare Größen in der
Theorie zuzulassen.``
,,Ein Paradoxon entsteht also nur unter der Annahme, störungsfreie
Messungen an beliebigen Größen vornehmen zu können``, wiederholt
Simplicio mit Bedacht und fügt hinzu: ,,Wenn wir
eine objektive Realität als an sich gegeben unterstellen,
dann ist es in der Tat paradox, wenn zwei nichtkommutierenden Größen
nicht auch zugleich Realität zukommen soll. Die Paradoxie entsteht also
aus dem Widerstreit zwischen Einsteins Intuition und Bohrs
Komplementarität
.``
,,Du sagst es``, beginnt Salviati an Sagredo gewandt. ,,Mit Deiner zweideutig-komplementären Abwiegelei kommst Du bei mir nicht weiter. Auch Schrödinger fühlte sich durch EPR's Arbeit herausgefordert. Allerdings nicht zur Verteidigung der Kopenhagener Deutung. Vielmehr formulierte er ebenfalls 1935 in einer Arbeit: Die gegenwärtige Situation der Quantenmechanik eine Paradoxie, die unter dem Titel Schrödingers Katze in die Literatur einging. Ich zitiere: Man kann auch ganz burleske Fälle konstruieren. Eine Katze wird in eine Stahlkammer gesperrt, zusammen mit folgender Höllenmaschine (die man gegen den direkten Zugriff der Katze sichern muß): in einem Geiger'schen Zählrohr befindet sich eine winzige Menge radioaktiver Substanz, so wenig, daß im Laufe einer Stunde vielleicht eines von den Atomen zerfällt, ebenso wahrscheinlich aber auch keines; geschieht es, so spricht das Zählrohr an und betätigt über ein Relais ein Hämmerchen, das ein Kölbchen mit Blausäure zertrümmert. Hat man dieses ganze System eine Stunde lang sich selbst überlassen, so wird man sich sagen, daß die Katze nocht lebt, wenn inzwischen kein Atom zerfallen ist. Der erste Atomzerfall würde sie vergiftet haben. Die -Funktion des ganzen Systems würde das so zum Ausdruck bringen, daß in ihr die lebende und die tote Katze zu gleichen Teilen gemischt oder verschmiert sind.
Das typische an diesen Fällen ist, daß eine ursprünglich auf den Atombereich beschränkte Unbestimmtheit sich in grobsinnliche Unbestimmtheit umsetzt, die sich dann durch direkte Beobachtung entscheiden läßt. Das hindert uns, in so naiver Weise ein ,,verwaschenes Modell`` als Abbild der Wirklichkeit gelten zu lassen. An sich enthielte es nichts Unklares oder Widerspruchsvolles. Es ist ein Unterschied zwischen einer verwackelten oder unscharf eingestellten Photographie und einer Aufnahme von Wolken und Nebelschwaden. ``
,,Eine Superposition der Zustände tot und lebendig wäre
nur mit Bezug auf eine unterstellte objektive
Realität absurd``, schaltet Sagredo sich ein. ,,Nach Ansicht der
Kopenhagener handelt es sich bei der Überlagerung von Zuständen
lediglich um eine Wahrscheinlichkeits-Verteilung. In diesem Falle
z.B.: . D.h. natürlich nicht, daß die
Katze zu 50% tot und zu 50% lebendig ist. Vielmehr wird die
Wahrscheinlichkeit dafür, die Katze (innerhalb einer Stunde) noch
am Leben vorzufinden 50% betragen. Ich wiederhole: Solange ich keine
Messung mache, indem ich in die Kammer schaue, kommt den beiden
Zuständen überhaupt keine Realität zu.``
,,Mich bringt diese Kuriosität der Schrödinger'schen Katze auf eine
andere Idee``, beginnt Simplicio sichtlich erregt. ,,Befinden wir uns
nicht genaugenommen auch im Lebensalltag stets in einer ähnlichen
Situation? Ich meine, wenn ich z.B. an einen Freund denke; solange ich nichts
von ihm höre, kann ich mir doch nicht sicher sein, ob er überhaupt noch
lebt. Oder wenn ich an mich denke, so bestehe ich doch auch aus einer
Überlagerung von Persöhnlichkeits-Zuständen ...
``
,,Meiner Ahnung nach hängt alles
mit allem zusammen, besteht das Universum aus einer Superposition
potentiell unendlich vieler Zustände, die stets ein untrennbares
Ganzes bilden.``
,,Ja, ja, Salviati``, bemerkt Sagredo ironisch, ,,Ahnungen
und Intuitionen sind aber eher der Religion denn der Wissenschaftstheorie
zuzuordnen. Schon Bohr mokierte sich über Einsteins kosmische
Religiösität. So hatte Einstein einmal gegenüber der statistischen
Interpretation der Quantenmechanik geäußert, Gott würfele nicht.
Bohr entgegnete darauf belustigt und ganz Sprachphilosoph, daß er
nicht wisse, was Einstein mit dem Wort würfeln in Verbindung
mit Gott überhaupt meine.``
,,Dir wird Deine Überheblichkeit noch vergehen``, erwidert Salviati. ,,Denn ich greife Bohms Vorschlag einer Deutung der Quantentheorie durch ,,verborgene`` Variable auf. In seiner 1952 veröffentlichten Arbeit hebt er insbesondere den Kollaps der Wellenfunktion hervor und stellt eine exakte, rationale und objektive Beschreibung individueller Systeme auf dem Quantenniveau in Aussicht.
Schon de'Broglie entwickelte aus seiner Wellentheorie der Materie die
Vorstellung von der realen Existenz sogenannter Führungswellen.
Wenn wir an das mit Wasser-Wellen herangespülte Strandgut denken, lassen
sich Teilchen in Analogie zum Strandgut als von einer Materiewelle
geführt auffassen. In der Theorie Bohms ist die Wellenfunktion
so etwas wie ein Quantenfeld, das auf Teilchen eine Quantenkraft
auszuüben vermag. Bohm postulierte in
Analogie zu den Gravitations- und elektromagnetischen Kräften
Quantenkräfte, die er als Wirkung verborgener Variabler
ansah.``
,,Freu Dich nur nicht zu früh``, relativiert Simplicio die
Bohm'sche Theorie. ,,Denn erstmals 1964 formulierte
Bell
eine experimentell prüfbare Ungleichung zwischen den Wahrscheinlichkeiten
korrelierter Zwei-Zustands-Systeme, wie EPR sie lediglich als
Gedankenexperiment betrachtet hatten. Mit entgegengesetzt polarisierten Teilchen
konnte seither vielfach experimentell bestätigt werden, daß es
sich bei der Quantenmechanik um eine nichtlokale Theorie handelt.
Nichtlokal ist bereits der interpretations-invariante Kern der
Theorie. Bei der Messung stellte man die Winkel der Polarisatoren erst ein,
nachdem die korrelierten Teilchen bereits in entgegengesetzter Richtung
davongeflogen und so weit von einander entfernt waren, daß sie nicht
mehr mit Lichtgeschwindigkeit in Kontakt treten konnten. Wie immer man
die Polarisatoren ausrichtete, die Messung des einen Teilchens legte stets
auch die Polarisation des anderen fest, obwohl sie nicht mehr in Kontakt
treten konnten. Im Internet gibt es eine kleine
Animation
, die sehr schön die
Situation veranschaulicht. Nun Salviati``, wie willst Du Deine Objektivitätsthese noch
aufrecht erhalten``, geht Simplicio seinen Freund an.
,,Indem ich die Flucht nach vorn antrete und allen Teilzuständen
einer Superposition zugleich objektive Realität zuspreche ... ``
,,Also die
Mutmaßung der unendlich vielen Welten
``,
wirft Sagredo ein.
,,So ist es. Ich nehme eine Wellenfunktion des gesamten Universums
an. Und allen ihren potentiell unendlich vielen Zustands-Entwicklungen
kommt zugleich Realität zu!``
,,Aber das ich doch absurd``, empört sich Sagredo. ,,Nach Ockham
sind wir gehalten, die Zahl der Existenzannahmen in Grenzen zu halten.
Deine ontologische These ist zudem hinfällig, weil niemand die
zahlreichen Parallelwelten in Erfahrung zu bringen vermag.``
,,Du hast es noch nicht richtig erfaßt, lieber Freund``, entgegnet
Salviati ruhig. ,,Es handelt sich nicht um parallele Welten,
sondern um verzweigende Welten. Mit jeder Messung oder Entscheidung
wird aus der jeweiligen Zustands-Entwicklung ein Zweig
beschritten, eine Welt erwählt, die allerdings orthogonal, also
bildlich gesprochen senkrecht, zu den anderen Welten steht.
Für uns sind es Möglichkeiten``, erläutert Salviati,
,,im ganzen betrachtet, verzweigt sich der Kosmos aus dem
Urblitz in eine Vielzahl von Wirklichkeiten!``
,,Dann kollabiert die Wellenfunktion gar nicht? Vielmehr entwickelt sich
die Gesamt-Wellenfunktion des Universums streng deterministisch und kausal?
Und auch das Meßproblem gibt es nicht, da ja alles Bestandteil des
Kosmos ist. Eine Trennung von Subjekt und Objekt entfällt?
Ist denn eine solche Supertheorie überhaupt
selbstkonsistent formulierbar? Wenn wir an Gödel denken, kann sie jedenfalls
nicht vollständig sein, wenn sie widerspruchsfrei sein soll. Und wie wir
von Bell wissen, ist sie zudem nichtlokal``, gibt Simplicio zu bedenken.
,,Man kann nicht alles haben. Aber die
Viele-Welten-Interpretation löst nicht nur die EPR- und
Schrödinger'schen Paradoxa, sondern auch das sogenannte Problem der
verzögerten Auswahl. Dieses unter der Bezeichnung Wigners Freund
diskutierte Paradoxon besagt folgendes: Angenommen der Physiker Wigner
nimmt nicht für sich, sondern für einen anderweitig beschäftigten
Freund eine Messung an einem Quantensystem vor. Wie wir von Heisenberg
wissen, besteht der Meßvorgang aus zwei Schritten: der Zustandsreduktion
und der Auswahl eines Meßwertes. Nehme ich die Messung nun nicht für
mich, sondern für einen Freund vor, drängt sich offensichtlich die
Frage auf, ob die Reduktion nicht erst dann einträte, wenn ich meine
Auswahl dem Freund mitteilte. Wenn wir an den Zustand der Schrödinger'schen
Katze denken, müßte sich auch Wigners Freund bis zur Mitteilung des
Meßergebnisses in einer Zustandsüberlagerung hinsichtlich seiner
Erwartung befinden.
Wenn ich den Gedanken weiter führe, heißt das also, daß sich die
Zustandsüberlagerung solange aufrecht erhielte, bis endlich allen
Beobachtern im Universum das Ergebnis mitgeteilt worden wäre ... ``
,,Sofern die Kenntnisnahme des Meßwertes rückwirkungsfrei sein
sollte``, wirft Simplicio ein.
,,Die Materie strukturiert sich. Die Struktur materialisiert sich nicht``, betont Salviati und fährt fort. ,,Kommen wir zur Nichtlokalität der Quantenmechanik. Auch sie verliert ihre Magie unter der Annahme, daß der Kosmos insgesamt in allen seinen Zuständen korreliert bzw. verschränkt ist, wie Schrödinger es nannte. Dabei widerspricht die Nichtlokalität keinesfalls der Lokalitätsforderung im Rahmen der Relativitätstheorie. Denn mit Lokalität ist in der Quantenmechanik lediglich eine Trennbarkeit oder Separabilität zur isolierten Betrachtung von System-Zuständen gemeint.
Anders als mit Bezug zum Universum war auch die Trägheit nicht verständlich. Quantenmechanisch erscheint sie nunmehr in neuem Licht. Könnte es sich doch um eine Verschränkung aller Massen handeln. Die Annahme der simultanen Existenz verzweigter Welten beinhaltet zumindest physikalische Vollständigkeit und Realität im Sinne EPR's. Zudem vollzieht sich die Selbstentwicklung des Kosmos an sich streng deterministisch und kausal. Mit der Präparation der Schrödinger'schen Katze z.B. verzweigt sich ihr Zustand in zwei weitere Unterzustände. Ihrem Leben in der Gefahr einerseits und ihrem Tod durch Vergiftung andererseits.
Du wirst es nicht glauben, aber es ist sogar eine experimentelle
Prüfung der Viele-Welten-Interpretion vorgeschlagen worden:
Ein einzelnes Ion wird
von seiner Umgebung isoliert und in einer Ionenfalle gefangen.
An einem anderen System wird eine Messung mit zwei möglichen Ereignissen
ausgeführt. Daraus ergeben sich zwei parallele Welten. In Abhängigkeit
des Ergebnisses wird das Ion angeregt, und zwar nur aufgrund des Einflusses
aus einer Welt. Die Anregung des Ions erfolgt, bevor es mit seiner Umgebung
wechselwirkt! Eine Registrierung dieser Anregung in der anderen Welt wäre
ein Indiz zur Bestätigung der Viele-Welten-Annahme. ``
Sagredo bleibt skeptisch. ,,Warten wir es ab! Deine
materialistische Interpretation durch die Annahme einer objektiven
Existenz potentiell unendlich vieler Welten, Salviati, steht der
idealistischen Subjektivitätsthese in ihrer Vagheit und
metaphysischen Last kaum nach.``
,,Dem Vorwurf der Vagheit, Sagredo, setze ich mich gerade nicht aus``,
läßt Simplicio sich provozieren. ,,Auch mir erscheint die Annahme der realen
Existenz aller Teilzustände der sich endlos verzweigenden kosmischen
Wellenfunktion gelinde gesagt bizarr. Viel besser verhält es sich allerdings
auch nicht mit dem magischen Kollaps der Wellenfunktion.`` Simplicio
macht eine bedeutungsschwere Pause. Seine Freunde blicken ihn erwartungsvoll an.
,,Betrachten wir doch einfach die Einstein'sche These, nach der die Theorie
entscheide, was beobachtbar sei, in einem anderen Kontext. Bereits mit dem
theoriegeleiteten Bau des Meßgerätes werden die Bedingungen gesetzt,
unter denen die Wellenfunktion des System-Zustandes in ein Gemenge zerfällt,
wenn Quantensystem und Meßgerät in Wechselwirkung treten. Das Meßgerät
zwingt dem System sozusagen seine Struktur, seinen Bauplan auf, ganz so wie
es die Theorie vorschreibt. Umgekehrt versetzt das System das Meßgerät in
einen Zustand, dem genau ein Wert des Gemenges entspricht.``
,,Die Störung des Systems durch das Meßgerät führt zum Kollaps
der Wellenfunktion``, ergänzt Sagredo und wundert sich. ,,So
sehen das auch die Kopenhagener.``
,,Aber was sagen die Kopenhagener zu Wigners Freund?`` fragt
Simplicio überlegen. ,,Mit der verzögerten Auswahl bleibt auch die
ursprüngliche Zustands-Überlagerung weiter bestehen. Aber nicht real,
Salviati, sondern bloß in Gedanken. Die Wellenfunktion kollabiert für
Wigners Freund erst dann, wenn ihm das Ergebnis mitgeteilt wird. Denn
aufgrund seiner Kenntnis der Theorie befindet er sich in einer
Zustands-Überlagerung der Erwartung; ganz so wie durch den
quantenmechanischen Erwartungswert beschrieben.``
,,Damit ersetzt Du den magischen Kollaps der Wellenfunktion lediglich
durch einen subjektiven Bewußtseinsakt``, zweifelt Salviati.
,,Ganz recht``, bestätigt Simplicio. ,,Subjekt und Objekt
sind halt wechselseitig aufeinander bezogen. Ich komme zur Formulierung
der Subjektivitätsthese: Die Quantentheorie bezieht sich auf das
atomare Naturgeschehen, wie es sich in der Wahrnehmung bewußter Subjekte
zeigt.``
,,Esse est percipi``, murmelt Sagredeo.
,,Ja, Sein heißt wahrgenommen sein``, stimmt Simplicio zu
und ergänzt: ,,Unterhalb des Wirkungsquantums verschwimmen die Konturen.
Hier wäre eine Rückwirkung der Denkvorgänge auf den Verlauf der Wellenfunktion
möglich. Handelt es sich doch bei der Wellenfunktion nach Ansicht der
Kopenhagener lediglich um eine Wahrscheinlichkeitsverteilung, um unsere
Kenntnismöglichkeiten des Systems ... Ja, warum sollte die
Führungswelle Bohms nicht unserem Hirn
entspringen können ... ``