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Zivilisation als Popkultur?

Stand vielleicht die Entspannung von der Liebe durch den Sex am Anfang der Popkultur? Liebe verursacht Spannung, Sex löst sie. Na, dann mal los, rock me baby, rock me all night long! Wicke hat die Kulturgeschichte der Popmusik von Mozart bis Madonna nachgezeichnet. Er beginnt 1780 mit der Ermahnung Vater Leopolds an seinen Sohn Wolfgang: Vergiß das sogenannte Populare nicht. Die Volkstümlichkeit hielt Einzug in die Kunst und die Musik wurde zum ständigen Begleiter des Alltags. Der Erotiker Mozart hatte leichtes Spiel bei den jungen Damen und öffnete mit seiner Musik auch ihre Körper. 1852 folgte die gerade 18jährige Pianistin Thekla seinem Vorbild mit ihrem Gebet einer Jungfrau, einem Salonstück zu zwei Händen, das sich zum ersten Mega-Hit der Popgeschichte entwickeln sollte. Wenn auch noch nicht der Sex die Spannungen der Liebe zu lösen vermochte, die romantische Musik des Biedermeiers trug dazu bei, indem sie den wohlerzogenen jungen Damen ein allgemein akzeptiertes Ventil zum Abbau ihres Hormonstaus verschaffte. Den Herren der Schöpfung standen natürlich die Hausmädchen oder Dirnen zu Diensten.

Mit der Musik verbreitete sich auch der Tanz, zumal das ,,Walzen``, wie die Drehung des tanzenden Paares um sich selbst bezeichnet wurde, tief im Mittelalter wurzelt. 1872 reichte die Wienersche Walzerbegeisterung bereits bis nach Boston, wo das Strauß-Orchester zur Eröffnung des World Peace Jubilee Begeisterungsstürme auslöste mit dem grandiosen Walzer: An der schönen blauen Donau. Kubrick hat die Musik wieder zum Tanz der Raumschiffe um die Erde seiner space odyssee unterlegt und damit den Bogen gespannt von der Sphärenharmonie im All zur irdischen Technik des Menschen: Himmel und Mensch im Gleichklang der Gesetze des sich selbst webenden Weges. Der Walzermode folgte in der Publikumsgunst die Operette. Die Reime der Liebe und Triebe aus der 1899 in Berlin uraufgeführten Frau Luna sind als Ohrwurm im deutschen Sprachraum verewigt:

Schenk mir doch ein kleines bißchen Liebe, Liebe,

sei doch nicht so schlecht zu mir.

Fühlst du nicht die innig süßen Triebe, Triebe,

wie mein Herz verlangt nach dir?

Aus den populären Liedern gingen dann die unsäglichen deutschen Schlager hervor, die bis heute den Volksgeschmack nach Kitsch und Kurzweil bedienen wie die schablonenhaften Illusionen der millionenfach verbreiteten Groschenromane. Eine weitere Erotisierung der populären Musik brachte der Tango mit sich. Ihm folgten Shimmy und Charleston, die durch den vom Blues und Jazz abgewandelten Ragtime verdrängt wurden. Mit My Ragtime Baby stimmte der Farbige Fred Stone bereits 1898 den passenden Rhythmus der Frauenbewegung an. Als erste Jazz-Platte in Deutschland erschien 1920 der Tiger Rag. Afroamerikanische und europäische Tradition verschmolzen in den roaring twenties zu den vielfältigen Stilformen des Jazz, einer Musik, die ja prägend für Woody Allen werden sollte und fast alle seine Filme stimmungsvoll untermalt oder leitmotivisch interpretiert.

In den dreißiger Jahren machten sich die Nazis in Deutschland die suggestive Wirkung des Schlagers auf das Volk zunutze, indem sie in Musikfilmen seine Wirkung noch verstärkten. Nach dem vorzeitig selbstinszenierten Untergang des 1000jährigen Reiches begann mit dem american way of life in der gesamten westlichen Welt der Siegeszug des Jazz, zu dem sich ab Mitte der 1950er Jahre der Rock'n'Roll gesellte. War der elaborierte Jazz eher die Musik der intellektuellen Beats und Exis, kam der Rock'n'Roll besser bei den ,,halbstarken`` Proleten und Rockern an. Die aus dem Stoßen und Wälzen des Kopulierens hervorgegangenen Rhythmen wurden ein Synonym für die Befreiung der Jugend aus den Fesseln ihrer hinterweltlich verklemmten, religionsbetonten Erziehung. Rock me, baby, wurde zum geflügelten Wort für den gemeinsamen Matratzenspaß. Die laszive Zweideutigkeit des Rock Around the Clock mit einer Sweet little Sixteen brachte die Tanzsäle und Konzerte in Wallung und Aufruhr. Die Auftritte Bill Haleys auf seiner Deutschland-Tour 1956 wurden regelmäßig von ,,Halbstarken-Krawallen`` begleitet. Aufgenommen wurde die Gründungshymne der Jugendkultur bereits 1954 und in Deutschland verbreitete sie sich erstmals mit dem Film Die Saat der Gewalt (Black-board Jungle). Dem Dschungel im Klassenzimmer folgten Die Halbstarken und als dann auch noch Elvis hüfteschwingend den Hound Dog ins Mikro röhrte, flippten die Mädels kreischend aus - eine sexuelle Ekstase, die sich bei den Auftritten der Beatles wiederholen sollte.

Bob Dylan beginnt seine Chronicles mit der Beschreibung einer Rundfahrt zu den Kultstätten des Rock'n'Roll in New York. Im Pythian Temple an der West 70th Street besuchte er das Tonstudio, in dem Bill Haley and his Commets Rock Around the Clock aufgenommen hatten. Mit Bob Dylan betrat ein weiterer Intellektueller die Bühne der Popkultur und wie bei Woody Allen nahm seine Karriere in Greenwich Village ihren Anfang. Er tourte durch die Clubs und Coffee Houses des Village' und traf im Café Wha? auch andere Künstler. Tagsüber durften die Amateure ran, abends gehörte den Profis die Show: Gegen acht Uhr abends war Schluss mit der Tagesroutine. Dann begann die professionelle Show. Komiker wie Richard Pryor, Woody Allen, Joan Rivers, Lenny Bruce und kommerzielle Folkbands wie die Journeymen übernahmen die Bühne. Auch Dylan brauchte nicht lange auf seine Entdeckung zu warten und ebenso wie Allen nahm er attraktive und intelligente Damen für sich ein, die jung, dynamisch und unabhängig genug waren, um sich in der zweiten Bürgerrechtsbewegung zu engagieren. Suzie Rotolo und Joan Baez wurden ihm zu anregenden Musen, mit denen er Gespräche führen und Sex haben konnte. Auf den Spuren Woody Guthries und der pulsierend-kreativen Atmosphäre des Village' ausgesetzt, fand er mit seinem poetisch-musikalischen Talent genau die Verbindung von Protestsong und Rock'n'Roll, die den Nerv der Aufbruchstimmung seiner Zeit traf: I played all the folk songs with a rock'n'roll attitude. This is what made me different and allowed me to cut through all the mess and be heard.

Der Folkrock Dylans löste in den 1960ern in der Gunst der heranwachsenden Babyboomer den Jazz und Rock'n'Roll ab. Nicht mehr Beats und Exis, Rocker und Proleten bestimmten die Szene, sondern Bürgerrechtler und Linke, Hippies und Undergrounds. Die intellektualisierte Popmusik avancierte gleichsam zum Soundtrack der Jugendrevolte und Kulturrevolution. Nach seinem Durchbruch mit The Freewheelin' Bob Dylan 1963 setzte der Folkrocker 1965 wieder mit Highway 61 Revisited den Maßstab zukünftiger Popmusik;- auch für die Beatles. Parallel zur Folkszene in den USA, hatte sich im Arbeitermilieu Englands ebenfalls aus dem Rock'n'Roll die ,,Beatmusik`` entwickelt. Von Liverpool und Hamburg aus, verbreitete sie sich in einem beispiellosen Siegeszug rund um die Welt. Und nachdem die überaus talentierten Beatles die Anregungen Dylans aufgenommen hatten, produzierten sie 1967 mit dem Kozeptalbum Sgt. Pepper's Lonely Hearts Club Band einen Meilenstein in der Geschichte der Popmusik. Sgt. Pepper's bildete den Höhepunkt einer Trilogie, die sie mit Rubber Soul und Revolver in den Jahren zuvor begonnen hatten. Kemper ist des Lobes voll für das zukunftsweisende Konzeptalbum: Der musikalische und poetische Reichtum ist kaleidoskopisch: die Vielfalt der Klangfarben, der Reichtum der Instrumentierung, die technischen Finessen und die oft surreale Sprachmächtigkeit der Texte. Die meisten Songs erzählen keine Geschichte mehr, sondern folgen einem ,,stream-of-consciousness``, in dem sich die Partikel des Bewusstseinsstroms - ähnlich wie in der modernen Literatur - zu immer wieder neuen Bildern verdichten. Der Beatpoet Allen Ginsberg fasste den roten Faden der Songs zusammen:

  1. Sgt. Pepper's, die Einleitung mit dem Ruf nach der guten alten Zeit.
  2. With a little help from my friends als Aufforderung zu gemeinschaftlichem Handeln.
  3. Lucy in the sky with diamonds, ein Plädoyer für die Phantasie.
  4. Getting better: Alles im Leben soll leichter werden.
  5. Fixing a hole: Vom Verstand an und für sich.
  6. She's leaving home: Einmal die Freiheit des Geistes entdeckt, verlässt die Jugend ihr Zuhause.
  7. Being for the benefit of Mr. Kite; als Zwischenspiel eine Zauber- und Akrobatenshow.
  8. Within you without you: Wir machen uns Illusionen über den Raum an sich und sind gefangen in der Enge unseres Geistes.
  9. When I'm sixty-four, ein optimistischer Blick in die Zukunft, wenn man 64 Jahre alt sein wird.
  10. Lovely Rita: Die schöne und liebenswerte Rita wird gepriesen, das meter maid.
  11. Good morning zur Begrüßung des neuen Tages und Alltagseinerleis.
  12. Sgt. Pepper's Reprise, um die Erinnerungen an die Tradition wieder wachzurufen.
  13. A day in the life: Zum Schluss ein Gedicht über einen Tag im Leben.

Die nächste Anregung zur Horizonterweiterung der Popmusik kam ebenfalls aus New York und sollte zur Auflösung der Beatles führen, die ein Jahrzehnt neben Dylan das Lebensgefühl einer Generation bestimmt hatten. Im November 1966 war John Lennon erstmals der Fluxus-Künstlerin Yoko Ono begegnet, als sie in London ihre Ausstellung Unfinishing Paintings and Objects vorbereitete. Das japanische Ozeankind lebte in den 50er Jahren mit einem japanischen Komponisten im Village und schloss sich Anfang der 60er der Fluxus-Bewegung an, die für fließende Übergänge zwischen Kunst und Alltag eintrat und die Grenzen zwischen den einzelnen Künsten zu überwinden trachtete. Bevor Yoko John kennenlernte, lebte sie mit dem Jazzmusiker und Filmemacher Anthony Cox zusammen. Im Mai '68 lud Lennon sie zu sich nach Hause ein, da seine Frau gerade im Urlaub war. Die beiden genossen eine kreative Zusammenarbeit und kamen sich auch körperlich näher. Fortan wurden sie zum öffentlichen Paar der Popkultur, das sich mit unorthodoxen Aktionen - wie bed-ins oder love-ins - inszenierte, für die Friedensbewegung und die Bürgerrechte warb und mit neuen Musikformen experimentierte.

Johns erste Soloplatte 1970 mit der Plastic Ono Band war das genaue Gegenteil von Sgt. Pepper's, minimalistisch in der Instrumentierung und ohne ambitionierte Poesie. In einfach und direkt komponierten Songs reflektiert Lennon seine Kindheit und Herkunft aus der Unterschicht. Seine Religionskritik trägt er offen vor: God ist a concept / By which we measure our pain. Und in seinem Abgesang auf den Working Class Hero heißt es:

Keep you doped with religion and sex and TV

And you think that you're so clever and classless and free

But you are still fucking peasants as far as I can see

A working class hero is something to be ...

There's room at the top they are telling you still

But first you must learn how to smile as you kill

If you want to be like the folks on the hill

A working class hero is something to be ...

Dass der Weg zu Ruhm oder Reichtum mit Leichen gepflastert sein mag, hatte John Braines 1957 in seinem Erfolgsroman Room at the Top beschrieben, auf den sich Lennon offensichtlich bezogen hatte. Die problematische Konstellation eines proletarischen Karrieristen zwischen zwei Frauen, wie sie Braines in seinem Roman ausgestaltete, ist ja auch wieder Thema in Allens Match Point. Am Weg nach oben hat sich bis heute wenig geändert. Für Lennon waren die Illusionen bereits 1970 verflogen: The dream is over singt er in dem Song God, der alle gängigen Idole aus Religion, Politik und Kunst demontierte und auch die Beatles nicht ausnahm: Die Leute, die an den Schalthebeln der Macht sind, sind die gleichen, und das Klassensystem und die ganze Scheiß-Bourgeois-Szene sind genauso wie vorher, es gibt nur eine Menge Mittelschichtkinder mit langen Haaren, die mit modischer Kleidung in London herumlaufen ... Utopien einer besseren Gesellschaft, ja Zivilisation schlechthin, hatte sich Lennon trotz der resignativen Töne gleichwohl bewahrt. In dem schönen Song Imagine heißt es:

Imagine there's no countries / It isn't hard to do

Nothing to kill or die for / And no religion, too

Imagine all the people / Living life in peace

Imagine no possessions / I wonder if you can

No need for greed or hunger / A brotherhood of man ...

Diese Hymne für eine nihilistische Zivilisierung der Kulturen auf dem Weg zu einer humanistischen Weltgesellschaft, ist immer wieder von Popmusikern interpretiert worden; zuletzt zusammen mit vielen anderen Lennon-Songs auf dem von Amnesty International produzierten Sammelalbum zugunsten Darfurs: Make Some Noise. Auch junge Popmusiker wirken darauf mit, wie z.B Avril, die einfühlsam Imagine interpretiert oder die Boys aus dem Tokio Hotel, die Instant Karma in einer Hardrock-Variante zum Besten geben. Mit Dylanesque, einer ganzen CD als Hommage an Dylan, ist kürzlich Brain Ferry hervorgetreten. Der Altmeister selbst hat 2006 mit Modern Times sein vorerst letztes Album eingespielt. Darin befindet sich auch wieder ein Arbeiterlied, der Workingman's Blues. Das Los der Arbeiter in den Modernen Zeiten hatte ja schon Chaplin in seinem grandiosen, traurig-heiteren Stummfilm filmästhetisch aufgegriffen, auf den sich Allen wieder mit Bananas bezog. Gegenwärtig sind die Modernen Zeiten über Rotchina hereingebrochen und der kommunistische Staatskapitalismus springt mit seinen vielen Millionen Wanderarbeitern nicht besser um als es die klassenfeindlichen Kapitalisten im 19. Jahrhundert taten. Die Chancen für eine weitere Zivilisierung der Kulturen sind in China gleichwohl sehr viel größer als in der islamischen Welt. China hat sich zum einen aus einer der ältesten Kulturen überhaupt entwickelt und ist darüber hinaus von keiner der abrahamitischen Gehorsamsreligionen heimgesucht worden. Im Anschluss an die eingeleiteten technisch-wirtschaftlichen Modernisierungen, könnte mit dem zunehmenden Wohlstand und dem Gefallen am american way of life, aus den nachwachsenden Generationen endlich einmal eine Kulturrevolution von unten eine Chance bekommen.

Wie man den Büchern Huis, Sues und Wangs entnehmen kann, ist die Entwicklung einer Popkultur in den Metropolen des Reiches der Mitte bereits in vollem Gange. Sexuelle und politische Befreiung gehen allerdings nicht Hand in Hand: Sexuell unkonform zu sein ist cool, solange man politisch konform ist, schreibt Wang über die Peking Girls. Die erst 1984 geborene Chun Sue erkühnt sich sogar, im 2003 geschriebenen Vorwort zu ihrem China Girl ein Bekenntnis zum Individualismus abzugeben: Individualität statt Massendasein sollte unterstützt werden. Und die niedergeschriebene Jugend existiert ewig, sie ist es immer wert, gepriesen zu werden! In ihrer Charkterbeschreibung hebt die junge Dame insbesondere ,,Audio- und Video-Welt``, ,,Punk-Zeitalter``, ,,Popmusik`` hervor und vielleicht noch ,,Ich liebe Rock'n'Roll``. Mit 19 blickt sie bereits auf die Schönheit der Sechzehnjährigen, die fröhlichen Jahre der Rebellion zurück und bekennt: Ich war schon immer Fan der bunten Siebziegerjahre Amerikas gewesen. Dabei sind ihr Gruppen wie die Beatles, Doors, Queen, Cure, The Smiths, Blur, R.E.M., Green Day, Little Angels und Sonic Youth ebenso vertraut wie Nietzsches Geburt der Tragödie. Dem Unzeitgemäßen legt sie folgende Worte in den Mund: Nach Bedeutungslosigkeit zu suchen, ist besser als gar nicht zu suchen. Und sie glaubt an den Satz der Existentialisten, dass Leben gleichbedeutend mit Leiden sei. In der Morgenröte hatte Nietzsche geschrieben: Mit der Einsicht in den Ursprung nimmt die Bedeutungslosigkeit des Ursprungs zu. Daran ließe sich obiger Satz anfügen. Und das Leiden am Leben ist wohl auf Kierkegaard beziehbar, nicht aber auf Sartre. Sue fühlt sich als Underground und verkehrt im Club HOWL, ganz so wie die Beats im Amerika der Nachkriegszeit. Kerouacs On the Road und das von Ginsberg im City Lights Bookstore, San Francisco, 1956 erstmals vorgetragene HOWL haben nichts von ihrer Aktualität für den Underground verloren: I saw the best minds of my generation destroyed by madness ...

In den Metropolen Rotchinas scheint die Jugend gegenwärtig einen ähnlichen Befreiungsrausch zu erleben, wie ihn die westliche Jugendbewegung in den 60ern heraufbeschwor und damit die seltene Situation herstellte, in der persönliche und gesellschaftliche Befreiung synchron verlaufen. Während sich das kapitalistische Konsumparadies über nahezu die gesamte Nordhalbkugel ausgebreitet hat und Rotchina in den nächsten Jahren nach Deutschland auch Japan als Wirtschaftsmacht überholt haben wird, grassiert in den bisher führenden Industriestaaten eher der Katzenjammer. Außerhalb der aufstrebenden osteuropäischen und ostasiatischen Industriestaaten ist ein eher zynischer Nihilismus im Schwange. Anleihen bei Nietzsche sind da naheliegend. Auf die Möglichkeit einer Insel Houellebecqs hatte ich bereits einleitend hingewiesen. In seiner science fiction - Perspektive ist der ,,Übermensch`` in der Gestalt der ,,Höchsten Schwester`` als große Vorsitzende im High-Tech-Matriarchat bereits Wirklichkeit geworden. Im Zuge einer fortschreitenden Virtualisierung der Übermenschen sind ihnen im Gegensatz zu den zurückgebliebenen ,,Wilden`` alle lästigen Gefühle abhanden gekommen, da sie ihrer naturgemäß nicht mehr bedürfen. Die Befreiung vom Leiden ist erreicht, der Buddhismus verwirklicht. Der Medienkapitalismus hat sich gleichsam selbst aufgehoben, indem er sich vollends mediatisierte und die ,,Neo-Menschen`` in virtuelle Bewusstseinseinheiten verwandelte. Einen langweilig-sentimentalen Ausblick auf die befürchteten sozialen Folgen der Medizintechnik hat Ishiguro mit Alles, was wir geben mussten vorgelegt. Als Organreservoir herangezüchtete ,,Spender-Menschen`` bedauern darin ihr Schicksal und beklagen den Verlust der ,,Seele``. Als ob die Natur mit eineiigen Zwillingen nicht schon immer Menschen geklont hätte. Abgesehen davon, dass es ,,Seelen`` ebensowenig gibt wie ,,Götter`` und andere Mythen- oder Märchengestalten, werden Menschenklone natürlich vollwertige Menschen sein können. Und als ,,Ersatzteillager`` für Organe sind Gewebekulturen der aussichtsreichere Weg.

Statt weinerlich die Entzauberung der Welt durch ihre Rationalisierung zu beklagen, behagt es einem Zyniker natürlich mehr, das Leben als strategisches Planspiel zu organisieren. Juli Zeh hat dazu mit ihrem Roman Spieltrieb ein Schulbeispiel geliefert, das zeigt, wie junge Damen ihr Leben selbst in die Hand nehmen können: Das Spiel ist der Inbegriff demokratischer Lebensart. Es ist die letzte uns verbliebene Seinsform. Der Spieltrieb ersetzt die Religiösität, beherrscht die Börse, die Politik, die Gerichtssäle, die Pressewelt, und er ist es, der uns seit Gottes Tod am Leben erhält. Beim lustvoll-erotischen Spiel einer Schülerin mit ihrem Lehrer erweist sie sich als eigenschaftslos und unangreifbar. Sie ist die Umsetzung eines vor hundert Jahren angekündigten Prototyps, einstweilen mehr für die Präsentation seiner Funktionen als für den tatsächlichen Einsatz gedacht. Musil hatte den Möglichkeitsmenschen als Mann ohne Eigenschaften in Romanform gebracht. Bei Sartre tauchte er in Situation mit seinem Entwurf im Angesicht des Nichts wieder auf. Und Allen hat ihn als Working Class Hero zunächst das Tennisspielen erlernen lassen, damit er wettkampferprobt, seinen Match Point auch im Wirtschaftsspiel gewinnt. Dostojewskij gerät ihm dabei ebenso zum Ratgeber wie er Andreas Maier zu seinem Buch Kirillow inspiriert hat. Nach dem Kirillowschen Gesetz ist es gerade das banale Streben der Menschen nach dem Glück, das all die Grausamkeit in der Welt nach sich zieht: Die Menschheit funktioniert wie ein Krebsgeschwür, und ihr Wachstumsauslöser ist das Streben nach Glück und Wohlbefinden. Auch für Uwe Tellkamp sind die Dämonen wieder erwacht, die lange schliefen, gefroren im Eis des kalten Krieges. Eine Organisation Wiedergeburt plant in seinem Eisvogel mit der Kälte eines Eiszapfens den finalen Anschlag auf - die Zeit: wir müssen die Zeit zerstören, sagte er, wir müssen zerstören, die Zeit. Ein Anschlag auf die Zeit droht ebenfalls in dem Roman Saturday McEwans. Die Wiedergeburt wird von ihm aber nicht auf den Germano-Faschismus bezogen, vielmehr ist die Rückkehr in den Gottesstaat der Islamo-Faschisten zu befürchten: London, sein kleiner, offen vor ihm liegender, unmöglich zu verteidigender Ausschnitt wartet wie hundert andere Städte auf seine Bombe. Bomben sollten kurz darauf in U-Bahnen und Bussen gezündet werden - und es werden nicht die letzten gewesen sein. Menschen sind Gewohnheitstiere, sie werden sich an die in den nächsten Jahrzenten häufiger werdenden Bombenanschläge ebenso gewöhnen wie sie seit über 100 Jahren die ständigen Opfer des Autoverkehrs tolerieren. Das sind momentan immerhin rund 1,2 Millionen jährlich weltweit und kaum jemand stört sich daran. Lieber opfern sich die Menschen selbst ihren heiligen Kühen als dass sie sich erkühnten, sie einfach abzuschaffen; denn eine Welt ohne Autos und Religionen wäre schon fast das Paradies bereits auf Erden, aber wer will das schon?

Wie man den Modernen Zeiten nicht nur mit thymotischem Zorn, sondern auch mit erotischer Heiterkeit begegnen kann, hatte Kundera bereits 1984 in Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins in Romanform gebracht. Darin ging es ihm um das Leichte und das Schwere in den Liebschaften der Menschen und er entwickelte die lebenswerte Vision von erotischer Freundschaft. Mit ihrer Leichtigkeit gelang ihm ein Kontrast zur Schwere des Gedankens der ewigen Wiederkehr. Aber der kalte Krieg durchkreuzte noch das Glücksstreben der Menschen. Im Mai '68 erlebten die Pariser den befreienden Höhepunkt ihres politischen Frühlings, während der Prager-Frühling durch die Panzer der Roten Armee wieder in eine Eiszeit verwandelt wurde. Der träumerisch-verspielten Maxime Sartres: Phantasie an die Macht! stand die grausame Humorlosigkeit des Sowjet-Kommunismus gegenüber. Ein heiter-existentialistischer Roman ist 2006 wieder Peter Stamm gelungen mit: An einem Tag wie diesem. Ein Erotiker füllt seine Leere mit Frauen und am Ende verliert er sein Einsamkeitsgefühl umso mehr als er sich von den Menschen entfernt - und sich vom Rauschen der Wellen umfangen lässt. Eine humorvolle Verbindung von Literatur und Todessehnsucht hat kürzlich auch Martin Walser vorgelegt in Der Augenblick der Liebe. Darin knüpft eine Doktorandin an die La Mettrie'sche Synthese von Mensch und Organisation an und macht sich an einen alternden Forscher heran, der schon einmal über die kynisch-materialistische Philosophie des französichen Aufklärers gearbeitet hatte. Als sie das erste Mal auf ihm sitzt, scheint eine Schlagzeile in ihr auf: Frivole Studentin fickt Forscher zu Tode. Männer und Bäume können Nottriebe ausbilden und noch einmal in Angstblüte stehen. So ergeht es einem Finanzmanager, der von einer jungen Schauspielerin lustvoll zum Kunstsponsering getrieben wird. Betrieben Männer nicht alles nur des Geldes wegen und war das Geld ihnen nur das Mittel, um Frauen zu bekommen, daß also alles, was überhaupt stattfand, wegen der Frau stattfand? Daran musste er denken als sie ihn anrief und sagte: Ich möchte deine Eier lecken. War das nicht auch das Fazit des New Yorker Stadtneurotikers gewesen? Wir machen den Stiefel deswegen weiter mit, weil die meisten von uns eben die Eier brauchen.

Walser hatte eine Relativitätsheorie der Moral eingefordert. Woran mag er dabei gedacht haben? Wohl kaum an einen naiven Werterelativismus. In der Einsteinschen Relativitätstheorie ist das Linienelement der Raumzeit die Invarante, d.h. die physikalischen Sätze müssen invariant bzgl. beliebiger kontinuierlicher Raumzeit-Transformationen sein. Wären SEX und GELD die Invarianten einer Relativitätstheorie der Moral? Sollten die Umgangsformen der Menschen invariant bzgl. der sexuellen und finanziellen Austauschbeziehungen zwischen ihnen sein? Das wäre der Anfang einer humanistischen Ethik, in der die Austauschbeziehungen zwischen den Menschen auf der Erde invariant bzgl. beliebigen Umgangs sein sollten, solange die Umkehrbarkeit (bzw. Wiederholbarkeit) gewährleistet werden könnte. Der Umkehrbarkeit in der Physik entspricht die Energieerhaltung. In der Soziologie entspräche ihr die Menschheitserhaltung. Dem sorgsamen Umgang mit den Naturressourcen durch Entropieminimierung käme die humane Behandlung der Menschen durch Vermeidung von Grausamkeit gleich. Diese rationale Verbindung von Natur, Gesellschaft und Persönlichkeit hatte Einstein nicht zufällig in seiner grandiosen Kosmologie auf der Grundlage einer allgemeinen Invarianzforderung formulieren können; denn seine Persönlichkeit war bereits invariant genug, damit sich in ihr auch die soziale und natürliche Dezentrierungstendenz in der Zivilisierung der Kulturen überschneiden konnten. Von der Bezugssystems-Invarianz in der Phyisik ließe sich eine Verbindung herstellen bis hin zur Invarianzforderung an die Politik, nach der das politische System invariant bzgl. des gesellschaftlichen Wandels sein sollte. Am Ende dieser durch die Bürgerrechtsbewegungen forcierten Entwicklung schiene dann die mystische Einheit von Himmel und Mensch im sich selbst webenden Weg auf ...

Am Beispiel New Yorks konnte demonstriert werden, wie aus der Keimzelle des Forts Amsterdam einige nach Freiheit und Selbstbestimmung strebende europäische Siedler einen Zivilisationsprozess in Gang setzten, der in beispielloser Weise die Kulturen dieser Welt zu einem friedlichen Zusammenleben vereinte. Das unverhohlene kapitalistische Geschäftsinteresse ging dabei einher mit einem Kunstsponsering und der Beförderung von Freiheitsspielräumen, die neben Wirtschaft und Technik auch Wissenschaft und Kunst florieren ließen. Im Einklang mit den durch Asser Levy begonnenen Bürgerrechtsbewegungen entstand in Greenwich Village der 1960er Jahre eine künstlerisch inspirierende Atmosphäre, die mit Woody Allen und Bob Dylan die gesamte westliche Zivilisation beflügelte. Im Medienkapitalismus waren Popkultur und Kapitalismus eine Synthese eingegangen, die beschleunigt durch die Computertechnik und das Internet ihren weltweiten Siegeszug antrat. Genau deshalb wählten die Islamisten al-Qaidas das WTC New Yorks zum Schauplatz ihrer Terroranschläge aus. Mittelalterlicher Religionswahn und moderne Hochtechnologie wurden in eine zerstörerische Verbindung gebracht, die der aufgeklärten Welt in erschütternder Weise live vor Augen führte, wie brüchig der schöne Schein der Zivilisation war und welche entsetzlichen Abgründe noch in den religionsbestimmten Kulturen schlummerten.

Bereits am Beginn der westlichen Zivilisation wird in der Odyssee die List besungen, die es dem Helden ermöglicht, sich gegen alle Widrigkeiten der Natur und Verführungen der Mythen zu behaupten, seien es tosende Meereswasser, schreckliche Riesen, gar zu lieblich klingende Sirenen oder die betörend verführerische Circe. Mit der List der Vernunft behauptet Odysseus die griechische Kultur gegen die barbarischen Naturgewalten und irrationalen Mythologien:

Und zum Lande der wilden gesetzlosen Cyklopen

Kamen wir jetzt, der Riesen, die im Vertraun auf die Götter

Nimmer pflanzen noch sä'n und nimmer die Erde beackern.

Ohne Samen und Pfleg entkeimen alle Gewächse,

Weizen und Gerste dem Boden und edle Reben, die tragen

Wein in geschwollenen Trauben, und Gottes Regen ernährt ihn.

Dort ist weder Gesetz noch öffentliche Versammlung,

Sondern sie wohnen all' auf den Häuptern hoher Gebirge

In gehöhleten Felsen, und jeder richtet nach Willkür

Seine Kinder und Weiber, und kümmert sich nicht um den andern.

Die Kultur (cultura) hebt an mit der Bearbeitung der Natur durch den Ackerbau und der Rationalisierung der Mythen in der Philosophie. Die aus der Bodenbearbeitung hervorgegangene Technik und die das gesellschaftliche Zusammenleben regulierende Politik sind bis heute bestimmend für die Kulturen und ihre Zivilisierungen geblieben. Aus den Anfängen der Geometrie im Ackerbau konnte im Zuge des wissenschaftlichen Fortschritts eine vereinheitlichte Feldtheorie des Universums entwickelt werden, in der die alte Einheit zwischen Himmel und Mensch aufgehoben blieb. Weniger erfolgreich als Technik und Wissenschaft waren allerdings Politik und Wirtschaft, da sie mit dem Sesshaftwerden der Menschen der Macht und Herrschaft des Patriarchats anheim fielen. Gerda Lerner hat die Entstehung des Patriarchats nachgezeichnet und sie über einen Zeitraum von etwa 2500 Jahren zwischen ungefähr -3100 und -600 datiert. Im Buch des Laotse ist ja noch eine Erinnerung an das Matriarchat erhalten geblieben, das es einmal gegeben haben mag. Mit den sexualitäts- und frauenverachtenden abrahamitischen Gehorsamsreligioenen entwickelte das Patriarchat aus der Verbindung von Staatsmacht und Religionsdogmatik in den mittelalterlichen Gottesstaaten eine Herrschaftsform, die noch heute in den islamischen Staaten nachwirkt und von Fundamentalisten sogar wieder als Vorbild für die Zukunft herangezogen wird.

Am Anfang der Kultur stand die List der Vernunft, die sich im Patriarchat allerdings zur Hinterlist gegen die Natur und die Frau entwickelt hat und heute wiederum mit List und Hintersinn, Humor und Spaß für den Erhalt der Natur und die Emanzipation der Frau aktiviert werden sollte. Die Popkultur bietet sich dabei als einzigartige Chance an, mit den friedlichen Mitteln des Medienkapitalismus wieder eine Rationalisierung der Lebensverhältnisse herbeizuführen, die ohne Gewalt und Terror auskommt. Es ist ja kein Zufall, dass der Frauenanteil am Terrorismus im Weltdurchschnitt nur im Prozentbereich liegt. Ebenso gering ist der Anteil der Frauen an den Kapitalverbrechen. Wenn sich der youth bulge durch die Kriege und Selbstmorde der jungen Männer selbst dezimiert haben wird, scheint womöglich die Perspektive eines neuen Frauenkultes auf, der den Weg in ein ,,High-Tech-Matriarchat`` weisen könnte. Mit ihrem Loblied auf die Freude hatten die Weimarer Klassiker, mit Wein, Weib und Gesang die Romantiker und mit Sex and Drugs and Rock'n'Roll dann die Hippies und Undergrounds zu Lust und Freude beitragen wollen. Wohl nicht zufällig ist unterdessen das ,,Poppen`` zu einem Synonym für das Kopulieren geworden: Pop me, baby, klingt doch schon deutlich netter als: Fick mich, Alter.

Der handgreifliche Umgang mit den Dingen der Natur und das Reden zur Verbesserung des Zusammenlebens, Handwerk und Mundwerk, standen am Beginn der Kulturen und entwickelten sich zu Technik und Politik. An diese lebenspraktische Basis knüpft Janichs Philosophie des methodischen Kulturalismus an. Deren Methodenstrenge und Praxistauglichkeit kann sich jede selber zu Gemüte führen; ich möchte zum Abschluss meines Essays lieber den Versuch wagen, die fröhliche Wissenschaft Nietzsches und die humoristische Kinematographie Allens in ihrem Aufgehen im POP mit dem GELD im Medienkapitalismus zu einer heiteren materialistischen Philosophie zu verquicken, um die weitere nihilistische Zivilisierung der Kulturen zu befördern. Für Steenblock ergeben SEX, POP und GELD das Dreigestirn des täglich bunter werdenden Zivilisationskarnevals. Da der SEX mit seiner Spaßkomponente bereits im POP aufgegangen ist und man mit GELD auch SEX haben kann, halte ich zur Charakterisierung des Medienkapitalismus das Verhältnis zwischen kynisch-erotischem POP und zynisch-thymotischem GELD für ausreichend.

POP und GELD sind die großen Gleichmacher, die Ruhm und Macht versprechen. In ihnen setzt sich die Tendenz der Moderne nach Reflexion und Abstraktion fort. In den Worten Woodys: Reichtum ist besser als Armut, aber nur aus finanziellen Gründen. Dieser Witz erzeugt eine Erwartung, die aber sogleich konterkariert wird. Der gleichsam gestaute Erwartungsdruck entlädt sich dann in Heiterkeit. Nach diesem Schema funktionieren viele Witze. Dabei ist dieser Witz aber mehr; denn er enthält einen wahren Kern, verfolgt eine ernste Absicht und ist damit: Humor. Reichtum ist eben nicht alles, da man das Wichtigste im Leben, wie schon sein Leben selbst, nicht kaufen kann. Zwischen Geburt und Tod haben wir einen Lebensentwurf zu entwickeln und ihm Folge zu leisten - oder uns umzubrigen. Dabei ist nicht die absolute Länge des Lebens entscheident, sondern seine Intensität: Live fast, die young! lautet die Underground-Parole der Jünger des Dionysos. Woodys Humor reflektiert den Reichtum zwar als etwas Besseres (als Armut), aber gleichwohl reicht er nicht hin für einen Lebensentwurf, da er sich nur auf den finanziellen Aspekt des Lebens bezieht. Diogenes bedurfte seiner nicht. Als ihn der große Alexander fragte, ob er einen Wunsch habe, meinte der Kyniker nur, er solle ihm aus der Sonne gehen. Was hätte ihm Alexander nicht alles gewähren können! Aber Diogenes war schon in Armut so voller Lebensfreude, dass er keines Reichtums bedurfte. Dessau und Kanitscheider sind in ihrem lesenswerten Buch Von Lust und Freude dem Impuls des Hedonismus nachgegangen und spannen den Bogen von der heiteren Selbstgenügsamkeit im antiken Kynismus bis hin zur Physiologie des Belohnungssystems in der zeitgenössischen Hirnforschung.

Wie Nietzsche wiederholt betont hat, waren die kultischen Feierlichkeiten und religiösen Rituale von Anfang an auf Unterhaltung und Verblüffung des Stammes wie auf Verzückung und Ekstase der Eingeweihten aus. Die Religionen sind bis heute das Opium fürs Volk geblieben. Im Unterhaltungswert und Verzückungsgrad hat ihnen der POP zum Glück den Rang abgelaufen. Und im POP gibt es auch die Selbstreflexivität, mit der er sich selbst als Opium vermarktet, z.B. in der zynischen Werbung für eine schwachsinnige Reality-Show: Big Brother, OPIUM fürs Volk, ab März täglich. Für Steenblock ist der POP zur kitschigen Oberfläche des Spätkapitalismus geworden. Aber Spaß macht er doch und wie das Bewusstsein auf dem Sein, ruht er gleichsam auf dem GELD auf. Diese heitere, sich selbst verarschende, wenn auch vielleicht etwas herrenzynische Selbstreflexivität geht den Religionen völlig ab. Sie kommen todernst daher und ziehen den Tod denn auch millionenfach nach sich. Der Nekrophilie der Religionen ist die Lebensfreude des POP entgegenzusetzen und man kann sich mit Woody nur wünschen, dass auch die Religionen im POP aufgehen, zumal der Papst ja schon im Showgeschäft tätig ist. In Stardust Memories steckt Sandy ja deshalb mit seinem Rolls Royce im Stau. Damit komme ich auf den wohl besten Film Allens zurück, der mit seiner kynischen Selbstreflexivität ein geniales Produkt der Popkultur ist.

Im Casebook geht Rountree ausführlich auf die Selbstreflexivität in den Filmen Woody Allens ein. Ich beschränke mich hier auf ein paar Aspekte Stardust Memories. Der Film handelt von einem Filmfestival zu Ehren des Filmemachers Sandy Bates im Hotel Stardust. Diese Realitätsebene des Films teilt er sowohl mit uns, den Zuschauern des Films, als auch mit den Festivalteilnehmern, die sich im Film Sandys Filme anschauen. An den eingeblendeten Pressekonferenzen und Diskussionsveranstaltungen nehmen virtuell auch wir als Zuschauer teil. Neben dieser Festivalebene des Films gibt es die Filmausschnitte der Festivalfilme, die im Film gezeigt werden. Darüber hinaus sehen wir Sandy selbst nicht nur als Festivalteilnehmer, sondern auch in seiner Freizeit. Und worum geht es ihm da? Natürlich um die Frauen! Eine telefoniert er herbei (Isobel), die andere backert er an (Daisy), weil sie ihn (angeblich) an eine andere erinnert (Dorrie). Zwischen seinen aktuellen Szenen mit Isobel und Daisy scheinen im Film immer wieder Erinnerungen an Dorrie auf, die er beim Drehen eines Films am Strand kennengelernt hatte. Dazu gesellen sich Erinnerungen an seine Kindheit, in der er das Fliegen und Zaubern lernte. Die Erinnerungen gehen allerdings immer wieder in Phantasien über, in denen Sandy z.B. wirklich mit Daisy zaubert oder auf einer Wiese ein UFO mit Außerirdischen antrifft, die er über seine Filme befragt, so wie ihn die Festivalteilnehmer über seine Filme befragen. Damit scheint die letzte Ebene des Films auf, nämlich die ,,Gottesperspektive``, in der wir alle nur die Schauspieler auf der Leinwand im Vorführraum ,,Gottes`` sind. Und da Sandy sich auf einer Pressekonferenz damit outet, dass ihm die Rolle des Chefgottes Zeus am liebsten sei, entpuppt sich der ganze Film Stardust Memories letztlich als eine Folge von Erinnerungen des Filmemachers an das Festival im Hotel Stardust. Ein Fazit kann ähnlich wie für Achteinhalb gezogen werden: Das Leben ist ein Fest und es macht Spaß, mitzufeiern, zumal es mit jedem Tag zu Ende sein kann. Ein langer, feuchter Kuss ist da am Schluss der richtige Auftakt zum Poppen ...

Und wie das Poppen kann man auch das Filmeschauen sein Leben lang wiederholen, ohne vor der ewigen Wiederkehr des Gleichen erschrecken zu müssen. Wie kurz das Leben ist, zumal, wenn man im falschen Zug sitzt, führt uns Woody gleich zu Anfang des Films mit der Szene im Zug vor. Rasend schnell geht die Fahrt und der Sand rinnt nicht langsam durch das Stundenglas, sondern einem Sturzbach gleich aus einem Koffer. In seinem Appartment sitzt Sandy vor einem Bild aus Saigon, auf dem der Polizeichef gerade einen Vietcong erschießt. Sieht es so auch in Sandy aus? Fühlt er sich wie erschossen? Zur Beruhigung nimmt er Tranquilizer, ohne die es das Showgeschäft gar nicht mehr gebe. Er trägt ein T-Shirt mit der Zahl 24. Ist das seine Antwort auf das Ergebnis 42 des großen Computers aus der Anhaltergeschichte durch die Galaxie? Jedenfalls sorgt er sich darum, dass die Materie zerfällt und es irgendwann auch Beethoven nicht mehre geben werde. Wie Zarathustra von seiner Berghöhle herab, schaut Sandy auf die Menschen dort unten, die sich das Leben unnötig schwer machen und darüber vergessen wie schnell es wieder vorbei sein wird. Seine Freundin Dorrie betört er mit dem Duft: Proustscher Rausch (auf der Suche nach der verlorenen Zeit). Und nachdem seine Schöne einmal gekocht hatte, sah die Küche aus wie Hiroshima (bei Resnais). Dorrie war ihm verfallen, weil er auf dem College als Hauptfach das Küssen gewählt hatte.

Angesichts eines toten Kaninchens, das seine Haushälterin zubereiten wollte, versinkt er in Gedanken über die Sinnlosigkeit des Lebens, und dass es auch noch so schnell wieder vorbei sein wird. Also entschließt er sich zu feiern; denn Filmkunstwochenenden sind höchst populär und kommerziell. POP und GELD machen einfach Spaß, da Ruhm und Reichtum attraktive Frauen anziehen. Und schon starrt Sandy unverhohlen die schöne Daisy an,- weil sie so verloren wirkt. Sie ist Geigerin bei den Philarmonikern (was Virgil in Money bloß vortäuschte): Ich hab' noch nie eine Geigerin gesehen, die so sexy ist. Das sind sonst nur Flüchtlinge aus Ungarn. Die Musikerin erinnert ihn an Dorrie, die er einstmals beim Drehen einer Strandszene angemacht hatte: Ich finde sie unwahrscheinlich attraktiv. Sie sitzen einfach nur da und lesen. So 'was findet man heute nur noch selten. Haben sie Lust, mit mir Essen zu gehen? Was sind ihre Zukunftspläne? Dorrie: Vielleicht erlebe ich meinen Durchbruch. Ich falle ihnen doch nur auf, weil ich Schopenhauer lese. Die schön verrückte Dorrie hat ihre Depression und Schizophrenie von ihrer Mutter geerbt, die sich selbst tötete. Darauf Sandy: In unserer Familie hat sich keiner umgebracht. Meine Mutter hatte genug damit zu tun, den Hähnchen sämtlichen Geschmack auszutreiben.

Zurück in seinem Zimmer im Hotel Stardust findet Sandy einen jungen, weiblichen Fan in seinem Bett vor: Sie wollen mechanischen Sex? Was Sandy empört, kennt die Ehefrau zur Genüge: Gefühlloser Sex ist doch besser als gar keiner, oder? Mein Mann kommt auch immer mit dieser Ausrede. Daraufhin bricht in einem Filmausschnitt die Wut Finkelsteins aus, einem kleinen Mann mit Brille. Sie verkörpert sich in einem Gorilla, der schon mehrere Menschen aus Finkelsteins Vergangenheit getötet hat und gerade seine Mutter bearbeitet - bis ihn ein Psychoanalytiker mit seiner Pfeife bannt ... Beim Besuch seiner Schwester schauen sie sich mit Isobel alte Photos an. Auf einigen ist Klein-Sandy als ,,Gott`` zu sehen: Es hat mich immer so aufgebracht, dass Abraham seinen Sohn abmurksen wollte. Auf der Rückfahrt unterhalten sie sich über Isobels linke Vergangenheit. Ich war auf den Barrikaden. Die Arbeiter, die hatten nicht mitgekämpft, die wollten nur höhere Löhne. Wir hatten für geistige Dinge gekämpft. Vielleicht waren wir Romantiker. Währenddessen nähert sich von hinten ein Polizeiwagen mit eingeschalteter Sirene. Sandy wendet sich an seinen Fahrer: George, du bist zu langsam, die kriegen dich gleich. Aber George wird verhaftet wegen Nachnahmebetrugs und Sandy muss seinen Rolls Royce selber fahren.

Romantiker sind auch die neuen Produzenten. Sie wollen den Film nicht mehr auf einer Müllhalde enden lassen, sondern im - ,,Jazzhimmel``! Sandy: Wer ist denn dieser Neandertaler, der den Schluss meines Films umschreibt und seit wann haben diese Leute 'was zu sagen? Managerin: Wir wollen einen österlichen Film und keinen für Atheisten. Sandy: Für sie bin ich ein Atheist, aber für Gott bin ich die loyale Opposition. Seine Fans umringen den Filmemacher gerade wieder und die Produzenten kommentieren: Sein Publikum betet ihn an. Aber der Künstler entgegnet ahnungsvoll: Heute beten sie, morgen töten sie. Jedenfalls will das Publikum nach Meinung der Manager nicht mit der Realität einer Müllhalde konfrontiert werden. Darauf Sandy: Das Leben ist nicht kontrollierbar. Es gibt auch kein Happy End. Nur bei Kunst und Masturbation kann man den Daumen drauf halten. Zwei Gebiete, auf denen ich absoluter Experte bin. Sandys Talent für die Kunst bezeugen seine Filme und das Masturbieren ist ja des Kynikers Lieblingsbeschäftigung. Außerdem war Dorrie zwar äußerst attraktiv und ungehemmt nur im Bett, aber leider nur für zwei Tage, die anderen 28 des Monats ... Unversehens sehen wir Sandy als Chirurgen damit beschäftigt, Dorries Gehirn in den Körper Ritas zu transplantieren und Ritas Brain in Dorries Body zu verpflanzen; auf dass er eine Lovely Rita bekomme (wie in Sgt. Peppers). Gefragt, ob er in seiner Beziehung nicht einen Kompromiss hätte eingehen können: Ich kenne keine Beziehung, die auf Kompromissen beruht; was zählt ist einzig und allein das Glück. Man will das nicht einsehen, weil es nicht manipulierbar ist.

Sandy ergreift die Möglichkeit, sich mit Daisy den Klassiker des italienischen Neo-Realismus anzuschauen: Fahrraddiebe. In der anschließenden Diskussion will sich die Musikerin auf den Kontext und die soziale Situation beziehen, aber für Sandy ist der Film doppelbödiger: Wenn du nichts zu essen hast, wird das zu deinem Hauptproblem. Aber was passiert in der Wohlstandsgesellschaft, wenn du dich um so 'was nicht zu kümmern brauchst? Dann tauchen ganz andere Probleme auf, z.B. wie kann ich mich verlieben oder warum kann ich mich nicht verlieben? Warum werde ich älter und sterbe und welche Bedeutung hat mein Leben überhaupt? Die Dinge werden immer komplizierter für einen. Auf der Rückfahrt gesteht der Filmemacher der Geigerin sein früheres musikalisches Unwissen; hielt er doch einstmals die Goldberg-Variationen für das, was Frau und Herr Goldberg in der Hochzeitsnacht variierten.- Sogar ein Rolls Royce fällt einmal aus und die beiden machen sich zu Fuß auf den Heimweg. Dabei geraten sie auf eine Zauberwiese, die einem Zirkus ähnelt. Sandy ist dem Publikum nicht unbekannt. Eine Intellektuelle fragt: Was haben sie eigentlich gegen Intellektuelle? Fühlen sie sich von ihnen bedroht? Sandy: Bedroht? Die sind doch wie die Mafia, bringen nur ihre eigenen Leute um. Und ein Kritiker meint: Es ist, als ob wir alle in einem Film wären, den man in Gottes Privatkino vorführt. Sagt es und wird unversehens von einem Gorilla angefallen (Finkelsteins Wut? King Kong? Der Zorn Gottes über eine schlechte Kritik?). Dorrie kann in einer zwischenzeitlichen Erinnerung nicht allein sein, aber auch niemandem zu nahe kommen ...

Sandy glaubt UFOs ausgemacht zu haben und rennt zu den Aliens, denen er einige Fragen stellen möchte. Alien: Wir können eure Luft nicht atmen. Sandy: Ja, wenn das so weiter geht, wir bald auch nicht mehr. Warum gibt es so viel menschliches Leid? Alien: Das ist nicht zu beantworten. Sandy: Gibt es einen Gott? Alien: Das ist die falsche Frage. Sandy: Wenn nichts von Dauer ist, warum mache ich mir dann das Problem, Filme zu drehen oder sonst irgendwas? Alien: Uns gefallen deine Filme, besonders die frühen, komischen. Sandy: Aber das menschliche Dasein ist doch geradezu trostlos. Alien: Es gibt auch hübsche Augenblicke. Sandy: Ja, mit Dorrie. Nur, was ist meine Bestimmung? Alien: Du bist ein Komiker und wenn du der Menschheit einen Dienst erweisen willst, dann erzähl' bessere Witze. Die UFOs entschwinden in den Himmel und unterlegt von den romantischen Klängen der Mondscheinserenade bekommen wir nur Heißluftballons zu sehen. UFOs und Romantik, alles nur heiße Luft! Aber dann wird es dramatisch, ein Fan tritt hinzu, die Pistole im Anschlag: Sandy, sie waren mein Held. PENG! Als sein Leben noch einmal im Zeitraffer vor ihm abläuft, erinnert der Filmemacher seinen wohl schönsten Moment mit Dorrie, den Augenblick der absoluten Harmonie zum Klang des gleichnamigen Armstrong-Songs: Stardust melody of love and harmony ... Was für ein gelungenes Resümee des Films oder des Lebens (was für einen Filmemacher ja dasselbe sein kann). Sandy hat seine Ermordung nur halluziniert und nimmt anschließend noch einen Preis für seine Darstellung ,,Gottes`` an, obwohl man ihn synchronisieren musste.

Bei Laotse schwangen Himmel und Mensch im Einklang der Gesetze des sich selbst webenden Weges und Armstrong intonierte die Stardust melody of love and harmony. Die Welt der Harmonien als die im Seienden verkörperte Vernunft. Auf diese alte Zweiteilung kommt Allen seit Love and Death immer wieder zurück: Human Beings are divided into mind and body. The mind embraces all the nobler aspirations, like poetry and philosophy, but the body has all the fun. Bei Nietzsche und Einstein strukturierten Musik und Mathematik den Zusammenhang, bei Allen und den Marx Brothers sind es Musik und Humor. Dem Motiv der Nichtmanipulierbarkeit des Glücks beim Filmemacher entspricht die Nichtmanipulierbarkeit der nichtmisstrauenswürdigen Ordnung in den Naturerscheinungen beim Naturphilosophen. Glück und Ordnung, Zufall und Notwendigkeit können dem gleichen Motiv entsprechen. Aber wie können sie theoretisch vereinbart werden? Durch Musik und Mathematik, Lust und Freude? Bei Nietzsche erwuchs die Fröhlichkeit des amor fati aus der Einsicht in die allgemeinen Gesetze der Natur. Einstein ging es ganz ähnlich, da er die Willensfreiheit ebenso ablehnte wie Schopenhauer. Und der Determinismus führte ihn zu einer Haltung heiterer Gelassenheit, die besonders seinem Humor förderlich war.

In der Mathematik der Selbstorganisation stehen Zufall und Notwendigkeit ebensowenig im Widerspruch wie in der Kosmologie. Denn realitätsnahe Systeme werden durch nichtlineare Gesetze beschrieben, die deterministisch sein können, ohne dass Vorhersagen möglich wären. Denn nur Gesetze und Nebenbedingungen zusammen ermöglichen technische Anwendnugen wie natürliche Vorhersagen. Und weil die Nebenbedingungen immer nur einen winzig kleinen Ausschnitt des Universums berücksichtigen können und deshalb prinzipiell nicht beliebig genau erfassbar sind, überträgt sich ihre Unbestimmtheit und Ungenauigkeit auf die aus ihnen mit den Gesetzesgleichungen berechneten Wirkungen oder Prognosen. Bei ,,chaotischen`` Systemen, die in der Natur die Regel sind, verstärken sich kleinste Anfangswerte sehr schnell zu riesenhaften Folgewerten. Wetter- oder Erdbeben-Vorhersagen sind deshalb ebenso fehlerbehaftet und vage wie Klimaprognosen oder kosmische Zukunftsentwicklungen. Längere Vorhersagen sind kaum von Zufallsereignissen zu unterscheiden, da die Zeitfolgen chaotischer Systeme nahezu stochastisch sein können: Alles ist vorherbestimmt, bis auf den Zufall ...

Aus jedem Film Allens könnten philosophische Abhandlungen entwickelt werden und in den USA sind seine Filme seit Jahren Bestandteil der philosophischen Lehre. Die vielfältigen Anregungen seiner Kinematographie und die zahlreichen Verbindungsmöglichkeiten zwischen ihnen und den philosophischen Themen scheinen mir offensichtlich und ich meine genügend Beispiele gegeben zu haben für eine heitere Verquickung von Filmkunst und Philosophie. Allens pragmatischer Optimismus ebenso wie sein nihilistischer Existentialismus können zwanglos in zeitgenössischen Grundkursen zur Philosophie integriert werden. Ich nenne als Beispiele die Logisch-pragmatische Propädeutik Janichs und den Grundkurs Philosophie Detels. Auf ein paar Entwicklungsschritte und Varianten des Pragmatismus und Existentialismus war ich schon eingegangen. Detel dagegen knüpft an Habermas und die kritische Theorie an und spitzt sie methodisch-analytisch weiter zu. Die Hauptfelder seiner Reflexion sind Natur, Geist und Gesellschaft. Zum Vorverständnis und Kontext dieser hehren Begriffe ließen sich mehrere heitere Anmerkungen Allens einsetzen:

Die am Beginn der Philosophie stehende Reflexion unserer Handlungssituation nehmen beide Professoren in der Alltagserfahrung auf. Detel hebt dabei im Kontext des Argumentierens mit der Logik an. Aus der Fülle der Dialoge und Gespräche in den Allenschen Filmen können dafür natürlich zahlreiche Beispiele gewählt werden. Zwischen den Geschlechtern wird besonders die Enthüllung eines Mannes für Kontroversen sorgen: Sex ist besser als Gespräche. Gespräche sind das, wo man sich durchquält, um zum Sex zu kommen. Studieren Männer vielleicht nur deshalb Philosophie, um intellektuelle Frauen rumzukriegen? Sind die Männer noch zu zivilisieren? Worin unterscheiden sich männliche und weibliche Kulturen? In welchem Verhältnis stehen sie zu ihrer jeweiligen Natur?

Auf manche Frauen wirken Männer wie Aliens: Sie ham sich angepasst, und wirken fast wie wir - nur eher hässlich. / Sind nicht niedlich, selten friedlich, und ganz sicher nie verlässlich. Ist das ernst gemeint - oder nur gereimt? Ein hoher Niedlichkeitsfaktor gilt in der Popkultur als Selektionsvorteil. Für den Film anything else wurde 2003 mit einem Bild der rehäugig-stupsnasigen Schauspielerin Christina Ricci geworben und natürlich nicht mit dem Konterfei des eher hässlichen Woody Allen. Und auch die schöne Jazzmusikerin Diana Krall hat einen Auftritt in dem Film. Ältere Herren verfallen leicht hübschen jungen Damen und die süßen Mädels erliegen schnell den Verlockungen des Ruhms oder Reichtums. Aber auf Dauer setzt sich auch in der Popkultur die Qualität durch. Die isländische POP-Avantgardistin Björk macht seit Jahrzehnten Musik und weiß sich als niedliche Kindfrau zu inszenieren, kann aber ebenso eine furiose Wildkatze sein. Ihr Talent erlaubt es ihr, sich in den verschiedensten Stilen und Kunstformen auszudrücken. So hat sie ihr letztes Elektropop-Album VOLTA dem vor 200 Jahren über die Wirkungen der Elektrizität in Lebewesen forschenden Physiker Alessandro Volta gewidmet. Um die Verbindungen von Technik und Kunst, Wissenschaft und Leben geht es ihr auch inhaltlich in ihrer Musik. Im Gegensatz zur Renaissance der Religionen plädiert sie entschieden für Atheismus und Mystik, Hedonismus und Autonomie. Als earth intruder hebt sie an: i have guided my bones / through some voltage / and loved them still / and loved them too ... Später erkennt sie ihn in: see who you are im Genuss des Fleisches: let's celebrate now all this flesh / on our bones / let you push you up against me tightly / and enjoy every bit of you.

Ebenfalls schon Jahrzehnte im Musikgeschäft ist die New Yorkerin Suzanne Vega, die ihre Karriere natürlich in Greenwich Village begann und gerade eine Hommage an ihre Stadt veröffentlicht hat: BEAUTY & Crime. Lustvoll preist sie in NEW YORK IS A WOMAN die Weiblichkeit der Stadt: New York City spread herself befor you / with her bangles and her spangles and her stars / you were impressed with the city so undressed / you had to go out cruising all the bars. Suzanne knüpfte an die Poesie des Folks Leonard Cohens an und führte ihn mit Blues und Jazz im POP weiter. In der nächsten Generation macht es ihr die auch im Village entdeckte Norah Jones nach. Auf ihrer letzten CD not too late wendet sie sich ganz in der Tradition Woody Guthries und Bob Dylans mit ihrem Brief an my dear country gegen die Unterwanderung der Demokratie durch die heuchlerische Interessenpolitik im Wahlkampf. Und die nicht minder niedliche und talentierte Katie Melua findet PIECE BY PIECE mit SPIDER'S WEB stimmungsvolle Metaphern gegen den Rassismus und für die Fortsetzung der Bürgerrechtsbewegungen: 'Cos the line between / Wrong and right, / Is the width of a thread / From spider's web. / The piano keys / Are black and white, / But they sound like / a million colours in your mind. Für mich spannt die georgische Musikerin damit den Bogen von Laotses sich selbst webendem Weg bis in die Zukunft einer humanistischen Weltgesellschaft. Innerhalb dieses im Altertum zur Zivilisierung der Kulturen gespannten Bogens wird in der Weltmetropole New York seit Asser Levy in der Politik die Bürgerrechtsbewegung und seit den Beats der Underground in der Popkultur gepflegt. Und wie die aufstrebenden Metropolen in Rotchina zeigen, lässt sich auch dort die Jugend von der Popkultur inspirieren und die Hoffnung besteht, dass sich westliche und ostasiatische Kulturen zu einer humanistischen Weltgesellschaft zivilisieren. Damit das jetzt aber nicht weiter zur Predigt wird, möchte ich mit Woody schließen: Er war genauso abgebrüht und romantisch wie die Stadt, die er liebte. Hinter seinen schwarzgeränderten Brillengläsern lauerte die geballte sexuelle Kraft einer Raubkatze aus dem Dschungel. New York war seine Stadt und würde es immer bleiben.


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Ingo Tessmann 2007-09-15