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Perspektiven einer nihilistischen Zivilisierung

Nietzsche knüpfte an die logische Strenge Spinozas, den Esprit Voltaires und die Spottlust Heines an; gegenüber der deutschen Kultur favorisierte er die französische Zivilisation. Und auch Allen versteht sich als aufgeklärter Stadtbürger (civis) New Yorks, dem Athen der Spätmoderne. Die Zivilisierung der vielfältigen nationalen Kulturen zu Weltbürgern und Freigeistern kann exemplarisch an der Entwicklung des Forts Amsterdam zur heutigen Weltmetropole New York verfolgt werden. Anlässlich ihres 300sten Geburtstages wurde 1924 im Battery Park ein Monument aufgestellt, auf dem folgende Inschrift zu lesen ist:

PRESENTED TO THE CITY OF NEW YORK

BY THE CONSEIL PROVINCIAL DU

HAINAUT IN MEMORY OF THE WALLOON

SETTLERS WHO CAME TO AMERICA IN

THE NIEU NEDERLAND UNDER THE

INSPIRATION OF JESSE DER FOREST OF

AVESNE, THEN COUNTRY OF HAINAUT

ONE OF THE 17 PROVINCES


Infolge des revolutionären Jahrhunderts in England und des ruinösen 30jährigen Religionskrieges auf dem Kontinent, wanderten im Fahrwasser der ersten 32 holländischen und wallonischen Familien schon bald weitere Flüchtlinge aus Deutschland, England und Schottland nach Fort Amsterdam aus. Um 1647 zählte die Siedlung um die Festungsanlage etwa 300 Einwohner. Bereits 1655 startete der jüdische Einwanderer Jacob bar Simson (Asser Levy) unter Governor Peter Stuyvesant die erste Bürgerrechtsbewegung zur Gleichberechtigung der Juden. 1774 begehrten die New Yorker während der Tea Party gegen die Engländer auf und leiteten damit die amerikanische Unabhängigkeit ein. Zwischen 1840 und 1860 schnellte die Bevölkerung Manhattans durch die große Einwanderungswelle Deutscher und Iren von 300 auf 800 Tausend hoch. Nach dem zweiten Einwanderungsschub vor allem osteuropäischer Juden wuchs die Einwohnerzahl New Yorks in Verbindung mit der Eingemeindung der umliegenden Stadtgebiete auf 3,5 Millionen an und machte die Metropole um 1900 zur größten Stadt der Welt.

1961 zog Robert Zimmermann (Bob Dylan) in Greenwich Village ein, um an die gewerkschaftliche Folktradition Woody Guthries anzuknüpfen. Im Zuge der zweiten Bürgerrechtsbewegung zur Gleichberechtigung der Schwarzen wurde 1965 in Harlem der Black Panther Aktivist Malcom X erschossen. In der Christopher Street des Village' demonstrierten am 28. Juni 1969 die Homosexuellen für ihre Gleichberechtigung; einem Tag, an den bis heute in den aufgeklärten Großstädten der Welt mit Umzügen erinnert wird. 1970 kam es im Village zu einer versehentlichen Bombenexplosion in der Sprengstoffwerkstatt der Weathermen, einer Protestbewegung, die den Gewaltausbrüchen der Staatsmacht und den gedungenen Mördern des militärisch-industriellen Komplexes mit gezielten Attentaten begegnen wollte. Ihren Namen bezogen die Protestler auf eine Liedzeile Dylans: Don't ask the weatherman where the wind blows.

1972 ist das World Trade Center I mit 411 Metern Höhe und 110 Stockwerken das höchste Gebäude der Welt. In Verbindung mit dem zweiten Turm wird der Zwillingsbau des WTC zum Blickfang der Skyline New Yorks und nach dem Zerfall der Sowjetunion zu einem Symbol der kapitalistischen Vormachtstellung der USA in der Welt. Am 11. September 2001 wird es durch einen spektakulären doppelten Terroranschlag mit vollbetankten Linienflugzeugen von Religionsfanatikern zum Einsturz gebracht.- Welch eine Ironie der Geschichte; denn vor religiösem Fundamentalismus waren die Siedler Nordamerikas im 17. Jahrhundert gerade geflüchtet. Und angesichts der revolutionären Ereignisse in England, hatte Hobbes bereits 1651 im Leviathan vor den Gefahren des Terrors gewarnt. Da mit dem Anschlag vom 11. September rund 3000 Menschen aus über 60 Ländern ums Leben kamen, kann der islamistische Terrorakt als Anschlag auf die Zivilisation schlechthin verstanden werden.

Derrida erinnert in der Philosophie in Zeiten des Terrors daran, dass Religion eine altrömische Erfindung ist, für die es in den indo-europäischen Sprachen keinen einheitlichen Ausdruck gibt. Mit den abrahamitischen Religionen ist die Zivilisierung der europäischen Kulturen offensichtlich auf menschheitsgefährdende Abwege geraten, denen durch konsequenten ,,Nihilismus`` begegnet werden sollte. Philosophisch ist mit Nihilismus natürlich kein physisches Auslöschen gemeint, wie es die Selbstmord-Terroristen praktizieren. Auch kein Verleugnen der menschlichen Natur kommt für einen metaphysischen Nihilisten in Frage; weshalb ja Nietzsche den Christen ,,Nihilismus`` vorwarf. Im Anschluss an Turgenjew ist ein Nihilist dagegen jemand, der sich keiner Autorität beugt, sondern nur seiner Vernunft folgt: Beweist man mir eine vernünftige Sache, bin ich damit einverstanden, und alles ist gesagt. Ein Nihilist hält also nichts von der ,,Volksmetaphysik`` Grammatik, mit der jeder Schwachsinn korrekt formuliet werden kann. Das Geschäft der Nihilisten ist demgegenüber die Methodenpflege der Beweisverfahren, um die wahren Sätze der Wissenschaft vom Unsinn des Aberglaubens, der Vorurteile, der Wahnvorstellungen und sonstiger Hirngespinste zu scheiden, die nach 2500 Jahren der Aufklärung noch immer das friedliche Zusammenleben der Menschen verhindern. Gegen die von Nietzsche prognostizierte Heraufkunft des ,,völkischen Nihilismus`` ist im Anschluss an seine fröhliche Wissenschaft Allens satirische Kritik des Reinen Schreckens aufzugreifen.



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Ingo Tessmann 2007-09-15