Nächste Seite: Komödie oder Tragödie? Aufwärts: Von der Geburt des Vorherige Seite: Die frühen Komödien   Inhalt

Weichenstellung und Durchbruch

In seinen frühen Sozialkomödien inszeniert Allen die bereits mit Pussycat eingeführten Themen und Probleme vornehmlich als lose Folge von Gags. Komik und Slapstick machen auch noch die abstraktesten metaphysischen Reflexionen verdaulich, die in Love and Death auf die Spitze getrieben werden, dabei aber immer an den Lebensgeschicken der Protagonisten gebunden bleiben. Mit Ausnahme des Episodenfilms Sex, stehen im Zentrum der Handlungen stets Paarbeziehungen:

Menschliche Grundprobleme des Zusammenlebens und des Weltverstehens werden bei Allen nicht durch intellektuelles Räsonieren gelöst, sondern nur in der Unübersichtlichkeit des wirklichen Lebens gemeistert. In Woody Allen and Philosophy ist vom pragmatischen Optimismus die Rede. Und Lee führt im Anschluss an seine Interpretation von Love and Death aus, that no amount of abstract intellectualizing will ever resolve the fundamental questions of human life, including

  1. Is it possible to create a deeply satisfying romantic relationsship with just one person?
  2. Is there one set of absolutely true moral principles, or is ethics simply a matter of opinion?
  3. Is there a God?
  4. What will happen to me when I die?

Mit Annie Hall (Der Stadtneurotiker) verlegt Allen 1977 den Focus seiner Filmkunst von den Nur-Komödien aus Gags und Slapsticks auf die Dramaturgie ernsthafter Lebensbewältigung, in der auch pessimistische Untertöne mitschwingen und kein happy end zu erwarten ist. Wie Woody über Allen ausführt, war Annie Hall eine Weichenstellung für ihn: Ich hatte den Mut, das Herumalbern und das sichere Parkett der Nur-Komödie aufzugeben. Ich sagte mir: ,,Ich möchte versuchen, einen ernsthafteren Film zu machen, und nicht mehr in einem fort komisch zu sein. Vielleicht wird daraus ja auch etwas, das das Publikum anspricht.`` Und es klappte. Das Drehbuch hatte Woody mit seinem Freund Marshall Brickman geschrieben, den er noch aus Comedian-Zeiten kannte. Unter dem Einfluss Bergmans stehend, verzichtete Allen weitgehend auf Filmmusik und verweist in seinem Film auf das Werk Von Angesicht zu Angesicht seines großen Vorbildes. Zu dem Gefühl, an einem Wendepunkt angelangt zu sein, und sich in Richtung realistischere und ernstere Filme entwickeln zu sollen, kam für Allen noch die Begegnung mit dem Kameramann Gordon Willis hinzu. Dramaturgie und Bildkomposition wurden fortan zunehmend verfeinert.

Die weibliche Hauptrolle hatte Woody wieder seiner Freundin Diane Keaton auf den Leib geschrieben und ihren richtigen Nachnamen sogar in den Titel aufgenommen. Mit ihrem Vornamen verweist er natürlich auf die Freundin Roquentins in Der Ekel Sartres. Als Arbeitstitel hatte Allen Anhedonia gewählt, um die Verachtung der reinen Lebensfreude in den intellektualisierten Paarbeziehungen zu thematisieren. Der von Woody dargestellte Ich-Erzähler Alvy Singer vereint nach Gerhold drei Bedeutungen in seinem Namen: a) die Slang-Worte alvin = einer, der leicht reingelegt werden kann, und singer = ein Lockvogel; die Ambivalenz verweist auf die Brüche in Alvys Charakter; b) Singer als Beweis seiner jüdischen Identität, wie im Namen des jüdischen Autors Isaac Bashevis Singer, und c) die wörtliche Übersetzung Singer = der Sänger, was ihn mit der Sängerin Annie Hall verbindet, die eine Wahl zu treffen hat: Mrs. Alvy Singer zu werden oder eine Sängerin (singer) mit eigener Karriere zu bleiben.

Der Film beginnt, indem Alvy das Publikum direkt mit zwei Witzen anspricht. Das gibt dem Film einen Anklang von Unmittelbarkeit und Direktheit, wie Björkman hervorhebt. Genau das war auch Woodys Absicht: Es umreißt die Idee des Films. Ich spürte instinktiv, daß ein Bild, in dem ich das Publikum direkt ansprach und über mich und meine Probleme erzählte, die Leute interessieren könnte, denn wahrscheinlich haben viele Leute im Publikum diegleichen Gefühle und Probleme. Ich wollte sie direkt damit konfrontieren. Als Leitmotiv hebt der Autor das problematische Verhältnis zwischen Realität und Phantasie hervor; ganz so wie es auch sein wirkliches Leben geprägt hat. Für Lee ist der Film deshalb geradezu als therapeutische Autobiographie anzusehen: Annie Hall was Allen's breakthrough film. It introduces, for the first time in a serious manner, many of the most important philosophical themes that would concern Allen throughout the next two decades. These themes include the following:

  1. preoccupation with existential issues of freedom, responsibility, anguish, guilt, alienation and the role of the outsider; bad faith; and authenticity;
  2. obsession with the oppressiveness of an awareness of our own morality;
  3. concern obout issues relating to romantic love, sexual desire and changing cultural gender roles; and
  4. interest in, and suspicion of, the techniques of Freudian psychoanalysis as a method for better understanding human thinking and behavior.

While many of the elements of the book and spirit of Annie Hall are present to Allen's earlier work, especially in Play it again, Sam, it is in Annie Hall that it all comes together most satisfyingly. The organization of Annie Hall may be viewed as a series of therapy sessions with Alvy Singer (Woody Allen) as the patient and the audience as analysts.

Den Auftakt zur gemeinsamen Analyse seiner Lebenssituation spricht Alvy Singer direkt in die Kamera: Es gibt da einen alten Witz. Äh: Zwei ältere Damen sitzen in einem Catskill-Berghotel - sagt die eine: ,,Gott, das Essen ist hier wirklich schrecklich!``- sagt die andere: ,,Stimmt, und diese kleinen Portionen!`` - Naja, und im wesentlichen sehe ich so auch das Leben. Voll Einsamkeit und Elend und Leid und Kummer. Und dann ist es auch noch so schnell vorbei. Ein ... mein anderer Lieblingswitz ist der, den man äh Groucho Marx zuschreibt ... äh: ,,Ich möchte nie einem Club angehören, der Leute wie mich als Mitglieder aufnimmt.`` Das ist der Schlüsselwitz für mich, seit ich erwachsen bin, was meine Einstellung zu Frauen angeht. Nach einigen verbalen Umwegen und Ablenkungsmanövern kommt Alvy mit einem Seufzer endlich auf den Punkt: Annie und ich, wir haben uns also getrennt - und ich krieg das noch immer nicht in den Kopf. Ähnlich wie in Money und Love and Death beginnt der eigentliche Film mit der Aufarbeitung der Lebensgeschichte des Helden, ganz so wie es die Psychoanalyse in ihrer Gratwanderung zwischen kontrolliertem Realitätssinn und freiem Assoziieren verlangt. Welche Erinnerungen sind wirklich authentisch, welche frei erfunden? Werden nicht alle Erinnerungen in Verbindung mit neuen Lebenserfahrungen immer wieder zu einer angepassten Biographie zusammengefügt; das Leben nicht nur hinsichtlich seiner Zukunft, sondern auch aus seiner Vergangenheit heraus jeweils neu entworfen? Günter Grass hat einmal davon gesprochen, dass wir stets in einer ,,Vergegenkunft`` lebten. Wie ehrlich bzw. wahrhaftig kann man dabei sich selbst gegenüber sein? Entzieht sich nicht die Lebensfülle jeglicher ernstgemeinten Rationalisierung, auch wenn sie paradox in Witzen alter Damen oder Groucho Marxens verkleidet wird? Sartre hatte die Vergeblichkeit der Liebe auf den existentiellen Punkt gebracht: Lieben heißt, eine Freiheit besitzen wollen. Und deshalb musste Annie, nachdem Alvy ihr zur Freiheit verholfen hatte, ihre eigenen Wege gehen.

Die Gelegenheiten eines erweiterten Lebenshorizonts haben ihren Ursprung in der Vervielfachung von Möglichkeiten im vergrößerten Ereignishorizont des sich immerfort ausdehnenden Universums. Als Kind hat Alvy diesen Zusammenhang noch nicht durchschaut. Er wird depressiv und verweigert die Hausaufgaben für die Schule, als er von der Ausdehnung des Universums erfährt. Mutter Singer sucht besorgt einen Arzt auf: Das Universum! Was geht dich das Universum an! Du bist hier in Brooklyn - und Brooklyn dehnt sich nicht aus! Der Arzt pflichtet ihr bei: Und wird sich nicht ausdehnen. Nicht in Milliarden von Jahren, klar, Alvy? Wir müssen unser Leben genießen, solange wir hier sind. Na? Das Leben genießen? Alvy erinnert sich an den Lehrkörper seiner Schule: Wer nichts kann, wird Lehrer - und bei wems zum Lehrer nicht reicht, der wird Sportlehrer. Und hm ja, die überhaupt nichts konnten, die, schätze ich, waren an unserer Schule. Die Neigungen des Knaben zum anderen Geschlecht finden denn auch bei dem Lehrkörper wenig Verständnis. Als er das zweite Mal ein Mädchen küsst, wird er von der Lehrerin scharf zurechtgewiesen: Du solltest dich schämen! Allen parodiert die spießbürgerliche Schulsituation, indem er sich als Erwachsener in die letzte Reihe der Klasse setzt und sich an die Lehrerin wendet: Wo ich doch nur eine gesunde Neugier an der Welt des Sex gezeigt habe. Die Paukerin ist da ganz anderer Meinung: Sechsjährige Knaben haben doch nichts mit Mädchen im Sinn. Und ein Mädchen sekundiert in altkluger Manier: Um Himmelswillen, Alvy, selbst Freud spricht von einer sexuellen Latenzphase. Tja, grau ist alle Theorie und bunt das wirkliche Leben. Aus Alvy ist jedenfalls ein Komiker geworden und wir sehen ihn bei einem Fernsehauftritt: Übrigens nahmen sie mich beim Militär nicht. Ich wurde - ich finde das interessant - ich wurde äh ... ich wurde als AGV eingestuft. Der Moderator fragt nach: AGV? Und Alvy erklärt: Ja. Im ... im ... Kriegsfall bin ich ,,Als Geisel Verwendungsfähig``

Ein Komiker kann mit Witzen die Wahrheit sagen und das Publikum dabei auch noch unterhalten. Gar nicht witzig findet es Alvy allerdings, wenn seine Freundin zu spät ins Kino kommt. Von Angesicht zu Angesicht steht auf dem Programm. Aber leider hat der Film schon vor zwei Minuten angefangen als die beiden die Kasse erreichen. Mittendrin kann ein Filmliebhaber da natürlich nicht mehr reingehn. Alvy schlägt einen anderen Film vor: Le Chagrin et la Pitié. Für Annie ist das aber nur eine vier Stunden lange Dokumentaion über Nazis, die sie zudem schon gesehen haben. Gleichwohl finden sie sich in der Warteschlange des anderen Kinos wieder und geraten vor einen theoretisierenden Filmkritiker, der erst über Fellini herzieht (einer der exzessivsten Filmemacher) und dann über Beckett (ich finde die Technik wunderbar) auf McLuhan zu sprechen kommt (ein heißes Medium im Gegensatz zu ... ). Aber da wird es Alvy zu bunt. Obwohl er sich gerade mit Annie über ihr sexuelles Problem auseinandersetzt, zieht er den echten McLuhan hinter einer Plakatwand hervor und lässt ihn die Auslassungen des Pseudo-Intellektuellen kommentieren. Das Urteil des Gelehrten fällt vernichtend aus und Alvy wendet sich mit Genugtuung an die Kamera: Jungejunge, wenns nur im Leben auch so zuginge! Im Kino folgt nach dem Vorspann über die Chronik einer französichen Stadt während der Besatzung eine Stimme aus dem Off: Am 14. Juni 1940 besetzt die deutsche Armee Paris. Im ganzen Land sind die Leute verzweifelt nach Informationen aus.- Welch ein Übergang von der Medientheorie in der Spaßgesellschaft, in der bereits das Medium zur Botschaft wurde, zur Verzweiflung am Informationsmangel in Kriegszeiten!

Die Konfrontation zwischen Lebensernst und Unterhaltungsspaß greift Woody im folgenden Bettgespräch wieder auf: Alvy: Mein Gott, diese Leute von der französischen Resistance haben vielleicht was aushalten müssen. Sell dir vor, jeden Tag die Chansons von Marice Chevalier. Annie: I-ich weiß nicht, ich frag mich manchmal, ob ich unter der Folter durchhalten würde. Alvy: Du? Du Schäfchen? Wenn die Gestapo sich deine Bloomingdale's Kreditkarte geschnappt hätte, hättest du ihnen schon alles gesteckt. Annie: Von dem Film krieg ich Schuldgefühle. Alvy: Klar, ist ja auch der Sinn der Sache. Mitleid und Gewissensnot erhöhen nur das Leid in der Welt. Da ist es allemal besser, auch die Gesellschaftskritik unterhaltsam in subversiven Humor zu kleiden. Alvy erinnert einen Auftritt, bei dem er eine spätere Freundin kennengelernt hatte: Allison Porchnik, die gerade an ihrer Dissertation über das Politische Engagement in der Literatur des 20. Jahrhunderts arbeitete. Für den Stadtneurotiker war sie damit so eine New Yorker jüdisch linksliberal intellektuell Central Park West Brandeis University, äh: sozialistische Sommer Camps ... Und so eine von der streikfreudigen Art. So eine wie Nancy eben. Aber warum ging die Romanze mit Allison einfach wieder vorbei? Wir sehen Alvy mit ihr im Schlafzimmer in einem intellektuellen Disput verstrickt, in dem er sich über die Ermordung JFK's, die heruntergekommene Moral der Politiker und die Machenschaften des militärisch-industriellen Komplexes empört. Allison dagegen beklagt, dass er seine verbalen Ausschweifungen nur als Entschuldigung dafür liefere, mit ihr keinen Sex mehr haben zu wollen. Da fällt es Alvy plötzlich wie Schuppen von den Augen und er wendet sich an die Kamera: Sie hat recht. Warum konnte ich mit Allison Porchnik nicht mehr? Sie war, sie war hübsch. Sie machte mit. Sie war wirklich intelligent. Ist es das alte Spielchen von Groucho Marx: daß ich, daß ich bei keinem Club sein möchte, der Leute wie mich als Mitglieder aufnimmt?

Nachdem Alvy und Annie gemeinsam Szenen ihrer Entwicklung kommentierend vorgeführt haben, sehen wir den Stadtneurotiker mit seiner zweiten Exfrau Robin auf einer Party. Statt sich dem pseudo-intellektuellen Gelaber auszusetzen, zieht sich Alvy aber lieber ins Schlafzimmer zurück, um sich ein Basketballspiel anzusehen. Als Robin ihn findet und seine Sportbegeisterung moniert, bricht er eine Lanze für die Körperlichkeit, die im Sport dominiere: Verstehst du, das eine sind die Intellektuellen, sie sind der Beweis dafür, daß man absolut brilliant sein kann, ohne die geringste Ahnung zu haben, wos eigentlich langgeht. Auf der anderen Seite hast du den Körper. Der Körper, wie wir jetzt erst wissen, lügt nicht! Er will sie aufs Bett ziehen und sich über sie hermachen: Während alle diese Philosophiedoktores dort drin reden und reden über Entfremdungstendenzen - und wir rammeln hier in der Stille. Robin: Alvy nicht! Du benutzt Sex nur, um deine Wut auszudrücken! Alvy: Hm, ,,Warum mußt du immer meine animalischen Triebe auf psychoanalytische Kategorien r-r-reduzieren``, sagte er, während er ihr den BH auszog. Aber seine Frau entzieht sich ihm.- In einer weiteren Bettszene ihrer Ehe bleibt Alvy mit seiner ein Zelt aufspannenden Erektion ebenso frustriert zurück: Robin: Ich kann nicht. Alvy: Was ... Robin: Mein Kopf platzt gleich. Alvy: Ach so, du hast Kopfweh! Robin: Ich habe Kopfweh! Alvy: Schlimm? Robin: Wie Oswald in Ibsens Gespenster. Kopfschmerzen zu haben, wie Oswald in Ibsens Gespenster, ist natürlich starker Tobak; kündeten sie doch von einer beginnenden syphilitischen Paralyse ...

Annie hatte Alvy beim Tennis kennengelernt. Anschließend lud sie ihn zu sich ein und die Rückblende auf ihr erstes Gespräch ist wahrlich doppelbödig, da Woody den gesprochenen Dialogen als Untertitel jeweils die wahren Gedanken einblendet. Am Schluss gesteht sie ihm, dass sie am Samstagabend in einem Nachtclub vorsingen müsse. Da ist er natürlich dabei und es ist ihm, als singe sie nur für ihn:

It had to be you

I wandered around

And finaly found

The somebody who

Could me make be true

Could me make be blue

And even be glad

Just to be sad

Thinking of you ...

Ihr erster Auftritt nimmt zwar Alvy für sie ein, geht aber am Publikum einfach vorbei. Mit einer ihrer weiteren Darbietungen ist sie schon wesentlich erfolgreicher. Die wird nicht nur mit Applaus bedacht, sondern auch von einem kalifornischen Plattenproduzenten bemerkt, der sie sogleich nach Los Angeles einlädt. Den Beginn ihrer Karriere an der vom Kulturverfall heimgesuchten Westküste hat Woody zugleich als Abgesang auf die Liebe zu Alvy im intellektuellen New York komponiert:

Seems like old times

Having you ... to walk with

Seems like ... old times

Having you to talk with ...

Staying up all hours

Making dreams come true

Doing things we used to do

Seems like old times

Here with you.

Zwischen diesen beiden stimmungsvollen Wendepunkten des Films entwickelt Woody den Fortgang ihrer Romanze in wiederholten Rückblenden und Zwischenschnitten sowie parallel auf geteilter Leinwand. Annies ,,Erziehung`` vom naiven Landei zur Großstadt-Intellektuellen beginnt natürlich in einer Buchhandlung. Alvy greift sich zwei Bücher aus dem Regal: Death and Western Thought und The Denail of Death. In der Verleugnung des Todes kritisiert der Autor Ernest Becker im Anschluss an Kierkegaard und Heidegger die Flucht vor dem Leben zum Tode in die pseudo-authentischen Scheinwelten des ,,Heldentums`` und der ,,Spiritualität``. Der Stadtneurotiker ist geradezu besessen vom Tod: Das ist eine große Sache für mich und ... Im wirklichen Leben bin ich nämlich ein ziemlicher Pessimist, das solltest du wissen über mich, wenn wir schon zusammen ausgehen. Für mich zerfällt das Leben in zwei Teile: ins Entsetzliche und ins Elende ... Nach dieser Empfehlung grundlegender Literatur hat Annie natürlich immer wieder das Gefühl, ihm nicht schlau genug zu sein, zumal Alvy die Erwachsenenbildung für eine gute Sache hält: Du kommst mit einem Haufen interessanter Professoren zusammen. Und weißt du, so was ist ungemein anregend. In der Tat! Annie findet besonders einen Professor höchst symphatisch und Alvy ist - empört: ... Inzwischen hast du ein Techtelmechtel mit deinem College-Professor. Mit diesem Knilch, der diesen unglaublichen Stuß verzapft von wegen ,,Die gegenwärtige Krise des westlichen Menschen``. Annie: ,,Grundmotive der russischen Literatur`` - ist ja fast dasselbe. Alvy: Allerdings. Wo ist denn da der große Unterschied? Alles geistige Masturbation. Annie: Ah, na also. Endlich ein Thema, von dem du was verstehst. Alvy: Hey, sag nichts gegen Masturbation! Das ist nämlich Sex mit jemand, den ich mag. Annie: Wir haben kein Techtelmechtel. Er ist nämlich verheiratet, aber er findet mich dufte. Alvy: Dufte! Das, das ist doch ... Bist du 12 oder was? Das ist doch einer von deinen Chippewa-Falls-Sprüchen ... Vergeht Liebe einfach? Sollte sie besser unreflektiert bleiben? Annie und Alvy verschlägt es jeweils zum Analytiker, denen sie den Verlust des Spaßes bzw. des Lachens in ihrer Beziehung beklagen. Psychologisch geleutert bringt Annie ihre Kritik am Stadtneurotiker auf den Punkt der Anhedonia: Alvy, du bist unfähig, das Leben zu genießen. Weißt du das eigentlich? Das heißt ... ich will damit sagen: Du bist wie New York City. Du bist exakt ... der Typ dafür. Du bist wie ... du bist selber eine Insel.

Am Ende hält es Annie nicht lange aus in Kalifornien und Alvy kommentiert ihre Situation: Sie war wieder nach New York gekommen. Sie lebte in Soho mit irgendeinem Typen. Als ich ihr übern Weg lief, schleppte sie ihn ausgerechnet in Le Chagrin et la Pitié. Das hab ich als persönlichen Triumpf genommen. Nach einem Treffen mit ihr im Café, zieht Alvy das Fazit seiner vergangenen Liebe: Danach ist es ziemlich spät geworden. Wir beide hätten eigentlich weg müssen, aber es war halt grandios, wieder Annie zu sehen, klar. Ich hab mir klargemacht, was für eine ungeheure Persönlichkeit sie ist und was für eine Freude es war, sie nur schon zu kennen, und da mußte ich an den alten Witz denken ... und zwar den, wo der Mann zum Psychiater rennt und sagt: ,,Doktor, mein Bruder ist meschugge. Er denkt, er ist ein Huhn.`` Und der Doktor sagt: ,,Und warum bringen sie ihn dann nicht ins Irrenhaus?`` Und der Mann sagt: ,,Würd ich schon, aber ich brauch ja die Eier!`` ... Naja, und ich schätze, daß das so ziemlich meinem Gefühl entspricht, was Beziehungen betrifft. Also, die sind total irrational, bescheuert und absurd und - aber ich glaube, äh, wir machen den Stiefel deswegen weiter mit, weil, äh, weil die meisten von uns eben die Eier brauchen.

Die Beziehungskomödie Annie Hall wurde bei Kritik und Publikum ein großer Erfolg. Damit hatte Allen die Freiheit gewonnen, als nächstes einen Film ganz nach seinen ästhetisch-philosophischen Vorstellungen zu drehen: Interiors war eine Sache, die ich tun wollte, und es war das Beste, zu dem ich zum damaligen Zeitpunkt fähig war. Ich wollte mich im Bereich des dramatischen Films ein bißchen einarbeiten. Obwohl es Woodys erstes Drama war und es ihm folglich noch ein wenig an Geschick und Erfahrung mangelte, strebte er bereits die höchste Form des Dramas an. Wie er Björkman weiter erzählte, hatte er von einem Vorfall gehört, wo ein Mann am Frühstückstisch mit sehr gesetzten Worten und ganz Gentleman mitteilt, daß er endlich abhauen wird. Und die Mutter stand auf, ging in ihr Zimmer und brachte sich um. Ein weiteres Motiv für Interiors (Innenleben) findet sich auch in Bergmans Herbstsonate, die ebenfalls 1978 in die Kinos kam. Und die drei Schwestern Flyn, Joey und Renata nehmen natürlich die Konstellation bei Tschechow auf. Dabei ging es Allen aber nicht nur um Drei Schwestern, sondern um die Beziehungen zwischen Frauen schlechthin. Die Dramaturgie, mit der Bergman in Schreie und Flüstern 1973 die Handlung zwischen Agnes, Karin und Maria sowie dem Dienstmädchen Anna inszeniert hatte, gefiel Allen in besonderer Weise.

Ähnlich wie Bergman hat auch Allen eine Vorliebe für die Eigentümlichkeiten von Frauenbeziehungen - und für den Tod: Schreie und Flüstern handelt vom Krebstod der Schwester Agnes und Interiors inszeniert die Vorgeschichte des Freitods der Mutter Eve. Ihre künstlerisch talentierte Tochter Renata wird von Diane Keaton verkörpert, die damit gleichsam die dunkle Seite Annie Halls ergänzt. Von den hohen Ansprüchen der Mutter erdrückt wird die unbegabte, aber gefühlvolle Tochter Joey; ein Motivstrang, der das Hauptthema in Herbstsonate bildet. Die dritte Schwester Flyn arbeitet als Fernsehschauspielerin und bleibt so indifferent wie die Serienfiguren, die sie spielt: kaum mehr als schöner Schein: Form ohne Inhalt. So scheint es jedenfalls. Für Gerhold stellen die drei Schwestern drei verschiedene Aspekte des Körper-Geist-Seele-Konflikts dar. Jede auf ihre Weise, versucht sich selbst zu verwirklichen, aber nur der talentierten Lyrikerin Renata scheint es zu gelingen. So sehen es jedenfalls ihre Schwestern. Aber auch künstlerische Produktivität erlöst nicht von der Tragödie des Todes. Ist Religion nur Philosophie fürs Volk, so ist Kunst bloß Unterhaltung für Intellektuelle. Herbstsonate ist der musikalischen Form einer Sonate nachempfunden, während Allen die Innenräume seines Films nach der geometrisch-farblichen Gestalt der Innenarchitektur komponiert. Die Titelbedeutung variiert er dabei in dreifacher Weise. Zum einen ist Eve Innenarchitektin und kompensiert ihre innere Leere durch Ersatzhandlungen mit Inneneinrichtungen, durch die sie in subtiler Weise ihre Familie beherrscht. Zweitens sind die Erlebnisräume des Innenlebens der Akteure gemeint, die in kunstvoll gestalteten Bildkompositionen von Blicken durch Fenster bis hin zu Spaziergängen am tosenden Meer reichen. Und schließlich geht es Allen noch um die inszenierten Räume des schönen, künstlichen Scheins, in denen jede ihre Verzweiflung zu verstecken sucht.

Interiors beginnt sehr schön und suggestiv mit dem leeren Bild des Hauses am Strand und den Zimmern der Villa, was gut auf den Film einstimmt, wie Björkman betont. Allen wollte mit diesen Bildern wie Stilleben gleich zu Anfang einen bestimmten Rhythmus vorgeben. Zu Beginn wie am Schluss stehen die Schwestern vor einem Fenster und blicken hinaus aufs Meer. Damit verdoppelt der Filmkünstler gleichsam die Sichtweise aus der Innen- in die Außenwelt. Und das Meer als Symbol für die Gefühlsströme ist einmal rauschend aufgewühlt und bedrohlich unter dunklen Wolkenbergen, ein anderes Mal lieblich haranplätschernd zwischen hellen Wolkenschatten glitzernd. Nach den einstimmenden Innenräumen und Ausblicken wechselt die Szenerie unerwartet auf ein Bild mit dem Vater Arthur vor seinem Bürofenster: Die Wahrheit ist ... sie hatte um uns eine Welt geschaffen, in der wir lebten ... in der alle Dinge ihren festen Platz hatten, in der immer irgendwie Harmonie herrschte. Oh ... mit großer Würde. Ich will sagen, es war wie ein Eispalast. Dann plötzlich, eines Tages, öffnete sich aus dem Nichts heraus ein riesiger Abgrund zu unseren Füßen. Und ich sah mich in ein Gesicht starren, das ich nicht wiedererkannte. Wie bei einer Eisschmelze das Wasser, gerieten fortan die Gefühle in Fluss.

Als Arthur seiner Frau am Frühstückstisch erklärt, dass er ausziehen wolle, um endlich einmal an sich selbst zu denken, bricht für sie eine Welt zusammen. Für ihn ist es zunächst nur eine vorübergehende Trennung. Sie aber kann nicht allein sein. Ohne die Objekte ihrer geometrischen Ordung in der Außenwelt fällt sie in die Leere ihres Innenraumes. Wie soll sie ohne Einfühlungsvermögen noch Macht über ihre Familie ausüben? Eve verzweifelt und wird depressiv, während Arthur endlich einmal nach seinen eigenen Vorstellungen glücklich zu werden hofft. Eve's Lieblingstochter Renata wird ebenfalls aus der Bahn geworfen und in ihrem Selbstvertrauen erschüttert. Sie erfährt eine Gefährdung durch Desillusionierung, Frustration und Schreibblockaden, die sich in sonderbarste Empfindungen äußern: Es war, als hätte ich eine plötzliche ... deutliche Vision, in der alles irgendwie ... schrecklich ... und mörderisch schien. Es war, als ob ich hier wäre und die Welt dort draußen - und ich konnte uns nicht zusammenbringen ... Ich bin meines Körpers plötzlich überdeutlich bewußt geworden. Ich konnte mein Herz schlagen hören und habe mir eingebildet, daß - ich das Rinnen des Blutes durch meine Adern spüren konnte und ... durch meine Hände und in meinem Nacken. Oh ... ich fühle mich schutzlos preisgegeben. Wie eine Maschine, die funktioniert, aber jeden Augenblick kaputtgehen kann. Die mit in den Strudel der Gefühle hinein gerissenen Männer der Schwestern, blühen erst wieder auf, als Arthur ihnen seine neue Frau Pearl vorstellt, die er während eines Griechenland-Urlaubs kennengelernt hatte. Mit ihr weht gleichsam die Sonnenwärme der Lebensfreude in den Eispalast der Anhedonia. Den aufeinander abgestimmten Pastelltönen und Graustufen der Innenräume und Kleidung kontrastiert ein grelles Rot und zartes Pink. Erstmals im Film wird Musik gespielt und ausgelassen getanzt. Im Gegensatz zu Renata und Eve ist für Pearl der Körper nichts Bedrohliches und Sterbliches, sondern der Hort von Lust und Lebendigkeit.- Am Ende verschwindet Eve im tosenden Meer und nach der Trauer um sie, eröffnen sich der Familie neue Erlebnisräume. Arthur wird in Freude mit Pearl seinen Lebensabend genießen können und die Töchter haben nach dem Freitod der Haustyrannin eine neue Mutter bekommen, die sich lebensfroh und einfühlsam ihrer annimmt. Für Joey, die besonders unter den Überforderungen ihrer Mutter gelitten hatte, beginnt geradezu ein neues Leben. In der letzten Einstellung versammeln sich die drei Schwestern vor einem Fenster und blicken ahnungsvoll in die Ferne ...


Nächste Seite: Komödie oder Tragödie? Aufwärts: Von der Geburt des Vorherige Seite: Die frühen Komödien   Inhalt
Ingo Tessmann 2007-04-15