Nach dem grandiosen Erfolg Annie Halls fiel Interiors bei Kritik und Publikum gleichermaßen durch. Eine Tragödie hatte niemand vom Stadtneurotiker erwartet. Entsprechend groß war die Enttäuschung. Hatte man Woody vorschnell mit Alvy verwechselt? Gerhold hebt mit Recht hervor, dass Interiors die Dialog-Montage-Raum-Experimente aus Annie Hall fortführt und der Kameramann Gordon Willis die Innenräume als dialektische Kamerastudie von Nähe und Distanz, offenen und geschlossenen Räumen, Türen und Fenstern, Spiegeln und Korridoren komponiert, die Sackgassen und Fluchtwege konnotieren. In dieser erneut inszenierten existentiellen Spannweite zwischen Liebe und Tod, hatte Allen selbst vorsorglich nicht mitgespielt. Er hatte zu Recht befürchtet, die Zuschauer würden nur auf Lacher von ihm warten und den ernst gemeinten Inhalt nicht mitbekommen. Sein nächster Film Manhattan sollte wieder ein großartiges humoristisches Meisterwerk werden; wobei natürlich zu bedenken bleibt, dass Humor im Gegensatz zur Ironie aus Witzen besteht, die ernst gemeint sind. In dem an Fellinis Achteinhalb anknüpfenden Film Stardust Memories wird Allen dann 1980 seine filmästhetische Selbstreflexion zum Thema machen, um ironisch gebrochen sein künstlerisches Selbstverständnis gegen den naiven Publikumsgeschmack nach bloßer Unterhaltung zu behaupten. Fast ein viertel Jahrhundert später kommt er mit Melinda & Melinda 2004 auf den Gegensatz und das Zusammenspiel von Komödie und Tragödie zurück, indem er die gleiche Geschichte einmal aus heiterer, das andere Mal aus ernsterer Perspektive im selben Film erzählt. Die mit Annie Hall begonnene Abkehr von den Nur-Komödien und der Beginn mit einer Nur-Tragödie wird in den folgenden Werken Allens mehr und mehr zu einer Synthese der beiden Genres führen. Zu seinen ernsteren Arbeiten zähle ich:
Da es mir in diesem Essay nicht um eine filmästhetische Aufarbeitung der Werke Allens geht, sondern um
die in seinen Filmen inszenierte Lebens- und Existenzphilosophie in Orientierung an Nietzsche, werde ich
die folgenden Arbeiten des Filmkünstlers zunehmend unter literarisch-philosophischen Aspekten
kommentieren.
Mit MANHATTAN
bringt Allen 1979 eine brilliante Symphonie der Großstadt auf die Leinwand, die
viele für sein ultimatives Meisterwerk halten. Auch Gerhold vermag seine Begeisterung kaum zu zügeln:
Manhattan ist ein überwältigendes formales Ereignis, ein Traum in Breitwand und Schwarzweiß. Die
Kühnheit der Scopekompositionen, die Licht- und Schatteneffekte, die Möglichkeiten der Raumteilung, die
Akzentsetzung durch Grauwerte und die Musik als Handlungskonstituente: sie schaffen eine Bild-Ton-Symphonie,
eine Polyphonie der Stimmungen, wie es in der amerikanischen Literatur nur John Dos Passos mit
Manhattan Transfer (1925) gelang. Film und Stadt pulsieren gleichermaßen in den Stimmungen und
Rhythmen der Musik Gershwins: Wie Allen seine Lichter der Großstadt anzündet und den Liebesreigen
der Stadtneurotiker durch das Panorama der modernen urbanen Kultur führt, ist zu Recht gepriesen worden.
Gerhold findet aus dem Schwärmen kaum wieder heraus: Allens Witz ist weise, die Charaktere sind Menschen
aus Fleisch und Blut, die Handlung ist bis ins Detail durchstrukturiert, der optische Reiz der schwarzweißen
Cinemascope-Bilder ein visueller Genuß, die Dialoge ein intellektuelles Feuerwerk, die Balance zwischen
Scherz und Ernst durchgehalten, die Liebeserklärung an New York ein Crescendo an Bildern und Tönen und
die Musik von George Gershwin ein bleibender Kommentar zur Großstadt-Poesie, kurz: Allens hochfliegender
humaner Humor ergibt einen triumphalen Film, vielleicht Allens brilliantester, gewiß sein schönster.
Mit Manhattan wird gleichsam die Metropolis gefeiert, wie sie Dos Passos bereits 1925 skizziert hatte:
Einst gab es Babylon und Ninive, die waren aus Backstein gebaut. Athen prunkte mit vergoldeten
Marmorsäulen. Rom ruhte auf breiten Quaderbögen. In Konstantinopel flammen die Minarette wie große Kerzen
rund um das goldene Horn ... Stahl, Glas, Ziegel, Zement werden das Material der Wolkenkratzer sein: dicht
gedrängt auf der schmalen Insel ragen millionenfenstrige Gebäude, glitzernd, Pyramide auf Pyramide, wie die
weiße Wolkenkappe über dem Gewitter.
Der von Allen gespielte Isaac Davis steigt aus der luftigen Höhe seines Apartments herab wie Nietzsches Zarathustra aus seiner Berghöhle: Dies ist mein Morgen, mein Tag hebt an: herauf nun, herauf nun, du großer Mittag!- Also sprach Zarathustra und verliess seine Höhle, glühend und stark, wie eine Morgensonne, die aus dunklen Bergen kommt. Vor dem Breitwand-Hintergrund des Großstadt-Betriebes New Yorks braucht der zeitgenössische Autor Davis einige Anläufe, bis ihm eine ähnlich prägnante literarische Einleitung gelingt:
,,Kapitel eins. Er betete New York an. Er vergötterte New York über alle Maßen.`` Ach nein, es muß heißen: ,,Er, er schwärmte über alle Maßen von New York. Denn er sah diese Stadt, ganz gleich zu welcher Jahreszeit, immer noch in Schwarzweiß und ihr Leben pulsierte zu den unvergeßlichen Melodien von George Gershwin.`` Äh, ich fang lieber noch mal von vorne an ...
,,Kapitel eins. Er sah Manhattan in einem zu rosigen Licht - genauso wie alles andere. Er blühte auf im Gewühl und Gedränge der Menschen und Autos. Für ihn bedeutete New York schöne Frauen und ausgebuffte Typen, die alle Tricks drauf hatten.`` Nein, nein, kitschig, viel zu kitschig für meinen Geschmack. Also, ich will mal versuchen, es mit mehr Tiefgang zu machen.
,,Kapitel eins. Er betete New York an. Für ihn war die Stadt ein Gleichnis für den Verfall der Gegenwarts-Kultur. Der gleiche Mangel an persönlicher Integrität, der so viele Leute die bequeme Tour reiten ließ, verformte die Stadt seiner Träume rasch zu einer ...`` Nein, das wird zu sehr zur Predigt. Also, eigentlich, ehrlich gesagt, ich will ja hier ein paar Bücher los werden.
,,Kapitel eins. Er betete New York an. Obwohl die Stadt für ihn ein Gleichnis für den Verfall der Gegenwarts-Kultur war. Es war schwer, in einer Gesellschaft zu leben, die abgestumpft durch Drogen, lärmende Musik, Fernsehen, Kriminalität und Müll ... `` Das klingt zu zornig. Ich will nicht zornig werden.
,,Kapitel eins. Er war genauso abgebrüht und romantisch wie die Stadt, die er liebte. Hinter seinen schwarzgeränderten Brillengläsern lauerte die geballte sexuelle Kraft einer Raubkatze aus dem Dschungel.`` Das ist stark. ,,New York war seine Stadt und würde es immer bleiben.``
Nach den gewaltigen und detailreichen schwarzweiß Cinemascope-Panoramen Manhattans schwenkt die Kamera auf ein Schild mit der Aufschrift Elaine's, und wir sehen im Lokalbetrieb zwei Paare an einem Tisch beim Wein sitzen. Yale Pollack, ein Intellektueller, Dozent und Kritiker mit seiner Frau Emily sowie Isaac mit seiner jungendlichen Freundin Tracey. Der Intellektuelle redet gerade über das Wesen der Kunst: Yale: Ich glaube, das Wesen der Kunst besteht darin, verstehst du, Menschen eine Möglichkeit zu geben, äh, Situationen aufzuarbeiten, um so Gefühle kennenzulernen, von denen sie nicht wußten, dass sie sie überhaupt haben, weißt du. Ike: Talent ist Glückssache. Ich glaub, das wichtigste im Leben ist Mut. Emily: Und darüber streiten die sich seit zwanzig Jahren. Ja, der alte Gegensatz zwischen Kunst und Leben, Sprache und Gefühl. Männer reden über Gefühle und ästhetisieren sie, Frauen haben sie nicht nur beim Kunstgenuss. Ike's von Mariel Hemingway hinreißend gespielte Freundin ist erst 17 und muss am nächsten Tag eine Arbeit schreiben, und so brechen die Vier rechtzeitig auf. Auf der Straße paaren sich die Geschlechter und Yale macht seinem Freund ein Geständnis: Also, ich, ähem, ja ... ich hab da eine Frau getroffen ... Sie ist Journalistin ... sehr schön ... Sie ist, wie soll ich sagen, irgendwie nervös, hypersensibel und sie lässt sich nicht festlegen. Ike findet das wunderbar, merkt dann aber selbstkritisch an: Also weißt du, du, mich solltest du nicht um Rat fragen. Wenn es um Beziehungen zu Frauen geht, bin ich nämlich der Gewinner des August-Strindberg-Preises. In Allens Filmen wird natürlich nicht nur so dahergeredet. Der Mittvierziger Isaac ist zweimal geschieden und hat seine letzte Frau Jill an eine Frau verloren. Die Situation könnte dem Leben Strindbergs nachempfunden sein. Der schwedische Dramatiker weilte im Sommer 1888 auf Schloss Skovlyst bei Holte, wo er nicht nur eine Affäre mit der jungen Schwester des Verwalters hatte, sondern seiner Frau Siri auch noch ein lesbisches Verhältnis zu ihrer Freundin Marie David vorwarf. Und wie August gegenüber Marie tätlich geworden war, ging ebenso Ike gewaltsam gegen seine Nebenbuhlerin vor, indem er sie zu überfahren versuchte. Da Jill gerade an einem Buch über ihre Ehe mit ihm schreibt, befürchtet er nicht ganz zu Unrecht, dass sie ihn in aller Öffentlichkeit bloßstellen könnte.
Einige Tage später treffen Ike und Tracey in einer Kunst-Galerie Yale mit seiner neuen Fraundin Mary, von der er so geschwärmt hatte und die in großartiger Weise von Diane Keaton dargestellt wird. Während Ike und Tracey sich für die Photos in der Castelli Gallery unten begeistern konnten, die ihnen verdammt viel besser als dieser, dieser Würfel aus Stahl gefiel, fand Mary genau diesen einfach großartig: Ja, also, Čah, für mich wars reine Struktur. Verstehen Sie, was ich meine? Es war völlig in sich geschlossen und strahlte eine, eine, eine wunderbar negative Potenz aus. Den Rest von dem Zeug da unten kann man echt vergessen. Reine Scheiße. Die verbalen Misstöne zwischen ihnen werden noch verstärkt durch die Akademie der Überschätzten, die sich Yale und Mary ausgedacht hatten. Solche Geistesheroen wie Gustav Mahler, Isak Dinesen, C.G. Jung, Scott Fitzgerald, Lenny Bruce, Norman Mailer, Walt Whitman ... Da wird es Ike zu bunt und er unterbricht die beiden: Ich finde diese Leute alle großartig. Und als sie auch noch Heinrich Böll für überschätzt halten, wird Ike ironisch und schlägt vor, doch auch noch Mozart, Van Gogh und Bergman auf den Müll zu werfen. Bergman ist für Ike natürlich das einzige Genie des zeitgenössischen Kinos. Das hatte Mary von einem Fernsehshow-Autoren allerdings nicht erwartet: Sie sind doch das genaue Gegenteil. Ich meine, Sie schreiben doch diese wahnsinnig tollen Fernsehshows. Die sind so irrsinnig komisch, und sein Standpunkt ist so skandinavisch. So düster, mein Gott. Ich meine, dieser ganze Kierkegaard und so. Wirklich pubertär, verstehn Sie, dieser ganze modische Pessimismus. Ich meine, das Schweigen! Gottes Schweigen! Okay, okay, okay, ich meine, als ich noch in Radcliffe zur Schule ging, fand ich das ganz toll, aber, ich meine, da wächst man drüber hinaus. Und zwar vollkommen. Obwohl Ike auszurasten beginnt, setzt die Journalistin noch einen drauf: O nein, nein, nein, begreift ihr nicht, begreift ihr Kerle denn nicht, daß da nur die eigenen psychologischen und sexuellen Wehwehchen aufgemotzt werden, indem man sie mit solch großen philosophischen Fragen in Zusammenhang bringt? Darum geht es doch. Der Bergman-Fan sieht zu, dass er davon kommt und verabschiedet sich überstürzt. Anschließend sehen wir ihn mit seiner Freundin in einem Feinkostladen: Tracey: Ich glaub, sie war sehr nervös. Ike: Nervös? Sie war penetrant! Sie war ... einfach schrecklich. Sie war total ... verhirnt. Was bildet sich diese kleine Radcliffe-Mieze eigentlich ein, über Leute wie Scott Fitzgerald und Gustav Mahler und Heinrich Böll zu urteilen? Tracey: Ich versteh gar nicht, warum du dich so aufregst. Ike: Ich reg mich auf, weil ich dieses pseudointellektuelle Gelabere so hasse. Und wie preziös sie tut ... Also, wenn die noch eine Bemerkung über Bergman gemacht hätte, dann hätte ich ihr noch ne Kontaktlinse aus dem Gesicht gehauen. Tracey: Oh, ist sie eigentlich die Geliebte von Yale? Ike: Das verstehe, wer will. Wo der so eine tolle Frau hat, fummelt er mit diesem kleinen Yo-Yo rum, na, du weißt schon. Aber der, der war schon immer so ein Arsch und ist auf diese Zippen geflogen, diese Frauen, verstehst du, die ihn in Diskussionen über das existentielle Da-Sein verwickeln, verstehst du? Die hocken doch wahrscheinlich auf dem Fußboden herum, mit Wein und Käse, und sprechen Worte wie Allegorie und Eklektizismus falsch aus.
Ja, warum regte sich Ike eigentlich so auf? Hatte ihn Mary emotional erregt? Dann hätte er neben seiner zweiten Exfrau und einer viel zu jungen Freundin ein drittes Frauenproblem. Damit nicht genug, schmeißt er auch noch seinen gutbezahlten Job beim Fernsehen hin, um endlich mit dem Schreiben eines seriösen Romans beginnen zu können. Während die Ansprüche des Fernsehens gegen Null gehen, soll sein Buch vom Verfall der Werte handeln. Die Sache ist die, vor Jahren hab ich mal eine Kurzgeschichte über meine Mutter geschrieben unter dem Titel ,,die kastrierende Zionistin``. Und, äh, das will ich jetzt zu einem Roman ausweiten. Der Titel wäre sicher verkaufsfördernd und seine Kastrationsangst vielleicht der Grund für eine Überkompensation durch die geballte sexuelle Kraft einer Raubkatze, mit der er sein Buch ja schon einleitete. Raubkatzen, wie junge Löwen (,,blonde Bestien``), waren auch die Maskottchen Zarathustras.
Während Yale seine Ehe mit Emily nicht gefährden möchte und nur selten Zeit für Mary findet, trifft sich Ike immer häufiger mit ihr - und verliebt sich sogar in sie. Bei einem Ausflug werden sie von einem Gewitter überrascht und flüchten ins Planetarium: Ike: Los schnell, die Luft ist voller Elektrizität. Oder wollen Sie in einem Aschenbecher enden? Obgleich er sie für n bißchen kopflastig hält, ihm aber das Gehirn nur das zweitwichtigste Organ ist, wirkt sie auf ihn so durchnässt unheimlich sexy. Am liebsten hätte er sie sogleich auf die Oberfläche des Mondes geworfen und eine interplanetarische Perversion mit ihr begangen.
Tracey hat unterdessen das Angebot erhalten, für ein halbes Jahr nach London zu gehen, um dort an der Akademie für Musik und Darstellende Künste zu studieren. In einem Restaurant eröffnet sie ihm ihren Plan. Ike kommt das natürlich sehr gelegen und er rät ihr gönnerhaft-herablassend dazu, die Chance unbedingt wahrzunehmen. Zur Feier des Tages, hat sie einen Wunsch frei. Und was wünscht sie sich? Eine Kutschfahrt durch den Central Park! In der Abenddämmerung ist das höchst romantisch, aber für Ike natürlich voller Kitsch. Langsam entspannt er sich aber an der Seite seines süßen Mädels und lässt seinem Gefühl freien Lauf. Er nimmt sie in den Arm und sie küssen sich innig. Tracey hat ihn verzaubert: Wehr dich nicht immer! Du weißt doch, daß du verrückt nach mir bist. Ike: Ich bins. Du, du, du bist, sieh mal, du bist ... du bist Gottes Antwort an Hiob ... verstehst du? Du hättest den ganzen Streit zwischen den beiden beendet. Ich meine, er hätte einfach auf dich gezeigt und gesagt: ,,Ich mach ne Menge Mist, aber so was wie sie, kann ich auch machen.`` Verstehst du? ... Und dann, dann hätte Hiob gesagt: ,,Na gut, okay, du hast gewonnen!`` Unterdessen hatte Tracey gerührt ihren Kopf an seine Schulter gelehnt. Ergriffen küsst er ihre Hand. Kann es eine schönere Liebeserklärung geben?
Noch zwischen seinen beiden Freundinnen schwankend, wird Ike auf das gerade veröffentlichte Buch seiner Exfrau Jill aufmerksam: Ehe, Scheidung und das wahre Selbst. Seine Befürchtungen sollten sich als berechtigt erweisen, als er zu lesen bekommt: Er neigte zu Anfällen von Jähzorn, jüdisch-liberalem Verfolgungswahn, männlichem Chauvinismus, selbstgerechter Menschenfeindlichkeit und nihilistischen Stimmungen der Verzweiflung. Ständig jammerte er über das Leben, sah aber nie irgendeine Lösung. Er wollte nichts sehnlicher als ein Künstler sein, aber scheute davor zurück, die notwendigen Opfer zu bringen ... In seinen privatesten Augenblicken sprach er von seiner Todesfurcht, die er in tragische Höhen hochstilisieren wollte, und die doch in Wirklichkeit nicht mehr als der pure Narzismuß war.
Warum Ike dann rücksichtslos und überstürzt mit Tracey Schluss gemacht hatte, um mit Mary eine Liebschaft eingehen zu können, wird ihm wohl selbst nicht ganz klar geworden sein; denn schon bald nahm die Ex-Geliebte seines Freundes das Verhältnis zu ihm wieder auf und - Yale war diesmal sogar bereit, sich für sie scheiden zu lassen. Als Ike davon erfährt, stellt er seinen Freund umgehend zur Rede. Dafür sucht er ihn sogar in der Universität auf, so dass der im Hörsaal Überraschte Mühe hat, einen geeigneten Raum zu finden. Sichtlich verstört, drängt er ihn in einen Vortragssaal der Anthropologen. Neben einem Hominiden-Skelett stehend, kommt es zur Aussprache: Ike: Was erzählst du mir da, daß du, du, du ... Emily verlassen willst ... ist das wahr ... und, und mit dieser, dieser Hauptgewinnerin des Zelda-Fitzgerald-Preises für besondere Gefühlsreife durchbrennen willst? Yale: Hör zu, ich liebe sie. Ich hab sie immer geliebt. Ike: Oh, was für eine Sorte beknackter Freud bist du überhaupt ... Yale: Also, ich bin schließlich kein Heiliger, okay? Ike: Aber du ... du machst es dir ziemlich leicht mir dir ... siehst du das denn gar nicht? Weißt du, du ... du, das ist das Problem, das ist dein eigentliches Problem. Du rationalisierst alles. Du bist nicht ehrlich mit dir selbst ... Du, du betrügst Emily ein bißchen und du druckst mir gegenüber ein bißchen mit der Wahrheit herum ... und als nächstes, weißt du, stehst du vor einem Senatsausschuß und nennst Namen und denunzierst deine Freunde! Yale: Du bist so selbstgerecht, weißt du. Ich meine, wir sind auch nur Menschen, auch nur ganz normale Leute. Aber du denkst, du bist Gott. Ike: Ich muß ja schließlich irgend ein Vorbild haben. Yale: Also, man kann einfach nicht so leben wie du lebst, verstehst du. So perfektionistisch. Ike: Himmel, was werden zukünftige Generationen über uns sagen. O Gott! Weißt du, eines Tages ... (Ike weist auf das Skelett) ... werden wir so wie er hier sein. Ich meine, weißt d-d-du, äh, er war wahrscheinlich einer von den schicken Leuten ... Und jetzt? Also, so wirds uns auch gehen ... Weißt du, äh, es ist sehr wichtig, irgendwie ein Stück persönlicher Integrität zu bewahren. Weißt du eines Tages, werde ich, werde ich auch so in einem Hörsaal herumhängen. Und ... und ich will sicher gehen, daß man ... wenn ich mich dünn gemacht habe, gut von mir denkt. Mit keinem Geringeren als ,,Gott`` hatte sich schon Nietzsche verglichen; wenn auch im Wahn, während Allen Isaac moralisierend von persönlicher Integrität reden lässt. Verwirft er damit ebenfalls die Moral seiner Zeit aus - Moralität? In der Einleitung wollte er noch nicht predigen; drohte ihm nunmehr die Stadt seiner Träume durch den gleichen Mangel an persönlicher Integrität, der so viele Leute die bequeme Tour reiten ließ, umgeformt zu werden - ja, zu was? Zu Babylon?
Am Schluss des Films sehen wir Ike auf der Couch liegend etwas ins Mikrofon seines Recorders sprechen.
Eine Idee für eine Kurzgeschichte ... über, äh, pfff, Leute in Manhattan, die sich, äh, ständig,
diese wirklich überflüssigen, äh, neurotischen Probleme schaffen, weil es sie davon abhält, äh, sich mit den
unlösbaren, bedrohlichen Problemen, äh, des Universums zu beschäftigen. Äh, pff, es ist, äh ... also, es
müßte zuversichtlicher klingen. Also gut, was macht das Leben lebenswert? Das ist eine sehr gute Frage.
Äh, also, es gibt vermutlich gewisse Dinge, die das Leben lebenswert machen. Wie zum Beispiel, äh? Okay, ähm,
für mich ... äh ... Oh, also, ich würde sagen ... Was, Groucho Marx ... um nur ein Beispiel zu nennen, äh,
mhmmm, und ... Willie Mays, und ... äh, der zweite Satz der Jupiter Symphonie ... ähm, Louis Amstrong, die
Aufnahme von Potatohead Blues ... ähmm, schwedische Filme, natürlich, und die ,,Erziehung des
Herzens`` von Flaubert, äh ... Marlon Brando, Frank Sinatra, ähmm, diese unglaublichen Äpfel und
Birnen von Cézanne ... die Hummerkrabben ... bei Sam Wo ... pff, äh ... Traceys Gesicht ...
Mit dem Bild des liebreizenden Teenagers vor Augen, muss er sich eingestehen,- wie lebenswert doch das
Leben mit ihr war! Wie in Trance steht er auf und macht sich auf den Weg zu ihr ... Als er sichtlich außer
Atem endlich bei ihr ankommt, macht sie sich gerade auf den Weg nach London. Diesmal will er sie nicht fahren
lassen, sondern bittet sie inständig darum, doch zu bleiben: Tracey: Liebst du mich denn? Ike: Nun, ja,
darum bin ich, äh ... nun ja, natürlich, darum gehts ja überhaupt, weißt du. Tracey: Rat mal, was passiert
ist! Vorgestern bin ich achtzehn geworden. Ike: Wirklich? Tracey: Jetzt bin ich nicht mehr verboten, aber ich bin
immer noch ein kleines Mädchen. Ike ist gerührt, macht Witze und Komplimente,- aber: Also, ich
bin in sechs Monaten wieder zurück. Ike: Sechs Monate! Bist du wahnsinnig? Sechs Monate willst du wegbleiben?
Damit, was ihr alles widerfahren und was sie erleben könne in der neuen Umgebung, versucht er sie umzustimmen.
Aber sie ist trotz ihrer Jugend sehr viel reifer als er: Sieh mal, sechs Monate sind doch nicht so lange.
Nicht jeder wird verdorben, pfff. Schau, du mußt einfach ein bißchen an die Menschen glauben! -
Was für ein schönes Schlusswort, noch dazu aus dem Mund eines so süßen Mädels! Ike bleibt
mit seinem zweifelnden Gesichtsausdruck zurück. Noch hat er seinen Glauben an die Menschen (an dieses
Mädchen!) nicht verloren.
Mit Isaac Davis hatte Woody Allen wieder einen anspielungsreichen Namen für seinen Filmhelden und Buchautoren gewählt. Isaac verweist nicht nur auf die Schriftrollen, sondern bezieht sich auch auf die ethisch problematische Interpretation, die Kierkegaard der biblischen Geschichte gegeben hat. Und mit Davis und Mary nimmt Allen Bezug auf Marie David, die Freundin Siri Strindbergs. Ike's jugendliche Freundin Tracey lässt einen weiteren Bezug nicht nur auf Strindbergs Affäre im Schloss Skovlyst, sondern auch auf Allens eigene Liebschaften vermuten. Wie Carroll zu berichten weiß, hatte Woody während der Arbeit an Annie Hall eine Liaison mit Stacey Nelkin begonnen, an attractive teenage brunette actress featured in a short scene in which the grown up Alvy fantasised about a schoolhood girl he had always wanted to date but had never the courage to ask out. Stacey was a well kept secret from the public at the time, and has only ever spoken about the affair very briefly. But Woody was to immortalise her on the big screen in the form of Tracey, the teenage girl played by Mariel Hemingway, who has an affair with Isaac Davis in Manhattan. Auch Stacey scheint eine bereits weit entwickelte Persönlichkeit gehabt zu haben, wenn sie sich erinnert: I wasn't underage when I dated Woody. It was a real relationship and a mature one that was perfectly normal. We met on Annie Hall and became good friends. I was 17 and he was 41, but the age difference didn't come up. It was a non-issue. Einem Filmemacher mangelt es selten an reizenden jungen Damen, die ihm nachstellen, um Karriere zu machen. Da sich die Liebschaft mit Diane schon vor Annie Hall in eine Freundschaft verwandelt hatte, wird Woody wohl auch einige süße Schauspielerinnen genossen haben. In Stardust Memories, seinem nächsten Film, wird der Filmemacher die Situation parodieren, indem er Sandy Bates nach seiner Rückkehr ins Hotel unversehens ein schmachtendes Mädel in seinem Bett vorfinden lässt, das ihn zu einem Schäferstündchen drängt.