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Wissenschaft als Kunst?

Pragmatismus und Existentialismus durchziehen die Werke Nietzsches und Allens gleichermaßen. Ebenso innig ist die Verbindung von Lebensphilosophie bzw. Filmkunst und Literatur in ihren Arbeiten. Dominieren bei Nietzsche die literarischen Formen des Aphorismus' und Essays, sind es bei Allen die Erzählung und der Roman. Innerhalb der Filmkunst gibt es naturgemäß einen engen Zusammenhang zwischen Romanform und Drehbuch. Die Dramaturgie von Dialogen und Rollenspielen verbindet beim Filmemachen das Kunstschaffen mit der Spielfreude. Aber wie verhält es sich mit der Wissenschaft? Ist nicht der Humor bei Allen das Vermögen, mit Witzen die Wahrheit zu sagen? Und Nietzsche entwickelt sich vom Jünger Schopenhauers und Wagners zum erkennenden Genius der Gattung, indem er von der Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik zur Geburt der Komödie aus dem Geist der Wissenschaft voranschreitet,- und mit der tragi-komischen Figur Zarathustras auf seinen Untergang einstimmt.

Allens humoristische Filmkunst wie Nietzsches fröhliche Wissenschaft inszenieren das Leben gleichsam als Experiment, indem sie in immer wieder wechselnden Rollenspielen ihre eigenen Versuchstiere mimen. Nietzsche kleidet seine philosophischen Argumentationen in literarische Kunstformen und kreiert Rollenspiele in unterschiedlichsten Maskeraden. Er beginnt als Wanderer, Luftschifffahrer des Geistes, Immoralist, Freigeist, Unterirdischer, Entlarvungspsychologe und entwickelt sich über den fein beobachtenden Physiker, fröhlichen Wissenschaftler, tollen Menschen, Don Juan der Erkenntnis und Genius der Gattung bis hin zum gelehrten Machtphilosophen, radikalen Aristokraten und Propheten Zarathustra, um endlich als Gott Dionysos sich selbst zum Opfer zu fallen. Die unerschöpfliche Reichhaltigkeit seiner Rollenspiele, in denen jedes Wort eine Maske ist, blieb natürlich unvollendet. Seine vielfach originellen und unorthodoxen Ansätze ließen sich gleichwohl zu einem aristokratischen Existentialismus, einer evolutionären Machtphilosophie oder einer humoristischen Artistenmetaphysik ausgestalten.

Es sind die humoristischen Verquickungen von Witz und Wahrheit, Spiel und Ernst, die insbesondere in der Artistenmetaphysik, aber auch in Machtphilosophie und Existentialismus, den zwanglosen Zusammenhang von fröhlicher Wissenschaft und humoristischer Filmkunst stiften. Dabei ist es das kulturkritische Potential der Wissenschaft, das in kunstvoller Ausgestaltung wirksam gemacht werden sollte. Die Frage ist, ob eine Wissenschaft als Kunst im Rahmen der Popkultur den Medienkapitalismus zu unterminieren in der Lage wäre. Unabhängig davon, wie weit er selbst den wissenschaftlichen Standards tatsächlich nachzukommen vermochte, sind es bei Nietzsche die intellektuelle Redlichkeit des Physikers, die sprachkritische Genauigkeit des Philologen, die Selbstreflexion des Psychologen und die Vorurteilsfreiheit des Historikers, denen er genügen wollte. Diese hehren Ansprüche wissenschaftlicher Wahrheit und Objektivität gestaltete er in den vielfältigen Formen künstlerischer Schönheit und Subjektivität. Seine beiden herausragenden Werke in der Rolle des Erkennenden: Morgenröte und Die fröhliche Wissenschaft können geradezu als Paradebeispiele einer Wissenschaft als Kunst angesehen werden. Eine kulturkritisch motivierte und als Wissenschaft verstandene Philosophie wird kunstvoll in den verschiedenen Formen der Literatur präsentiert. Zu einem innigen Studium der Naturwissenschaft seiner Zeit, ist er leider nicht gekommen, da sich die erhoffte Dreieinigkeit bereits als Illusion herausstellte, ehe sie richtig begonnen hatte. Die Verhältnisse waren nicht danach. Aber auch bei dem Existentialistenpaar de Beauvoir und Sartre kam es zu keiner wissenschaftlich-künstlerischen Zusammenarbeit. Sie lebten zusammen, veröffentlichten aber jeweils für sich ihre Bücher. Und Sartre gibt in Das Sein und das Nichts zwar Hinweise auf einen Zusammenhang zwischen Existentialismus und Physik, arbeitet aber nicht weiter daran. Eine Synthese dieser beiden nur scheinbar so fernliegenden Forschungstätigkeiten wird erst im methodischen Kulturalismus Janichs gelingen.

Lässt sich Nietzsche zwanglos als wissenschaftlich motivierter Künstler interpretieren, scheint es bei Allen nicht so einfach zu sein, ihn aus der Wissenschaft heraus verstehen zu wollen. Im Unterschied zum akademisch gebildeten Philologen und Philosophen, ist der Filmemacher allein seinem Talent gefolgt und hat sich die Philosophie wie die Filmkunst und Literatur im Selbststudium des learning by doing angeeignet. Genauso wie Nietzsches Literatur, können gleichwohl viele Filme Allens als wissenschaftlich motivierte Kunstformen angesehen werden; wenn er z.B. immer wieder die soziologische Milieutheorie aufgreift und mit den Alltagssituationen oder dem künstlerischen Talent konfrontiert. Auch durchzieht die Bedeutung des Zufalls und der Gelegenheit im Gegensatz zu Herkunft und Erziehung oder Talent und Arbeit beim Streben nach dem Lebensglück der Akteure seine Werke. Ausdrückliche Bezüge zum wissenschaftlichen Kontext der existentiellen Kontingenz stellt er dabei durch Kosmologie und Chaostheorie her. Da es sich beim Filmemachen im Vergleich mit der Literatur um eine wesentlich komplexere Kunstform handelt, gibt es aber noch einen gleichsam immanenten Zusammenhang zwischen Wissenschaft und Kunst im Film: durch die Technik. Die von Allen virtuos eingesetzte Filmtechnik, z.B. in Annie Hall, Zelig, Purple Rose, Husbands oder Harry, greift den technischen Fortschritt in ästhetischer Absicht auf, macht die Wissenschaft der Kunst dienstbar. Aber geht es Allen nicht eher darum, mit der Filmkunst Wissenschaft und Technik zu kritisieren, wie z.B. in Sleeper, Midsummer oder Zelig? Ähnlich wie bei Nietzsche sind ihm eher die Auswüchse von Wissenschaft und Technik in ihrer kapitalistischen Aneignung ein Dorn im Auge, nicht aber die intellektuelle Redlichkeit, wie sie sich auch in den wissenschaftlichen Standards niederschlägt. Allen betont dabei aber mehr die individuelle Seite der Redlichkeit, wenn er z.B. in Manhattan oder Crimes die persönliche Integrität anmahnen lässt. Und damit schließt sich der Kreis; denn insofern uns Wissenschaft und Technik zu intellektueller Redlichkeit und persönlicher Integrität anhalten, gehen sie in das Kunsthandwerk des Filmemachers über, so dass Wissenschaft bei Allen in zweifacher Weise in Kunst aufgeht: einmal als technische Basis, zum anderen als kultureller Kontext einer nihilistischen Zivilisierung.

Zeitgleich zu dem Zivilisationskritiker und Ästhetik-Philosophen Sloterdijk hat der anarchistische Erkenntnistheoretiker und Wissenschafts-Philosoph Feyerabend Kritik an den zeitgenössischen Auswüchsen der Vernunft geübt. In seiner Antrittsvorlesung an der ETH-Zürich vom 7. Juli 1981 entwickelt er die Wissenschaft als Kunst aus dem Zusammenhang von Geometrie und Malerei im Kunstschaffen der Renaissance. Im Anschluss an ein Experiment des Baumeisters Brunelleschi, das er im Jahre 1425 in Florenz durchgeführt hatte und das alle Merkmale eines wissenschaftlichen Experiments erfüllte, wurde das Bild fortan als ein Querschnitt durch die optische Pyramide aufgefasst. So wie bereits in der Renaissance die bildenden Künste aus Wissenschaft und Technik heraus verstanden werden können, sind auch im Industriezeitalter Photographie und Kinematographie aus ihnen entwickelt worden. Aber war das nicht schon bei den steinzeitlichen Höhlenmalereien und den wohlgestalteten Kreisanlagen der Fall? Oder bestimmten nicht Wissen und Handwerk, sondern Mystik und Rituale die frühen Kunstwerke? Feyerabend folgert aus dem innigen Verhältnis von Kunst und Wissenschaft, dass es nicht nur in der Kunst keinen Fortschritt und keinen Verfall, dafür aber vielfältige Stilformen gebe, sondern auch in der Wissenschaft eher der Stil oder die Mode ihre Theorien bestimme. An den Gegensatz von Natur und Gesetz anknüpfend, macht sich der Neo-Kyniker Feyerabend über die zeitgenössische Wissenschaft lustig: die farbenprächtige und vielgestaltige Welt des gewöhnlichen Bewußtseins wird ersetzt durch eine grobe Schematisierung, in der es weder Farben noch Gerüche, noch Gefühle, noch selbst den gewohnten Zeitablauf gibt - und diese Karikatur gilt nun als die Wirklichkeit. Unzufrieden damit, was uns die Wissenschaftler als Wirklichkeit vorstellen, ist ihm die Beherrschung der Natur nur ein Ordnungsprinzip unter vielen. Und Feyerabend folgert weiter: wir haben nicht nur Kunstformen, sondern auch Denkformen, Wahrheitsformen, Rationalitätsformen und, eben, Wirklichkeitsformen. Auch die abstakten Begriffe und die strengen Prüfverfahren zur Auszeichnung wissenschaftlicher Theorien, das, was Einstein innere Vollkommenheit und äußere Bewährung einer Theorie genannt hat, reichen dem Wissenschaftskritiker nicht hin, um einsehen zu können, dass die abstrakten Theorien vielleicht ebenso wie die stilisierten Karikaturen gleichwohl nicht beliebig sind, sondern zuspitzend vielleicht gerade das Wesentliche treffen, indem sie sich an gestaltbildenden Invarianten orientieren. So hatte es ja auch Sartre gesehen.

Der seit der Steinzeit bestehende Zusammenhang zwischen Wissen und Handwerk wirkt im innigen Verhältnis zwischen Wissenschaft und Kunst fort. Ihre gemeinsame Basis ist die Handlungsrationalität der Technik, eine präreflexive Tätigkeit, die gelingen oder scheitern kann und damit keineswegs so beliebig ist wie es die Rede von Stilformen suggeriert. Die Übergänge sind fließend und müssen nicht als Gegensatz gesehen werden. Zwischen dem nahezu sicheren Prognose- und Bewirkungswissen der quantitativen Experimentalwissenschaften und den fast beliebigen Visionen der menschlichen Phantasie, bleibt auch in der Kunst die Machbarkeit entscheident. Wie sich die Kunstkritik an Machart, Gefallen und Kontext eines Werkes orientiert, kann es ebenso die Technikkritik. Dabei hat das Gefallen auch in der Technik neben der Nützlichkeit seine Bedeutung und der Kontext wie die Machart sind in Kunst und Technik gleichermaßen wichtig.

In Wissenschaft und Technik wird intellektuelle Redlichkeit vom Menschen gefordert, weil andernfalls Wahrheit und Nützlichkeit Schaden nähmen. Andererseits trägt der Mensch durch seine persönliche Integrität zu gelingender Forschung und Entwicklung bei. Was Nietzsche speziell den Christen immer wieder vorwarf, nämlich ihrer eigenen Moralität zu widersprechen, erkannte Sartre als allgemeine Struktur des Bewusstseins in seinem Vermögen zur Unwahrhaftigkeit oder Selbsttäuschung. Und so blieben auch Nietzsche und Sartre selber nicht davor gefeit. Der Lebensphilosoph machte sich über die Vornehmheit der Aristokraten Illusionen und der politische Intellektuelle täuschte sich über die Schattenseiten des Kommunismus hinweg. Nicht nur Heidegger, Sartre und Nietzsche waren fehlbar, sondern der Mensch überhaupt irrt, so lang' er strebt, wie es Goethe in seiner humorvollen und selbstironischen Dichtung Faust wieder und wieder gereimt hat. Auch der Künstler trägt durch Redlichkeit und Integrität zur Zivilisierung der Kulturen bei. Erasmus von Rotterdam hielt es vor 500 Jahren noch für das Vorrecht des Künstlers, sich straflos über das menschliche Leben lustig zu machen. Der im Humanismus wiederbelebte kynische Humor ist durch Goethe, Nietzsche und Allen am Leben erhalten worden, droht aber gegenwärtig nicht nur im zynischen Sarkasmus, sondern auch in den wiedererstarkten hinterweltlichen abrahamitischen Religionen unterzugehen.

Im Rückblick zeichnet sich bereits im Jahre 1979 (und nicht erst 1989) der Übergang in die nächste weltpolitische Epoche ab. Margaret Thatcher wird Prime Minister in Großbritannien. Die NATO verabschiedet in Reaktion auf die Stationierung sowjetischer Mittelstreckenraketen einen Doppelbeschluss. Im Iran ruft der Ajatolla Khomeini einen islamischen Gottesstaat aus. Und die Russen marschieren in Afghanistan ein. Während mit Thatcher der Wirtschaftsliberalismus auch in Europa Einzug hielt und der amerikanische Anti-Kommunismus den Islamismus beförderte, endete ebenfalls 1979 in China der kurze ,,Pekinger Frühling``, indem die ,,Mauer der Demokratie`` wieder verboten wurde. Statt der ,,fünften Modernisierung`` durch umfassende Demokratisierung, beschritt die KPCh den Weg in den Staatskapitalismus durch Modernisierung der Landwirtschaft, der Industrie, der Landesverteidigung und der Wissenschaft. In Deutschland wurde das ,,linke Jahrzehnt`` 1982 durch die Wahl Helmut Kohls beendet, der eine konservative Wende einleitete, die der Aufbruchstimmung der swinging sixties endgültig den Wind aus den Segeln nahm. In diese Umbruchsituation hinein veröffentlicht Sloterdijk eine Kritik der zynischen Vernunft, indem er die Entwicklung vom subversiven Kynismus zum herrschenden Zynismus phänomenologisch nachzeichnet und kritisch interpretiert. Für ihn hat das Unbehagen in der Kultur eine neue Qualität angenommen: es erscheint als universaler diffuser Zynismus. Ratlos steht vor ihm die traditionelle Ideologiekritik. Sie sieht nicht, wo am zynisch wachen Bewußtsein der Hebel anzusetzen wäre. Der moderne Zynismus stellt sich dar als jener Zustand des Bewußtseins, der auf die naiven Ideologien und die Aufklärung folgt. In ihm hat die eklatante Erschöpfung der Ideologiekritik ihren wirklichen Grund. Marxistische Ideologie- und psychoanalytische Kulturkritik sind sang- und klanglos im modernen Zynismus untergegangen. Für Sloterdijk liegt die Philosophie seit einem Jahrhundert im Sterben und kann es nicht, weil ihre Aufgabe nicht erfüllt ist. Die ,,Macht des Wissens`` war es, die im 19. Jahrhundert zum Totengräber der Philosophie wurde. Und der von Nietzsche im ,,Willen zum Wissen`` gesehene ,,Wille zur Macht`` ist es, der seine zweite Aktualität in der Wiederkehr kynischer Motive zur Geltung bringt.

Der von Sloterdijk kulturmorphologisch verstandene Gedanke von der ewigen Wiederkehr des Gleichen gibt ihm Anlass, Grund und Motiv zu einer erneuten Vernunftkritik. Anlass ist ihm 1981 der zweihundertste Jahrestag des Erscheinens der Kritik der reinen Vernunft Kants. Den Grund seiner Vernunftkritik sieht Sloterdijk in seinem Unbehagen in der Kultur; einer Kultur, in der die kritischen Impulse noch nie so leicht vom dumpfen Verstimmen überlagert wurden. Gleichwohl verspricht er sich von einer Kritik der zynischen Vernunft eine Erheiterungsarbeit, bei welcher von Anfang an feststeht, daß sie nicht so sehr Arbeit ist als Entspannung von ihr. Als Motiv greift der Philosoph eine Szene aus dem Jahr 1969 auf, die sich in der Frankfurter Universität zugetragen hatte. Ausgerechnet einer der Wegbereiter des Studentenprotestes, der kritische Theoretiker, musikalische Ästhet und negative Dialektiker Adorno, wurde das Opfer eines neokynischen Impulses und sah sich während einer damals nicht seltenen Vorlesungsstörung unversehens von einem Reigen entblößter weiblicher Brüste umringt. Adorno war auf eine tragische und doch begreifliche Weise in die Position des idealistischen Sokrates geraten und die Frauen in die des ungebärdigen Diogenes. Gegen die einsichtsvollste Theorie stellten sich eigenwillig die - hoffentlich - intelligenten Körper. Die ,,Tragik`` in der Weise des aufreizend weiblichen Protestes vermag man schwer nachzuvollziehen. Ging es den Studentinnen womöglich bloß um eine Erotisierung der Wissenschaft; neben der Dialektik auch um Sinnlichkeit? Befanden sich die barbusigen jungen Damen vielleicht auf der Suche nach der verlorenen Frechheit? Wie hatte der Neo-Kyniker Nietzsche in Jenseits von Gut und Böse geschrieben? Der Einwand, der Seitensprung, das fröhliche Mißtrauen, die Spottlust sind Zeichen der Gesundheit: alles Unbedingte gehört in die Pathologie. Der gesunden Spottlust der 68er steht heute die pathologische Unbedingtheit der 9/11er gegenüber. Wenn die Islamistinnen doch nur freudig ihre Brüste entblößten statt sich verhärmt noch im Leben schon als Mumien zu kleiden: unter den prüden Christenmenschen dürften sie allerdings auch dann nicht die Schulkinder verführen ...

Sloterdijk findet die griechische Philosophie der Frechheit im Kynismus, der als dialektischer Materialismus und atheistischer Existentialismus zu Unrecht in der Philosophiegeschichte weitgehend ignoriert wurde. Ihn gilt es wiederzubeleben! Beim Philosophen, dem Menschen der Wahrheitsliebe und des bewußten Lebens, müssen Leben und Lehre zusammenstimmen. Auch das intendierten die vom BH befreiten Studentinnen mit ihrer Aktion. Hatte Adorno nicht immer wieder von der überfälligen Gesellschaftsveränderung gesprochen? Jetzt war es soweit, warum beteiligte er sich nicht daran? Auch Adorno gehörte zum Establishment und zum Wesen der Macht gehört, daß sie nur über ihre eigenen Witze lachen mag. Schon der Kynismus war eine erste Replik auf den athenischen Herrenidealismus, die über theoretische Widerlegungen hinausgeht. An die kynische Kulturrevolution knüpft die moderne Hippie- und Alternativbewegung an. Der antike Kynismus, der primäre, angreiferische, war eine plebejeische Antithese gegen den Idealismus. Der morderne Zynismus hingegen ist die Herrenantithese gegen den eigenen Idealismus als Ideologie und als Maskerade. Kurz: Der Herrenzynismus ist eine Frechheit, die die Seite gewechselt hat.

Unter dem Motto: your body speaks its mind behandelt Sloterdijk die Psychosomatik des Zeitgeistes; denn nicht nur die Wortsprache hat uns etwas zu sagen, auch die Dinge reden zu dem, der seine Sensorien zu gebrauchen versteht. Eine integrierende Philosophie hat sich auch mit den ,,niederen Themen`` zu beschäftigen:

  1. Zunge, herausgestreckt, wie beim alten Einstein.
  2. Mund, böse lächelnd, schief, wie in den Etagen der Macht.
  3. Mund, bitter, knapp, wie bei den Betrogenen, Verbitterten.
  4. Mund, laut lachend, großmäulig, wie sich im Lachen des Diogenes und des Buddha das eigene Ich, das alles gar so ernst genommen hatte, zunichte lacht.
  5. Mund, heiter, still: Diogenes in stiller Betrachtung seiner Artgenossen, die heitere Sorglosigkeit Oblomows.
  6. Augenblicke, Augenblöcke, wie beim kynischen Blick, der sich als Durchblicken eines lächerlichen und hohlen Scheins versteht.
  7. Brüste: im Medienkapitalismus herrscht ein atmosphärisches Gemisch aus Kosmetik, Pornographie, Konsumismus, Illusion, Sucht und Prostitution, für das die Enthüllung und Abbildung von Brüsten typisch ist.
  8. Ärsche: auf den Markt oder in den Gerichtssaal zu scheißen, bleibt das kynische Apriori. Der Arsch ist von allen Organen dem dialektischen Verhältnis von Freiheit und Notwendigkeit am nächsten.
  9. Furz, wie beim römischen Soldaten, der politisch provozierend und ,,blasphemisch`` in den jüdischen Tempel furzte.
  10. Scheiße, Abfall: der kynische Philosoph ist einer, der sich nicht ekelt.
  11. Genitalien: nach dem ,,wechselseitigen Gebrauch der Geschlechtsorgane``- wie Immanuel Kant gut aufklärerisch den Ehevertrag beschreibt - bleibt oft die Frage: War das alles? Und wenn es alles ist, warum dann das ganze Theater? Ist der öffentlich genossene Orgasmus des Diogenes durch Masturbation oder in einer Hure nicht sehr viel schöner als der heimlich im Haus bewerkstelligte mit der Ehefrau?

Im Kabinett der Zyniker lässt Sloterdijk neben Diogenes von Sinope noch Lukian, den Spötter aus Samosata, Goethes Mephistopheles und Dostojewskijs Großinquisitor auftreten. Darüber hinaus möchte ich in den Kulturgeschichten der westlichen Zivilisation weitere Kyniker und Zyniker zitieren oder charakterisieren:

Nach seinem Gang durch die Blüte des Zynismus in der Weimarer Republik, kommt Sloterdijk zum Schluss: Gleich am Anfang der europäischen Philosophiegeschichte erhob sich ein Lachen, das dem ernsthaften Denken den Respekt aufkündigte. Laertius erzählt von dem Protophilosophen Thales, dem Vater der ionischen Naturphilosophie und dem Ersten in der Reihe der Männer, die die abendländische Ratio in Größe personifizieren, wie er einst von einer alten Magd begleitet sein Haus zu Milet verließ, um sich dem Studium des Himmels hinzugeben. Dabei fiel er in eine Grube. ,,Da rief das Weib dem Aufschreienden die Worte zu: Du kannst nicht einmal sehen, Thales, was dir vor Füßen liegt, und wähnst zu erkennen, was am Himmel ist``. Nun ja, an die Magd erinnern wir uns nur, weil sie Thales zu Diensten war. Und Thales wird später auch über sich selbst gelacht haben. Aber er prognostizierte für den 28. Mai -585 nicht nur die Zeit, sondern auch den Ort einer Sonnenfinsternis und machte sich damit als erster Naturphilosoph unsterblich. Denn merke wohl: nur was der Lächerlichkeit stand hält, ist ernst zu nehmen!

Neben der offiziellen Philosophiegeschichte gibt es auch eine Geschichte der Philosophie,,aufhebung``, die zumeist unter den Tisch gekehrt wird. Dabei haben nach Nietzsche nur solche Denkanstrengungen noch Anrecht auf allgemeines Gehör, die mit den ironischen, praktischen und existentiellen Philosophieaufhebungen Schritt zu halten versprechen. Im antiken Denken gehörten Reflexion und Leben noch zusammen. Man denke dabei insbesondere an Demokrit und Protagoras, an Sokrates und Epikur. In der Moderne hat sich der Satz: Erkenne dich selbst! längst als Einladung zum Egotrip einer weltflüchtigen Ignoranz entwickelt. Am Ende plädiert Sloterdijk für eine Wiederbelebung der Enthaltungspraxis des Diogenes: Unter dem Leidensdruck modernster Krisen sehen sich Angehörige unserer Zivilisation gezwungen, quasi neuklassisch das Erkenne-dich-selbst zu wiederholen, und sie entdecken dabei ihre systematische Unfähigkeit zu der Kommunikation, die wahre Entspannung gewähren könnte. Das Subjektive, das sich in keinem ,,Ganzen`` zu ,,spiegeln`` vermag, begegnet sich immerhin wieder in zahllosen analogen Subjektivitäten, die ähnlich weltlos und eingeschlossen immer nur ihr ,,Eigenes`` verfolgen und die, wo sie mit anderen interagieren, unter sich nur in ,,antagonistischer Kooperation`` brüchig und widerruflich verbunden sind. Sloterdijk schließt, indem er Wittgenstein variiert: Worüber man nicht argumentieren kann, darüber sollte man bei besserer Gelegenheit erzählen.

Wie Nietzsche und Allen mit ihren Künsten vorgeführt haben, sollten die Erzählungen vom gelungenen Leben wieder innerhalb einer erneuerten Kosmologie formuliert werden. Noch nie war die faktische Naturverbundenheit so weitgehend realisiert worden wie heute durch Wissenschaft und Technik und zugleich das Alltagswissen darum so geringfügig wie gegenwärtig. Nach Heidegger leben wir in ,,uneigentlicher Seinsvergessenheit``, viel schlimmer aber ist unsere ,,entfremdete Naturvergessenheit`` in einem chaotischen, wertneutralen und grausamen Universum. Reflexion und Leben sind wie in der fröhlichen Wissenschaft Nietzsches oder der humoristischen Kinematographie Allens immer wieder zusammenzubringen. Diogenes wie Laotse fanden die einzige wahre Staatsordnung nur im Weltall. Das Wiederanknüpfen an die vorhochreligiösen Kosmologien der griechischen und chinesischen Antike wird hoffentlich auch dem wiedererstarkten Religionswahn den Wind aus den Segeln nehmen können. Bevor ich aber einer heiteren nihilistischen Zivilisierung das Wort zu reden vermag, ist im Anschluss an Allens Kritik des Reinen Schreckens der kulturelle Sumpf trocken zu legen, der immer noch die Ungeheuer im Schlaf der Vernunft gebiert.


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Ingo Tessmann 2007-09-15