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Pragmatismus und Existentialismus

Im Einklang mit dem amerikanischen Optimismus und der Wiedergeburt der Philosophie aus dem Geist der Demokratie, liegt es nahe, Allens Filmkunst aus einem pragmatischen Optimismus heraus zu verstehen. Jarvie argumentiert in Woody Allen and Philosophy mit den Worten: Woody Allen is a pragmatic optimist. ­­``Pragmatic'' because to go on making thoughtful films to affirm optimism by action. Allen's optimism is not to be identified with that expressed by some of his characters, der Filmkünstler präsentiert vielmehr the alternatives of optimism and pessimism in dramatic rather than discursive form. Das Sprach- und Tathandeln der Menschen stimmt nur selten überein und so war es ja schon das Anliegen Nietzsches, aus dem Leben selbst heraus die Philosophie zu erneuern. In Filmen gelingt die Darstellung und Zuspitzung dieser Diskrepanz sehr viel besser als in bloßen Texten. Nach dem pragmatischen Aspekt seiner Interpretation erläutert Jarvie sein Verständnis von Optimismus und Pessimismus, das die Filme Allens durchzieht: I confine myself to their treatment of the two polarized attitudes to life: optimism and pessimism. Optimism is the view that life is good, things work out for the best. Its strongest form is the view that this is the best of all possible worlds. Pessimism is the view that life is a torment, that things will only get worse. Its strongest form is the view that it would be better to escape it or that it had never existed. Philosophisch ist es nicht leicht, die beiden extremen Sichtweisen zu verteidigen, dramaturgisch sind sie aber sehr ergiebig: Optimism tends to go with hope; pessimism with despair. An extreme expression of despair is suicide.

Zu heiter inszenierten Freitodversuchen neigten schon Freundinnen Michaels in Pussycat und als tragische Varianten greift Allen die Tendenz, sich aus Verzweiflung das Leben zu nehmen, in Interiors und September wieder auf. Den Unterschied zwischen Dramatisieren und Diskutieren erläutert Jarvie am Beispiel Hannah and Her Sisters. Nachdem Mickey erfahren hatte, dass kein Hirntumor sein Leben vorzeitig beenden werde, tanzt er vor Freude auf der Straße. Das Hochgefühl hält allerdings nicht lange an; denn plötzlich wird ihm klar, dass er zwar noch nicht jetzt, aber später einmal sterben wird. Mickeys Panikreaktionen werden von Allen unterhaltsam satirisch zugespitzt, seine grundlegende Verzweiflung aber nicht. Als sein komisch dargestellter Freitodversuch zufällig scheitert, da der Gewehrlauf kurz vor dem Schuss von seiner angstschweißnassen Stirn abrutscht, treibt es ihn auf die Straße und - in ein Kino, in dem gerade Duck Soup der Marx Brothers läuft. Der Klamauk und die Lebensfreude der Komiker lichten schnell die trüben Gedanken, die den Lebensmüden beherrschten: I started to feel how can you even think of killing yourself? I mean isn't it so stupid? ... what if the worse is true? What if there is no God, and you only go around once and that's it? Well, you know, don't you want to be part of the experience? And I thinking to myself, geez, I should stop ruining my life ... searching for answers I'm never gonna get, and just enjoy the while it last's. ... And ... then, I started to sit back, and I actually began to enjoy myself. Das Erleben eines Films und Menschen wie die Marx Brothers machen das Leben lebenswert: so erging es schon Ike am Schluss in Manhattan.

Die von Allen dramatisierte Einsicht, dass man sich aufgrund einer unverbindlichen Glaubens-Hypothese (mit der Aussicht auf ein vermeintliches Paradies) nicht voreilig das Leben nehmen sollte, kann auch dem diskursiven Beschluss Kants aus seiner Metaphysik der Sitten entnommen werden. Der formuliert dort nicht ganz humorlos: Wenn jemand nicht beweisen kann, daß ein Ding ist, so mag er versuchen zu beweisen, daß es nicht ist. Will es ihm mit keinem von beiden gelingen (ein Fall, der oft eintritt), so kann er noch fragen: ob es ihn interessiere, das eine oder das andere (durch eine Hypothese) anzunehmen, und dies zwar entweder in theoretischer, oder in praktischer Rücksicht, d.i. entweder um sich bloß ein gewisses Phänomen (wie z.B., für den Astronom, das des Rückganges und Stillstandes der Planeten) zu erklären, oder um einen gewissen Zweck zu erreichen, der nun wiederum entweder pragmatisch (bloßer Kunstzweck) oder moralisch, d.i. ein solcher Zweck sein kann, den sich zu setzen die Maxime selbst Pflicht ist.-– Es versteht sich von selbst: daß nicht das Annehmen (suppositio) der Ausführbarkeit jenes Zwecks, welches ein bloß theoretisches und dazu noch problematisches Urteil ist, hier zur Pflicht gemacht werde, denn dazu (etwas zu glauben) gibt's keine Verbindlichkeit, sondern das Handeln nach der Idee jenes Zwecks, wenn auch nicht die mindeste theoretische Wahrscheinlichkeit da ist, daß er ausgeführt werden könne, dennoch aber seine Unmöglichkeit gleichfalls nicht demonstriert werden kann, das ist es, wozu uns eine Pflicht obliegt.

Ich fahre mit Jarvies Darstellung des Pessimismus fort: Mickey is only one of four variations of pessimism verging dispair that appear in Hannah and Her Sisters. Auch Lee, Holly und Frederick werden vom Pessimismus bestimmt, aber Allen inszeniert ihre Rollen nicht mit dem Abstand der Komödie, so dass wir über sie nicht lachen können wie über Mickey. Es ist der Sinn für Proportion, der Heiterkeit von Trübsal trennt. Und im Vergleich mit dem komisch dargestellten Pessimismus Mickeys wird der Optimismus Hannahs sehr verhalten in Szene gesetzt, da sie zu den Menschen gehört, die einfach nicht alles mitbekommen bzw. bemerken wollen. In Deconstructing Harry dramatisiert Allen den Pessimismus Harrys in ganz anderer Weise. Der Schriftsteller agiert seinen Frust über die Schreibblockade in extremen Ausschweifungen aus, die ihn zugleich komisch erscheinen lassen und am Ende sogar wieder seine Kreativität beflügeln. Ähnlich variantenreich wie in Hannah und Harry dramatisiert Woody das Wechselspiel zwischen Optimismus und Pessimismus in Crimes und Husbands. Wie dem Pechvogel Virgel in Money ergeht es auch Cliff und Gabe. Der Moralist Cliff verliert seine scheinheilige Freundin Halley ausgerechnet an den eiskalten Aufschneider und Karrieristen Lester. Und das Vorbild des Doku-Filmers, Prof. Levy, nimmt sich das Leben. Weil er die Liebe für das einzig Sinnstiftende im chaotischen, wertneutralen und grausamen Universum hält? Am Ende hat der Moralist nicht nur seine Freundin, sondern auch noch die Arbeit verloren; und der Immoralist Judah triumphiert. Er ist die Geliebte losgeworden und hat zu seiner Frau zurückgefunden. Ebenso wie Chris kommt er einfach so davon, da der Mord einem anderen zugeschrieben wird. Dabei ergeht es dem Literaturprofessor und Schriftsteller Gabe ähnlich wie dem Doku-Filmer Cliff, beide stehen am Ende allein da. Es scheint, als ob Allen de Sade gefolgt wäre; erleidet doch die pessimistisch-tugendhafte Justine entsetzliche Qualen, während die optimistisch-lasterhafte Juliette orgiastische Freuden zu genießen weiß. Das Wechselspiel von Komödie und Tragödie, Optimismus und Pessimismus ist bei Allen jedenfalls ähnlich gebrochen wie bei de Sade. Im Gegensatz zu den grausamen Orgien des Marquis, geht es bei Allen zum Glück sehr viel unterhaltsamer und intellektueller zu. Sex und Crime werden nicht explizit dargestellt und der dramaturgische Umgang mit ,,verborgenem Wissen`` trägt zu Spannung und Freude gleichermaßen bei; sei es, dass es einfach aus Unachtsamkeit nicht bemerkt wird (wie bei Hannah) oder aufgrund von Selbsttäuschung unerkannt bleibt (wie bei dem am Ende wiedervereinigten Paar in Husbands).

Jarvies Argumentation für einen pragmatischen Optimismus in der Dramaturgie Allens ist ein interessanter Interpretationsaspekt seiner Filme. Mit der Polarität von Optimismus und Pessimismus verengt er zwar die Reichhaltigkeit der jeweils inszenierten Lebensumstände der Akteure, eröffnet aber aus dem Zusammenhang von Pragmatismus und Dramaturgie sowie Diskursen und Rollenspielen einen Ansatz, aus dem heraus ein gemeinsames Verständnis von Philosophie und Filmkunst in den Werken Allens möglich werden sollte. Und im Anschluss an die ,,pragmatische Kehre`` in der analytischen Philosophie wird dieser Zusammenhang auch noch im Kontext von Kultur und Methode der methodischen Philosophie Janichs Bestand haben. Eine beiläufige philosophische Definition von ,,pragmatisch`` hatte ich schon zitiert (pragmatische Handlungen sind bloß auf einen ,,Kunstzweck`` bezogen). In der Kritik der reinen Vernunft grenzt Kant, wiederum in bewundernswerter Nüchternheit, die pragmatischen wie folgt von den moralischen Handlungen ab: Das praktische Gesetz aus dem Bewegungsgrunde der Glückseligkeit nenne ich pragmatisch (Klugheitsregel); dasjenige aber, wofern ein solches ist, das zum Bewegungsgrunde nichts anderes hat, als die Würdigkeit, glücklich zu sein, moralisch (Sittengesetz). Nach Kant sollen pragmatische Handlungen der Klugheitsregel folgend also unsere Glückseligkeit beförden. Denken hilft, auch beim glücklich werden!

Wie Dewey in seinem Essay Die Entwicklung des amerikanischen Pragmatismus hervorhebt, griffen die optimistisch-zukunftsorientierten Amerikaner sogleich Kants Unterscheidung von pragmatischen und moralischen Handlungen auf. Denn die Männer aus Wissenschaft und Technik brauchten genau den Handlungstyp, der nur auf Kunst und Technik bezogen war, um ihren Pragmatismus ins Leben zu rufen. Zudem hat die Beförderung der Glückseligkeit in den USA Verfassungsrang. Ein Pragmatismus ist damit implizit immer optimistisch und zukunftsorientiert. Peirce hat die pragmatische Bedeutung einer Aussage 1878 umschrieben als jene Form, die auf die Selbstkontrolle des Handelns - in jeglicher Form und zu jedem Zweck - am unmittelbarsten angewendet werden kann. Nicht um einzelne Handlungen geht es Pierce also, sondern um die grundsätzliche Anwendbarkeit im Prozess der Evolution, durch den das Existierende mehr und mehr dazu kommt, jene allgemeinen Formen zu verkörpern. 1898 hat James den Pragmatismus auf die Bedeutung der Wahrheit ausgedehnt: Unsere letzte Prüfung dessen, was eine Wahrheit bedeutet, ist in Wirklichkeit das Handeln, das sie diktiert oder inspiriert. Aber sie inspiriert dieses Handeln, weil sie zunächst eine bestimmte Wende unserer Erfahrung voraussagt, die von uns genau jenes Handeln verlangt. Und Dewey würde es vorziehen, Pierces Prinzip so auszudrücken: Die wirkliche Bedeutung einer beliebigen philosophischen Aussage kann immer auf eine bestimmte Konsequenz in unserer zukünftigen praktischen Erfahrung zurückgeführt werden. Da Jamesens pragmatistisches Wahrheitsverständnis schon damals immer wieder als zu ,,erfolgsorientiert`` oder ,,kommerzbezogen`` kritisiert wurde, bemühte Dewey sich nicht nur um eine Klarstellung, sondern arbeitete den Pragmatismus zu einer Demokratietheorie aus. Bei James war der Pragmatismus lediglich ein konsequent zu Ende gedachter Empirismus. Folglich korrespondiert eine Theorie mit den Tatsachen, wenn sie durch die Vermittlung der Erfahrung zu den Tatsachen führt, die ihre Konsequenzen sind.

Der von Peirce im Anschluss an Kant entwickelte amerikanische Pragmatismus wurde von James zu einer Erfahrungsphilosophie erweitert und ging mit Dewey gleichsam in der Demokratie auf. Putnam und Rorty bilden gegenwärtig den vorläufigen Abschluss dieser Entwicklung. In Deutschland wurde eine pragmatistische Philosophie sehr viel später in Angriff genommen; wurde doch die Philosophie des 19. Jahrhunderts hierzulande hauptsächlich durch den transzendentalen und dialektischen Idealismus Kants und Hegels bestimmt. Die in ihrem Schatten entstandenen Richtungen des Existentialismus, Materialismus und Positivismus sollten ihre Bedeutung erst im 20. Jahrhundert erleben. Zu Anfang des Jahrhunderts erforderten die in Mathematik und Physik offenbar gewordenen Grundlagenprobleme ein nach Kant erneutes Reflektieren der Wissenschaften. Neben dem Formalismus Hilberts, dem Intuitionismus Browers sowie dem Kritischen Rationalismus Poppers und dem Neo-Positivismus Heisenbergs, war es endlich Dingler, der zur Überwindung der Grundlagenkrise einen Pragmatismus vorschlug. Die Ansätze Browers und Dinglers hat dann Lorenzen zu einem Methodischen Konstruktivismus weiter geführt, den sein Schüler Janich unterdessen zu einem Methodischen Kulturalismus ausgeweitet hat. Amerikanischer und deutscher Pragmatismus haben damit ähnlich ausgreifende, aber auch kulturspezifische Entwicklungen vollzogen; denn was den Amerikanern die Demokratie bedeutet, gilt den Deutschen die Kultur. Im Gegensatz zu der gleichsam demokratisch in die Postmoderne überführten Philosophie Rortys und Putnams, versuchen Habermas und Janich das kritische Erbe der Moderne zu retten. Ebenso wie Allen in der Filmkunst Dramaturgie und Diskurs zusammenbringt, halten sie in der Philosophie an der Synthese von Kultur und Methode fest.

Filmkunst und Experimentalwissenschaft sind wesentlich praxisbasiert und nur im Vollzug möglich; gleichwohl haben weder der amerikanische Pragmatismus noch der europäische Positivismus und kritische Rationalismus neben den theoretischen Diskursen das praktische Handhaben als Grundlage der Labortätigkeiten ernst genommen. Dieses Verdienst kommt etwa ab 1907 Dingler zu, der als entscheidende Neuerung das Prinzip der pragmatischen Ordnung als Grundlage seiner allgemeinen Methodenlehre einführt. Schrittweise und zirkelfrei sind Alltags- und Laborhandlungen auszuführen, damit z.B. Kochkünste gelingen oder Atomgrößen gemessen werden können. Die den Lebensalltag implizit bestimmende pragmatische Ordnung basiert selbstredend alle Kunst und Wissenschaft. Die Beachtung der (nichtkommutativen) Reihenfolge der Handlungen ist am Filmset wie im Labor von entscheidender Bedeutung. Der Bezug auf diese vorsprachliche bzw. prädiskursive Praxis ist es auch, die das Anfangsproblem beim Verständnis von Kulturleistungen löst. Hermeneutische wie logische Zirkel ebenso wie das Münchhausen-Trilemma werden so prinzipiell vermieden. Die menschlichen Vermögen, auf die sich Dingler dabei beruft, sind das Erleben und Wollen. Der aktive Wille im volitiven Erleben ist ihm allein handlungsveranlassend. Als eine Ergreifung des Wirklichen hat Dingler diese Willensaktivität zur Beherrschung der Wirklichkeit umschrieben. Anklänge an die Willensmetaphysik Nietzsches mit dem Machtstreben als grundsätzlichem Lebensprinzip sind wohl nicht zufällig, wenngleich Dingler sich nicht explizit auf Nietzsche bezieht.

In den 50er Jahren beginnend, hat Lorenzen unter Verzicht auf den Voluntarismus an Dinglers Pragmatik angeknüpft, indem er sie zu einem Prinzip der methodischen Ordnung verfeinerte, um nach Maßgabe des Handwerks nunmehr auch das Mundwerk zu disziplinieren. Als ausgewiesenem Zweck allen wissenschaftlichen Strebens geht es ihm darum, in möglichst allgemeiner Weise zu einer Verbesserung unserer Lebensbewältigung beizutragen. Dazu trägt wesentlich das Prinzip der methodischen Ordnung bei, nach dem auch alle symbolisch-sprachlichen Konstruktionen schrittweise und zirkelfrei zu erfolgen haben. Die so konstruierten Wissenschaftssprachen sind nicht nur nachvollziehbar und damit lehrbar, sondern als Experimentalwissenschaft durch die Forderung von Reproduzierbarkeit auch überprüfbar. Die von Lorenzen in seinem Lehrbuch der konstruktiven Wissenschaftstheorie detailliert ausgearbeiteten Anfänge des mathematischen, technischen, politischen und historischen Wissens, die natürlich seinem eigenen methodischen Anspruch genügen, sind von seinem Schüler Janich zu einem Methodischen Kulturalismus erweitert worden. Lorenzen hatte seine Rekonstruktionen der Wissenschaften aus Hochstilisierungen der Alltagspraxis mit Sprachnormierungen begonnen. Janich greift wieder auf die Pragmatik Dinglers zurück, indem er die Alltagspraxis nicht primär sprachlich, sondern technisch rekonstruiert. Die Art und Weise wie wir im handgreiflichen Umgang mit den vorgefundenen Dingen oder bearbeiteten Artefakten in der Erfahrung Erfolg haben oder scheitern, sichert zu allererst die weitergehende sprachliche Verständigung. D.h. primär ist das der Zweckrationalität zur Lebenserleichterung folgende (nichtsprachliche) Tathandeln. Im Anfang war die Tat, nicht das Wort! Einzig die Zweckrationalität der kumulativen Technik ist es, die ein kulturübergreifendes Maß der Zivilisation darstellt; denn Technik wird erfunden (nicht entdeckt), ist fortsetzbar und unumkehrbar, transsubjektiv und transkulturell sowie nicht naiv relativierbar.

Wie Woody in fast allen seinen Filmen komödiantisch dramatisiert, ist Technik nicht naiv, wohl aber humoristisch relativierbar. Einige Beispiele: In Pussycat erweisen sich Schränke als ungeeignete Verwahrungsorte für Alltagsutensilien, in Money sind es Ketten, die eine Familienbande schmieden, in Sleeper führt eine Narkose in den Dauerschlaf, das Orgasmothron implodiert, der große Führer wird trotz der Hilfe eines Supercomputers an der Nase herumgeführt und endet unter einer Walze, in Sam unterbricht der Schnitt wiederholt einen Koitus, in Bananas führt eine Büroausstattung zum Stressabbau zum Stressaufbau, in Love and Death bleibt ein Säbel zu lange in der Scheide, in Annie Hall fährt das Auto rückwärts statt vorwärts, in Zelig führen Elektroschocks nicht zu Persönlichkeits-, sondern zu leiblichen Veränderungen, in Alice verlieben sich trotz des hochwirksamen ,,Liebespulvers`` die falschen Männer in Alice ... Eine funktionierende Technik setzt natürlich den jeweils entsprechend weit entwickelten kulturellen Kontext voraus. Die Filmkunst selbst ist ebenso auf eine ausgefeilte Technik angewiesen wie die Experimentalwissenschaft. Und die Technik kann dabei sogar als Maß für die ,,Kulturhöhe`` einer Zivilisation angesehen werden, da die gesamte Geschichte der messenden und experimentierenden Wissenschaften nur eine monoton steigende Zunahme von Zahl und Genauigkeit der meßbaren Parameter kennt.

Die Bedeutung der philosophischen Aussagen an ihrer allgemeinen Handlungstauglichkeit zu messen, war das Bestreben der amerikanischen Pragmatisten des 19. Jahrhunderts gewesen. Als rationeller Kern der amerikanischen Zivilisation blieb bei den postmodernen Pragmatisten der Gegenwart lediglich das Bekenntnis zur Demokratie. Demgegenüber hatte sich der Pragmatismus in Deutschland von dem Motto leiten lassen, die Bedeutung philosophischer Aussagen an dem handgreiflichen Umgang mit den Dingen zu orientieren. Nicht das Mundwerk wie in den Diskurspraktiken der Demokratie, sondern das Handwerk in den Herstellungspraktiken der Technik war dabei als universell kulturbestimmend erkannt worden. Gegenüber den vielen Meinungen, die in der Regel in der Demokratie nebeneinander bestehen bleiben und nur durch Abstimmungen entschieden werden, ist es in den technischen Herstellungspraktiken möglich, Meinungsverschiedenheiten außersprachlich am Erfolg oder Misserfolg hinsichtlich der Zwecksetzung des Artefakts zu entscheiden. Auch wenn alle Technik letztlich nur einer Verbesserung der Lebensbemeisterung dienen soll, ist es diese grundsätzliche Zweckrationalität der Technik im Kontext einer allgemeinen Handlungstheorie, die den postmodernen Zivilisationskritikern zuwider läuft. Ihr Kulturmodell ist neben der Demokratie allenfalls noch die Kunst; jedenfalls nicht die Technik! Denn nach Ansicht der ,,dekonstruierenden`` Kulturkritiker ist es gerade die Technik, die uns die großen Menschheitsprobleme beschert hat. Ihrem Methodenzwang gilt es zu widerstehen. Dass man im Anschluss an Nietzsche eher der Machtpolitik Paroli bieten sollte, gerät zumindest Foucault mit seiner Analytik der Macht nicht aus dem Blick. Bei den Postmodernen hat demgegenüber nicht die pragmatische und methodische Ordnung die Philosophie auszuzeichnen, sondern die künstlerische Freiheit des Schriftstellers im Erfinden von Metaphern und Vokabularen ist zu befördern. Philosophie wird damit zu Literatur und die Wirklichkeit zu ,,Text``, den es zu interpretieren gilt, an dem man aber nicht scheitern kann. Um die mit der postmodernen Haltung verbundene Preisgabe wissenschaftlicher Standards zu demonstrieren, veröffentlichte der Physiker Sokal nur so zum Spaß in der kulturwissenschaftlichen Zeitschrift Social Text 1996 einen Artikel mit dem Thema: Transgressing the boundaries: Toward a transformative hermeneutics of quantum gravity. Sokals Text wurde als kulturwissenschaftliche Arbeit akzeptiert und ernsthaft diskutiert, bevor er sich als Witzbold outete und offenbarte, dass es sich bloß um geschickt angeordnete Versatzstücke verschiedener Interpretationen physikalischer Theorien handelte, die er im modischen postmodernen Jargon präsentiert hatte. Die Arbeit war bloße Literatur und entsprach damit ironischerweise genau dem Anspruch auf ,,Dekonstruktion`` der wissenschaftlichen Diskurse. Etwa zeitgleich zu Sokal hatte sich mit Deconstructing Harry auch Allen über die Postmoderne lustig gemacht. Experimentalphysik und Filmkunst zogen an einem Strang.

Ganz dem demokratischen Modell verhaftet, geht es dem postmodernem Philosophen Rorty um eine dezentrierte Kultur. In ihr ist lediglich die Freiheit beliebiger Diskurspraktiken zu gewährleisten, damit jede ,,Sprachkultur`` ihrem jeweiligen Vokabular verhaftet bleiben kann. Freiheit ist ihm wichtiger als Wahrheit und Solidarität bedeutender als Objektivität. Nach Rorty ist die prinzipielle Kontingenz der Kulturen anzuerkennen, egal ob es sich um die Sprache, das Selbstverständnis oder das Gemeinwesen der Menschen handelt. Auch jedes philosophische Vokabular ist wie bei einem Werkzeug nur nach seiner Gebrauchstauglichkeit zu unterscheiden. Die Kulturgeschichten sind ihm keine Geschichten von Entdeckungen, sondern von Metaphern. Und den Unterschied zwischen dem Buchstäblichen und dem Metaphorischen sieht er im Anschluss an Davidson nicht als Unterscheidung zwischen zwei Sorten von Bedeutung oder zwei Interpretationsweisen, sondern als eine Unterscheidung zwischen vertrauten und unvertrauten Verwendungen von Geräuschen und Zeichen an. Die grundsätzliche Anerkennung des je eigenen Vokabulars einer Person, führt Rorty dann zur Umschreibung der Haltung einer liberalen Ironikerin. Differenzierungen zwischen Form und Inhalt, Erscheinung und Wesen oder wahr und falsch sind ihr fremd. Jede schafft sich mit ihrem Vokabular eine Welt, in der sie lebt. Selbstbeschränkung erfährt sie nur in dem Gemeinschaftsgefühl der Solidarität mit den vielen anderen Lebenswelten und durch die Vermeidung von Grausamkeit. Rortys postmoderne Philosophie der Kontingenz, Ironie und Solidarität ist der Versuch, den für Amerikaner typisch optimistischen Pragmatismus mit dem nihilistischen Existentialismus der Kontinentaleuropäer zu verbinden. Unter Kontinentaleuropäern ist ein optimistischer Pragmatismus eher ungewöhnlich und so nimmt es nicht wunder, dass der postmoderne französische Philosoph Foucault in seinen vielfältigen Untersuchungen zu den Diskurspraktiken und Kulturtechniken der westlichen Zivilisation nicht die Bedeutung der Macht außer Acht lässt. Mit seiner Analytik der Macht knüpft er natürlich auch an Nietzsche an, wenngleich Foucault die Macht nicht primär als Lebensprinzip oder Staatsmacht versteht, vielmehr die Rationalisierung der Macht von den Randzonen und ausgegrenzten Bereichen der Gesellschaft her analysiert. Habermas widmet ihm in seinem Diskurs der Moderne neben Nietzsche die größte Aufmerksamkeit.

Jürgen Habermas, das deutsche Pendant zu Richard Rorty, hat gleichsam die umgekehrte Entwicklung in der Philosophie vollzogen. Während sich Rorty vom Analytiker zum Literaten wandelte, verdichtete Habermas seine Prosa unter Einbeziehung analytischer Methoden zu einer Kommunikationstheorie. In seiner umfassenden Theorie kommunikativen Handelns vereinigte er 1981 historischen Materialismus und analytische Philosophie. Gesellschaften verstand er fortan als systemisch stabilisierte Handlungszusammenhänge sozial integrierter Gruppen. Im Anschluss an seine Unterscheidung zwischen Arbeit und Interaktion wurde ihm die Kommunikation zum Kern-Modell der Philosophie. Seine Universalpragmatik lässt die vier Dimensionen einer sprachlichen Äußerung in einem Satz aufscheinen. Wann immer Menschen miteinander reden, geht es ihnen darum, sich mit jemandem über etwas zu verständigen. Neben der Dramaturgie subjektiver Selbstdarstellung und der Normativität sozialer Regelbefolgung geht es auch um die Erfahrung objektiver Tatsachen. Das verständigungsoriente kommunikative Handeln zur Herbeiführung von Einverständnis grenzt er dabei ab vom zweckrationalen Handeln nach technischen Regeln oder rationaler Wahl. Mit der im Anschluss an Kant entfalteten kommunikativen Vernunft erstrebt Habermas die Fortsetzung der Moderne. Gegenüber einer Verabschiedung in die Postmoderne, hält er die Moderne für ein unvollendetes Projekt. In seiner Vorlesungsreihe Der philosophische Diskurs der Moderne geht es ihm um die Aufhebung der abendländisch-subjektzentrierten Rationalität in der universalpragmatisch verstandenen kommunikativen Vernunft.

Das moderne Zeitalter steht vor allem im Zeichen subjektiver Freiheit. Die mit der Vereinzelung des Individuums verbundene Verinnerlichung der Bildungstraditionen hatte zu einer Entkopplung von Geschichte und Bildung geführt, wie schon Nietzsche in seinen Unzeitgemäßen hervorhob. Das Wissen, das im Übermaße ohne Hunger, ja wider das Bedürfnis aufgenommen wird, wirkt jetzt nicht mehr als umgestaltendes, nach außen treibendes Motiv und bleibt in einer gewissen chaotischen Innenwelt verborgen. ... Und so ist die ganze moderne Bildung wesentlich innerlich - ein Handbuch innerlicher Bildung für äußerliche Barbaren. Deshalb konnte ja der deutsche Geist zwanglos im deutschen Reich aufgehen. In Anknüpfung an die altgriechische Urwelt des Großen, Natürlichen und Menschlichen sollten die ,,Spätlinge`` der Moderne in die ,,Erstlinge`` einer Postmoderne verwandelt werden. Habermas zieht aus Nietzsches Geburt der Tragödie folgendes Fazit: Eine zum Kunstwerk gewordene religiöse Feier soll mit der kultisch erneuerten Öffentlichkeit die Innerlichkeit der privat angeeigneten historischen Bildung überwinden. Eine ästhetisch erneuerte Mythologie soll die in der Konkurrenzgesellschaft erstarrten Kräfte der sozialen Integration lösen. Im Willen zur Macht sieht Habermas folglich einen ästhetischen Kern, der ein Wille zum Schein ist, zur Vereinfachung, zur Maske, zur Oberfläche; und die Kunst darf als die eigentlich metaphysische Tätigkeit des Menschen gelten, weil das Leben selbst auf Schein, Täuschung, Optik, Notwendigkeit des Perspektivischen und des Irrtums beruht. Dem Ziel einer Artistenmetaphysik dienen die Entwürfe zu einer pragmatistischen Erkenntnistheorie und zu einer Naturgeschichte der Moral, welche die Unterscheidung zwischen ,,wahr`` und ,,falsch``, ,,gut`` und ,,böse`` auf Präferenzen für das Lebensdienliche und das Vornehme zurückführen.

Für Habermas verfolgt Nietzsche am Ende zwei Strategien auf dem Weg zu einer artistischen Weltbetrachtung. Zum einen lässt er den Wahrheitsglauben im Willen zur Macht aufgehen; andererseits stilisiert er Dionysos zum ersten Philosophen und sich selbst zu seinem letzten Jünger und Eingeweihten. Beide Strategien Nietzsches fanden Nachfolger. Bataille, Lacan und Foucault haben die Pervertierung des Willens zur Macht mit anthropologischen, psychologischen und historischen Methoden zu enthüllen versucht. Und als Eingeweihte antiker Mythologie haben sich Heidegger und Derrida hervorgetan. Wie Nietzsche in der Genealogie der Moral so untersucht Bataille die Ausgrenzung und immer vollständiger werdende Ausrottung alles Heterogenen, wodurch sich die moderne Welt zweckrationaler Arbeit, Konsumtion und Machtausübung erst konstituiert. Heidegger beendet seine erste Nietzsche-Vorlesung mit den Worten: Vom Wesen des Seins aus muß die Kunst als das Grundgeschehen des Seienden, als das eigentlich Schaffende begriffen werden. Die Kunst im Gegensatz zur Technik als das eigentlich Schaffende zu preisen, wird zum Motto der Postmoderne werden. Schon Heidegger sieht das totalitäre Wesen seiner Epoche gekennzeichnet durch die global ausgreifenden Techniken der Naturbeherrschung, der Kriegführung und der Rassenzüchtung. Für einen dionysischen Messias gibt es ein Denken, das strenger ist als das begriffliche. Mit diesem Übergang in die Mystik will ich den ,,Denker`` einer temporalisierten Ursprungsphilosophie aus Zeit und Sein vorerst verlassen. Für Boris ist es eh egal, ob man in der Zeit oder im Sein lebt, Hauptsache man bekommt ein blutiges Steak und hat guten Sex.

Im Erfahrungsbereich des Erotischen sucht natürlich ein Franzose den Exzeß der sich selbst überschreitenden Subjektivität auf. Gegenüber der Frage nach dem Sinn von Sein Heideggers kommt es Bataille ab 1923 im Anschluss an Nietzsche auf die Souveränität eines ästhetisch inspirierten ,,Übermenschen`` an. Dabei geht es ihm um nichts Geringeres als den Entwurf zu einer allgemeinen, auf den Energiehaushalt der Natur im ganzen erweiterten Ökonomie. Die Souveränität des ästhetischen Erotikers steht natürlich im Widerstreit mit der Zweckrationalität des instrumentellen Strategen; denn diese legt Wert, Prestige und Wahrheit des Lebens in die Negation des zweckdienlichen Gebrauchs der Güter, macht aber zugleich eben von dieser Negation zweckdienlichen Gebrauch. Wie Allen wendet sich auch Bataille gegen eine Tabuisierung der Gewaltsamkeit von Tod und Sex. Und ähnlich unbescheiden wie der Filmkünstler sieht der Erotikphilosoph die Ambivalenz von Schrecken und Entzücken eingebettet im kosmischen Energiehaushalt. Dabei können sich die im Leben wirkenden Energien überschüssig in ,,glorioser`` oder in ,,katastrophischer`` Form äußern. Diese lebensphilosophisch gedeutete Energetik des Universums verweist auf eine Mystik, die auch im Lebensgefühl der ,,Einheit`` mit ,,Allem`` zum Ausdruck kommt. Ich werde darauf zurückkommen.

Um die Deutung grenzüberschreitender Erfahrungen im Wahnsinn, im Verbrechen und in der Sexualität, geht es Foucault. Dazu gehören die Berührung mit und das Eintauchen in die orientalische Welt (Schopenhauer), die Wiederentdeckung des Tragischen, überhaupt des Archaischen (Nietzsche), das Eindringen in die Spähre der Träume (Freud) und der archaischen Verbote (Bataille). Foucaults Analytik der Macht, seine Ethik der Moral und die Archäologie des Wissens hat Detel bis in die klassische Antike zurückverfolgt. Neben diesen eher systematischen Untersuchungen knüpft Foucault mit seiner Genealogie von Macht, Moral und Wissen direkt an Nietzsche an und erweitert seinen positiven Sinn von Macht zu einem Konzept ,,produktiver`` Macht. Darunter fällt auch die regulative Macht, die zwar Sprache und Vernunft durchdringt, damit aber nicht Rationalität obsolet macht, sondern ihr im Gegenteil Raum schafft und unsere Vernunft stabilisiert. Mit dieser Interpretationsstrategie unterläuft Detel den betont postmodernen Aspekt Foucaults; denn nach dem soll schließlich mit der Ethik als Befreiungspraxis eine Ästhetik der Existenz ausgearbeitet werden, die sich der Wissenschaft vom Leben widersetzt und uns aus dem Reich der wissenschaftlichen Erkenntnis erlöst.

Mit den detaillereich untersuchten Verbindungen zwischen Diskursen und Praktiken radikalisiert Foucault auch den Widerstreit zwischen Rationalismus und Pragmatismus. Während aus dem Zusammenhang der Praktiken im Gerichtssaal und Forschungslabor, den Naturwissenschaften ein fruchtbares Untersuchungskonzept erwuchs, hatten die Praktiken in der Psychiatrie und im Gefängnis für die Humanwissenschaften den repressiven Zusammenhang einer überwachten Isolierung zur Folge. Die einzige Konstante, die Foucault aus den wechselhaften Verhältnissen zwischen den Praktiken und humanwissenschaftlichen Diskursen herauszulesen vermochte, war die Macht. Ihre vielfältigen Ausprägungen beginnen zwischen Richter und Angeklagtem, Arzt und Patientem, Wärter und Gefangenem, als eine Macht, die etwas ist, das sich von unzähligen Punkten aus vollzieht. Ausgehend von diesen lokalen Machtformen untersucht Foucault in seiner Machtanalytik nach der Regel der stetigen Variation die seit der Antike im Zuge der Zivilisierung erfolgten Veränderungen bis hin zu den gebündelten Verschärfungen auf gesellschaftlicher Ebene: Macht ist der Name, den man einer komplexen strategischen Situation in einer Gesellschaft gibt. Für Habermas gerät Foucault damit ins Fahrwasser der Machttheorien des bürgerlichen Pessimismus von Hobbes bis Nietzsche. Überall, auch im Universalismus der Aufklärung, im Humanismus der Befreiungsideale, im Vernunftanspruch des Systemdenkens selbst ist ein bornierter Wille zur Macht angelegt. Letztlich wird Foucaults Machtanalytik von dem Konzept des sozialen Kampfes her rekonstruierbar, wie Detel hervorhebt.

Im Gegensatz zur vierdimensionalen Universalpragmatik und ihrer Unterscheidung von verständigungsorientierten und zweckrationalen Diskursen, verstrickt sich die eindimensionale Machtanalytik Foucaults nach Habermas in Aporien, wenn er die unauflösliche Einheit der Macht- und Wissensformation in den Humanwissenschaften herausarbeiten will, der er ja selbst unterworfen ist. Seine vorgebliche Objektivität der Erkenntnis sieht sich dann nämlich in Frage gestellt (1) durch den unfreiwilligen Präsentismus einer Geschichtsschreibung, die ihrer Ausgangsituation verhaftet bleibt; (2) durch den unvermeidlichen Relativismus einer gegenwartsbezogenen Analyse, die sich selbst nur noch als kontextabhängiges praktisches Unternehmen verstehen kann; und (3) durch die willkürliche Parteilichkeit einer Kritik, die ihre normativen Grundlagen nicht ausweisen kann. Gesellschaftstheorie wird damit zu bloßer Theoriepolitik; eine Konsequenz, zu der auch der amerikanische Weg in die Postmoderne führte. Wie der grabende und wühlende Nietzsche, wollte auch Foucault die Diskursformen der Moderne einfach unterlaufen, ohne jedoch entkommen zu können: Nietzsches Begriff des Willens zur Macht und Batailles Begriff der Souveränität vereinnahmen mehr oder weniger offen den normativen Erfahrungsgehalt der ästhetischen Moderne. Und wenn Foucaults Begriff der Macht sich einen Rest von ästhetischem Gehalt bewahrt, dann verdankt er diesen der vitalistisch-lebensphilosophischen Lesart der Selbsterfahrung des Leibes. Dabei ist Sexualität für Foucault gleichbedeutend mit einer Diskurs- und Machtformation, welche die unschuldige Forderung nach Wahrhaftigkeit gegenüber den eigenen, privilegiert zugänglichen Regungen, Triebwünschen und Erlebnissen zur Geltung bringt, und die auf eine unauffällige Stimulierung der Körper, auf eine Intensivierung der Lüste und eine Formierung seelischer Energien hinwirkt. Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts zieht sich ein Netz von Wahrheitstechniken um das onanierende Kind, die hysterische Frau, den perversen Erwachsenen, das zeugende Paar zusammen - alles Orte, die von lauernden Pädagogen, Ärzten, Psychologen, Richtern, Familienplanern usw. umstellt sind. Habermas vermisst bei Foucault die positiven Aspekte in der Zivilisierung der menschlichen Natur, während Harry ihm rundheraus zustimmt; fühlt er sich doch von frustrierten Ehefrauen umgeben, die ihren Kindern keinen Spaß am Sex gönnen; intellektuellen Damen ausgesetzt, mit denen er endlos über kulturelle Themen diskutieren muss, bevor er sie ins Bett bekommt; oder in einer religiösen Tradition gefangen, die ihre Lüste nur in der Hölle auszuleben wagt. Aber musste Harry nicht dekonstruiert werden?

Wie aus dem Lehrbuch der Liebe oder der phänomenologischen Ontologie Sartres treffen sich im November 1924 die Blicke der schönen und wissbegierigen Studentin Hannah Arendt und des mit dem Sophistes vom Sinn des Seins raunenden Philosophen Martin Heidegger. Auf der platonischen Brücke der Schönheit erkennen sich Geist und Leib. Vorerst erlag der Lehrkörper aber noch der Diskurs- und Machtformation der Sexualität: Alles soll schlicht und klar und rein zwischen uns sein. Dann sind wir einzig dessen würdig, daß wir uns begegnen durften. Daß Sie meine Schülerin wurden und ich Ihr Lehrer, ist nur die Veranlassung dessen, was uns geschah. Nach diesem schlichten Anfang, begannen die beiden eine leidenschaftliche Affäre, die weit über sich hinausweisen sollte. Die Muse der Liebe bescherte dem Geist wortreiche Philosophie. Im Frühjahr 1927 erscheint Sein und Zeit, das mit einer Exposition der Frage nach dem Sinn von Sein anhebt und die Verlegenheit aus dem Sophistes aufgreift: ,,Denn offenbar seid ihr doch schon lange mit dem vertraut, was ihr eigentlich meint, wenn ihr den Ausdruck seiend gebraucht, wir jedoch glaubten es einst zwar zu verstehen, jetzt aber sind wir in Verlegenheit gekommen``. Haben wir heute eine Antwort auf die Frage nach dem, was wir mit dem Wort ,,seiend`` eigentlich meinen? Keineswegs. Und so gilt es denn, die Frage nach dem Sinn von Sein erneut zu stellen. Sind wir denn heute auch nur in der Verlegeneheit, den Ausdruck ,,Sein`` nicht zu verstehen? Keineswegs. Und so gilt es denn vordem, allererst wieder ein Verständnis für den Sinn dieser Frage zu wecken. Die konkrete Ausarbeitung der Frage nach dem Sinn von ,,Sein`` ist die Absicht der folgenden Abhandlung. Die Interpretation der Zeit als des möglichen Horizontes eines jeden Seinsverständnisses ist ihr vorläufiges Ziel. Ist die Zeit nur als der mögliche Horizont des vermeintlich zeitlosen Seins verständlich?

Hannah Arendt beendet im Sommersemester 1928 mit gerade einmal 22 Jahren bei Karl Jaspers ihre Promotion: Der Liebesbegriff bei Augustin. Versuch einer philosophischen Interpretation. Am Beispiel des Liebesbegriffs arbeitet sie darin die Doppelgestalt Augustins heraus; einerseits noch der griechischen Antike verhaftet zu sein und zum anderen bereits der katholischen Dogmatik anzugehören. In welchem Verhältnis stehen griechischer eros (bzw. römischer amor) und christliche Nächstenliebe: Die Arbeit bietet drei Analysen. Die erste beginnt mit dem amor, verstanden als appetitus, der einzigen Definition, die Augustin von dem amor gegeben hat. Am Ende der Analyse in der Darstellung der ordinata dilectio sehen wir, zu welchen Unstimmigkeiten diese Definition im Sinne Augustins selber führt und sind so gezwungen, zu einem ganz anderen Begriffzusammenhang fortzuschreiten, der in einem eigentümlich peripheren und aus der ersten Analyse nicht verständlichen Sinn in die versuchte Herleitung der Nächstenliebe aus dem amor qua appetitus schon hereinspielt. Auch die zweite Analyse läßt nur verständlich werden, als was der Nächste in der dilectio proximi geliebt wird, und erst die dritte Analyse hellt die Unstimmigkeit der zweiten auf, die sich in der Frage pointiert, wie kann der von allem Welthaften isolierte Mensch coram Deo überhaupt noch ein Interesse am Menschen haben. Dies tut sie, indem sie aus einem ganz anderen Zusammenhang die Relevanz des Nächsten erweist. Steckte bei Augustin vielleicht ein ganz weltlicher Begriff des Lebens dahinter? Für Grunenberg lag ein merkwürdiges Zusammentreffen darin, dass Arendt das Thema, das sie zu ihrem Lebensmotiv gewählt hatte, nun auch in philosophischer Form behandelte. So könnte man denn diese Arbeit auch als Versuch bewerten, die schmerzliche irdische Liebe philosophisch zu ergründen.

Die Fundamentalontolgie ihres Lehrers und Liebhabers war unterdessen zu einer Sensation geworden: Heideggers kopernikanische Wende bestand darin, daß er sich ganz dem Menschen in seinem Herauskommen aus dem Sein zuwandte und nicht den Menschen aus den Ideen entwickelte. Er bahnte sich wie ein Holzfäller seinen Weg durch den Wald der Philosophiegeschichte, um die Frage nach dem Verhältnis von Mensch und Sein aus ihren durch die Geschichte vollbrachten Verkapselungen und Verdrehungen herausschälen zu können und sie als die philosophische Grundfrage seit der Antike ins Zentrum zu stellen. Aber damit nicht genug: Er stellte der modernen Philosophie sein Denken nicht einfach entgegen, vielmehr legte er die Zeitlichkeit des Seins, das heißt auch die Geschichtlichkeit des philosophischen Denkens der Seinsfrage frei und stellte damit den klassischen Wahrheitsanspruch in Frage. Damit drehte er zugleich die metaphysische Begründung und Sinnstiftung des Seins um. Grunenberg findet aus dem Schwärmen gar nicht mehr heraus: Die Hauptthemen im ersten Teil von ,,Sein und Zeit`` waren: Das Sein des Menschen ist ein Da-Sein. Der Kern des Da-Seins ist die Alltäglichkeit. Das Da-sein des Menschen bestimmt sich von der Existenz des Menschen zwischen Angst und Tod her, nicht von Ideen oder anderen transzendentalen Sinnstiftungen. Da-sein ist als Möglichkeit in uns angelegt. Ein authentisches Da-sein ist ein In-der-Welt-sein; es ist Sorge und Fürsorge. Um zu der Möglichkeit seines Da-seins aufzuwachsen, muß der Mensch nach dem Sein fragen; nur über dieses Fragen kann er authentisches Dasein ermöglichen. Ein stets mit seiner Angst vor dem Tod in seiner Alltäglichkeit lebender Mensch wie Woody oder Mickey vermag der Seinsanalyse kaum etwas Seinserschließendes oder Welterhellendes abzugewinnen. Das Universum expandiert, ist chaotisch, wertneutral und grausam; da ist ein Da-daist bei seinem Tod lieber nicht dabei, sondern da da da ...

Heidegger scheint es um einen hermetischen Jargon der Eigentlichkeit gegangen zu sein, der als neues philosophisches Vokabular mehr durch Eitelkeit und Selbstverständnis bestimmt war als aus Wahrheitsliebe und Wahrhaftigkeit zu schöpfen versuchte. Aber auch Habermas ist des Lobes voll, wenn er in Texte und Kontexte schreibt: Die bahnbrechende Leistung von Sein und Zeit besteht darin, daß Heidegger einen entscheidenden argumentativen Schritt zur Überwindung des bewußtseinsphilosophischen Ansatzes tut. Und wie gelingt ihm diese Überwindung? Indem er eine Phänomenologie des Lebens aus den Grenzerfahrungen der persönlichen Existenz entwickelt. Die Erfahrung von Geschichte entspringt der Selbstvergewisserung des konkreten einzelnen in seiner jeweiligen Situation. Sie legt a) die hermeneutische Umdeutung von Husserls phänomenologischer Methode nahe, nötigt b) zur Auslegung der metaphysischen Seinsfrage aus dem Horizont der Zeiterfahrung und erzwingt c) die folgenreiche Umformung der Erzeugungsleistungen des transzendentalen Ich in den geschichtlich situierten Lebensentwurf eines faktisch sich in der Welt vorfindenden Daseins.

Und was schreibt der Meister selbst? Das Seiende, dessen Analyse zur Aufgabe steht, sind wir je selbst. Das Sein dieses Seienden ist je meines. Im Sein dieses Seienden verhält sich dieses selbst zu seinem Sein. Als Seiendes dieses Seins ist es seinem eigenen Sein überantwortet. Das Sein ist es, darum es diesem Seienden je selbst geht. Aus dieser Charakeristik des Daseins ergibt sich ein Doppeltes. 1. Das ,,Wesen`` dieses Seienden liegt in seinem Zu-sein. Das Was-sein (essentia) dieses Seienden muß, sofern überhaupt davon gesprochen werden kann, aus seinem Sein (existentia) begriffen werden. Kurz: Das ,,Wesen`` des Daseins liegt in seiner Existenz. 2. Das Sein, darum es diesem Seienden in seinem Sein geht, ist je meines. Dasein ist folglich nie ontologisch zu fassen als Fall und Exemplar einer Gattung von Seiendem als Vorhandenem. Und das ist nur der Anfang! Kann man derartige ,,Begriffslyrik`` anders als nur parodistisch verstehen? To be, or not to be, that is the question.

Der Sprachphilosoph Ernst Tugendhat hat sich mit dem erhabenen Ernst eines Philosophen, der Tugend hat, im Anschluss an seine einführenden Vorlesungen darum bemüht, dem ,,Heideggern`` mit sprachanalytischen Interpretationen zu Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung einen Sinn abzugewinnen. Ihm scheint die Frage nach dem Sinn von Sein die Frage nach dem Sinn des Wortes ,,ist`` in seinen verschiedenen Bedeutungen zu sein. Dabei kommt Tugendhat immerhin zu dem Ergebnis, daß Heideggers These, daß die Stimmungen Weisen des Selbstbewußtseins - des Sichverhaltens zu sich - sind, der analytischen Überprüfung standhält und als eine echte Entdeckung anzusehen ist. Aber was sind wohlwollende sprachanalytische Interpreationen wert, wenn man auf dem Wege der Sprachanalyse des Sichzusichverhaltens auch direkt zu solch einem Ergebnis kommt? Trifft Heideggers hermeneutische Fundamentalontologie nicht bloß zufällig mal ins Schwarze? Dafür spricht seine perfide Uminterpretation seiner Worthülsen aus Sein und Zeit, um sie ab 1929 der nationalrevolutionären Bewegung der Nazis anzupassen. Habermas schreibt dazu: So kann sich Heidegger, der sich schon vor 1933 für die NSDAP entschieden hatte, die ,,Machtergreifung`` in den beibehaltenen Grundbegriffen seiner Daseinsanalyse zurechtlegen.

Im Gegensatz zu dem NSDAP-Parteigänger Heidegger, musste die Jüdin Arendt nach der ,,Machtergreifung`` Deutschland fluchtartig verlassen. Ihrem völkischen ,,Dasein`` verhaftet, hätten die Führer und Hüter des deutschen Schicksals sie zu Seife verarbeitet. Über Paris gelangte sie nach New York: SIND GERETTET WOHNEN 317 WEST 95, kabelte Hannah am 22. Mai 1941 aus der freien Welt. Bevor sie als Professorin für politische Philosophie angestellt wurde, arbeitete sie als Journalistin und Essayistin für verschiedene amerikanische Verlage. In der linksliberalen Zeitschrift Partisan Review erscheint 1946 ihr Essay Was ist Existenzphilosophie? In einer interessanten Fussnote fragt sie sich darin, ob Heideggers Philosophie nicht überhaupt nur deshalb, weil sie sich mit sehr ernsten Sachen beschäftigt, ungebührlich ernst genommen worden ist. Heidegger jedenfalls hat in seiner politischen Handlungsweise alles dazu getan, uns davor zu warnen, ihn ernst zu nehmen. Angesichts der realen Komik dieser Entwicklung und angesichts des nicht weniger realen Tiefstandes politischen Denkens auf den deutschen Universitäten liegt es natürlich nahe, sich um die ganze Geschichte überhaupt nicht zu kümmern. Dagegen spricht unter anderem, daß diese ganze Art des Sich-Verhaltens so genaue Parallelen in der deutschen Romantik hat, daß man an zufällige Koinzidenz rein personal bedingter Charakterlosigkeit schwer glauben kann. Heidegger ist faktisch (hoffentlich) letzter Romantiker ..., deren komplette Verantwortungslosigkeit bereits jener Verspieltheit geschuldet war, die teils aus dem Geniewahn und teils aus der Verzweiflung stammt. Dass schlechte Metaphysik Totalitarismus begünstigt, hatte Russell bereits 1909 den Pragmatisten vorgeworfen. Arendt scheint es hinsichtlich der Romantik ähnlich zu sehen und wird ihre Gedanken aus den Erfahrungen des Antisemitismus, Faschismus und Kommunismus 1951 in ihrem Hauptwerk Ursprünge totalitärer Herrschaft zusammenhängend darstellen.

Die Philosophin hat ihren Essay zur Frage Was ist Existenzphilosophie? in folgende Kapitel unterteilt:

Denn dasselbe ist Denken und Sein. Mit diesem Motto des Parmenides begann die abendländische Philosophie, in der Hegel mit seinem System für Arendt das letzte Wort formulierte. Husserl versuchte diese uralte Beziehung zwischen Sein und Denken, die dem Menschen die Heimat in der Welt garantiert hatte, auf dem Umwege über die intentionale Struktur des Bewußtseins wiederherzustellen. Seine Phänomenologie wirkte in der Philosophie wie eine Befreiung: Husserls Insistieren ,,auf den Sachen selbst``, welches leere Spekulationen abschneidet und darauf besteht, den phänomenal gegebenen Inhalt eines Vorganges von seiner Genese abzutrennen, wirkte insofern befreiend, als nun der Mensch selbst wieder und nicht der geschichtliche oder natürliche oder biologische oder psychologische Ablauf, in den er verstrickt ist, zum Thema der Philosophie werden konnte.

Im modernen Sinne taucht das Wort Existenz nach Arendt zuerst beim späten Schelling auf. Gegen die negative Philosophie des bloßen Denkens bei Kant setzt der Romantiker Schelling die positive Philosophie, die von der Existenz ausgeht, indem sie zunächst nur das reine ,,Daß`` hat. Im Gegensatz zu der essentia, dem ,,Was`` der Wissenschaften, erfährt der Mensch in der existentia die fundamentale Abhängigkeit davon, daß er ist. Gegenüber dem transzendentalen Ich Kants geht es Schelling um das Einzelwesen. Nach ihm existiert überhaupt nichts Allgemeines, sondern nur Einzelnes, und das allgemeine Wesen existiert nur, wenn das absolute Einzelwesen es ist. Aus dem Paradies des bloßen Denkens haben nur wenige die Philosophen vertreiben wollen; unter ihnen Kierkegaard und Nietzsche.

Mit Kierkegaard beginnt die moderne Existenzphilosophie. Nach ihm befindet sich der Einzelne in dauerndem Widerspruch zu der vermeintlich dialektisch erklärten Welt im Hegelschen System, weil seine ,,Existenz``, nämlich die reine Faktizität seines Existierens in seiner ganzen Zufälligkeit (daß ich gerade ich bin und niemand anderes, und daß ich gerade bin und nicht nicht bin), weder von Vernunft vorhergesehen noch von ihr in etwas rein Denkbares aufgelöst werden kann. Kierkegaards Verzweiflung an der Philosophie erwuchs im wesentlichen folgenden Inhalten: Tod als Garant des principium individuationis, weil der Tod als das Allerallgemeinste mich gleichzeitig unausweichlich ganz allein trifft. Zufall als Garant der Realität als nur gegebener; welche mich gerade durch ihre Unberechenbarkeit und Unauflösbarkeit in Denkbares überwältigt und überzeugt. Schuld als die Kategorie alles menschlichen Handelns, das nicht an der Welt, sondern an sich selbst scheitert, sofern ich immer Verantwortungen auf mich nehme, die ich nicht übersehen kann. Die Erfahrung gänzlich allein zu sein, ein Einzelner, entspringt für Kierkegaard also aus der Angst vor dem Tode. Hierin ist ihm Heidegger gefolgt, während Jaspers an Nietzsches fröhlich-heroisches amor fati anknüpft.

Nach Heidegger ist der Sinn des Seins Zeitlichkeit und für Arendt ist es nur konsequent, wenn er das Sein letztlich für das Nichts hält: Das Nichts versucht sozusagen, das Vorgegebensein des Seins zu vernichten, sich ,,nichtend`` an seine Stelle zu setzen. Kurz: Das Nichts nichtet. Bei Sartre wird dieser Ansatz freier und klarer entwickelt werden. In der Fundamentalontogie Heideggers fallen im Menschen Essenz und Existenz zusammen. Hat er damit die Einheit von Sein und Denken bei Parmenides wieder eingeholt? Jedenfalls hat der Mensch keine Substanz, sondern geht darin auf, daß er ist; man kann nicht nach dem Was des Menschen fragen wie nach dem Was eines Dinges, sondern nur nach dem Wer des Menschen. Philosophie wird bei Heidegger zur besonderen existentiellen Seinsmöglichkeit des Daseins. Dabei geht es dem Dasein als des Seins des Menschen in seinem Sein um es selbst. Das Wer des Daseins ist das Selbst: als In-der-Welt-sein hat der Mensch sich nicht selbst gemacht, sondern ist in dieses sein Sein ,,geworfen``. Aus der Geworfenheit versucht er durch den ,,Entwurf`` im Vorlaufen zum Tode als seiner äußersten Möglichkeit wieder herauszukommen. Aber ,,in der Struktur der Geworfenheit sowohl wie in der des Entwurfes liegt wesenhaft eine Nichtigkeit``. Sollte nicht jeder Mensch, dem seine Nichtigkeit bewusst wird, freiwillig aus dem Leben scheiden? Diese Konsequenz wird Camus diskutieren. In der mit dem Tod gesetzten Nichtigkeit des Daseins kommt es nur noch auf das Selbst an. In der absoluten Vereinzelung dem Tode gegenüber, stellt sich heraus, daß das Selbst der eigentliche Gegenbegriff zum Menschen ist.

Dem von Heidegger verfolgten Sein zum Tode setzt Jaspers die Existenz als eine Form der menschlichen Freiheit entgegen. Für ihn ist der Mensch im Dasein mögliche Existenz, d.h. das Sein ist so, daß dieses Dasein möglich ist. Das Sein als solches ist überhaupt nicht erkennbar, sondern wird nur als ein Umgreifendes erfahren. Zum Philosophieren werden die Menschen aus Grenzsituationen heraus getrieben. Die Erfahrungen von Tod, Zufall, Schicksal und Schuld hatten Kierkegaard an der Philosophie verzweifeln lassen; bei Jaspers weist die Möglichkeit, in Kommunikation zu sein, aus der antinomischen Struktur des Daseins heraus. Für Arendt ist die Existenzphilosophie mit Jaspers aus der Periode ihrer Selbstischkeit herausgetreten. Mit diesem optimistischen Ausblick beschließt sie ihren Essay.

Um ,,Kommunikation`` ging es auch dem Lebemann Sartre, der gerne diskutierend und kettenrauchend beim Wein im Café saß oder kopulierend mit jungen Existentialistinnen im Hotelbett die Daseinsmöglichkeiten auslotete. Heidegger achtete beim existentiellen Genuss seiner seinsverfallenen Studentinnen auf Verschwiegenheit, wenngleich seine Frau die Affären zu tolerieren hatte. Sartre konnte seine zahlreichen Liebschaften in der abgeklärten erotischen Freundschaft mit der attraktiven und intellektuellen Simone de Beauvoir offen ausleben. Die beiden bildeten das Intellektuellen-Paar, von dem Nietzsche mit Lou Salomé nur geträumt hatte. Jean-Pauls und Simones gemeinsamer existentieller Entwurf aus freier Liebe, situativer Literatur und gelebter Philosophie wurde nicht nur für Existentialisten zum Vorbild, sondern auch von der Jugendbewegung der swinging sixties aufgegriffen. Sartres und de Beauvoirs Romane und Essays ebenso wie seine Dramen wurden viel gelesen, diskutiert und - von Woody Allen auch parodiert. In Annie Hall spielt der Filmemacher mit dem Namen auf Sartre an und in Manhattan mit der kleinen, gedrungen unscheinbaren Gestalt des vormaligen Liebhabers Mary's, den sie Ike gegenüber als wahren erotischen Supermann gepriesen hatte. Denn beim eher hässlichen und zu klein geratenen Jean-Paul kam es nicht auf Äußerlichkeiten an, wenn die jungen Geistesblüten ihm nachstellten bzw. er mit ihnen leichtes Spiel hatte. Viel lieber werden sie sich von ihm den Existentialismus praktisch eingeführt haben lassen, als allein im Bett seine dicke Schwarte lesen zu müssen. Deren Lektüre ist ob ihrer verschrobenen ,,Begriffslyrik`` eine ähnliche Zumutung wie Heideggers gebundene Seinsverfassung. Wie Frank ironisch anmerkt, fanden bei den meisten Lesern lediglich die vier, fünf theorieillustrierenden Passagen anklang: vom Menschen, der gewandt in die Rolle eines Kellners schlüpft, vom Möglichkeitstaumel des Spielers, vom unwahrhaftig verliebten Paar; vom Blick des anderen oder vom Tod, der nie wirklich ,,meiner`` werden kann. Der Existentialismus Sartres kann als Philosophie eines Lebemannes verstanden werden. Zu seiner Popularität trug wesentlich das öffentlich-literarische Leben des Paares Jean-Paul/Simone bei. Denn nur selten wird Philosophie als Lebensform auch wirklich vorgelebt, und zwar nicht nur in der Karikatur des grüblerisch-verschrobenen Sonderlings, sondern als lebenslange produktive Philosophengemeinschaft unter Einbeziehung wechselnder erotischer Freundschaften.

In seinem Essay Der Existentialismus ist ein Humanismus verteidigt Sartre sich 1946 gegen die Vorwürfe der Kommunisten und gibt zugleich eine Einführung in seinen atheistischen Existentialismus: Wenn Gott nicht existiert, so gibt es zumindest ein Wesen, bei dem die Existenz der Essenz vorausgeht, ein Wesen, das existiert, bevor es durch irgend einen Begriff definiert werden kann, und dieses Wesen ist der Mensch oder, wie Heidegger sagt, das Dasein. Was bedeutet hier, daß die Existenz der Essenz vorausgeht? Es bedeutet, daß der Mensch erst existiert, auf sich trifft, in die Welt eintritt, und sich erst dann definiert. Dabei ist der Mensch nichts anderes als das, wozu er sich macht. Das ist das erste Prinzip des Existentialismus. Als zweites Prinzip könnte gelten: Der Mensch ist dazu verurteilt, frei zu sein. Verurteilt, weil er sich nicht selbst erschaffen hat, und dennoch frei, weil er einmal in die Welt geworfen, für all das verantwortlich ist, was er tut. Die Freiheit der Wahl ist stets mit einer existentiellen Angst verbunden, da Handlungsfolgen zwar verantwortet werden müssen aber nie vollständig überschaut werden können. In letzter Konsequenz heißt das, indem sich der Mensch wählt, wählt er immer auch die ganze Menschheit. Denn was geschähe, wenn alle so handelten? Allein in einer sinnlosen Welt unter einem Sternenhimmel, der nur der Abglanz eines chaotischen, wertneutralen und grausamen Universums ist, haben wir selbst unser Sein zu wählen und damit ein wenig Sinn zu stiften. Seinem Gefühl zu folgen, hilft dabei allerdings wenig; denn es entsteht erst aus den Handlungen, die wir vollziehen. Der Mensch ist nichts anderes als sein Entwurf, er existiert nur in dem Maße, in dem er sich verwirklicht, er ist also nichts anderes als die Gesamtheit seiner Handlungen, nichts anderes als sein Leben. Indem der Mensch trotz seiner Subjektivität stets in Überschreitung auf ein menschliches Universum hin lebt, lebt er auch humanistisch. D.h. der existentielle Sinn von Humanismus meint: der Mensch ist ständig außerhalb seiner selbst; indem er sich entwirft und verliert außerhalb seiner selbst, bringt er den Menschen zur Existenz, und andererseits kann er existieren, indem er transzendente Ziele verfolgt.

Um der politischen Kritik zu begegnen, hat Sartre seinen Existentialismus als Humanismus verstanden. Philosophisch knüpft er aber an Descartes, Hegel, Husserl und Heidegger an. D.h. er verbindet französischen Rationalismus mit preußischer Dialektik, deutscher Phänomenologie und germanischem Existentialismus. Frank fasst zusammen: Von Hegel übernimmt Sartre die Methode der dialektischen Fortbestimmung von Begriffen und entwickelt das Bewusstsein aus der begrifflichen Fortbestimmung des Nichts. Von Husserl läßt sich Sartre auf den Weg der genauen Phänomenanalyse bringen, die dem Grundsatz folgt, dass jedes Bewusstsein Bewusstsein von etwas ist. Vom frühen Heidegger lässt sich Sartre die Einsicht vermitteln, daß die Frage nach dem Sein aus der Fraglichkeit des Seienden heraus zu beantworten ist: dem Seienden, dem es in seinem Sein um sein Sein geht, dem Dasein. Sartres Auffassung vom Sein kann mit dem Umgreifenden Jaspers verglichen werden: Es ist Grund allen Erscheinens, aber erscheint selbst nicht, es macht, daß es Objekte und Eigenschaften überhaupt gibt. Zum Verweben von Phänomenologie und Ontologie bringt Sartre Descartes ins Spiel, indem er ein präreflexives Selbstbewußtsein als Seins-Kanditat unterstellt und den Primat der Erscheinung ins Sein zurückverlegt. Der französischen Bedeutung von néant und rien entsprechend, bezieht sich Sartre in seinem Titel Das Sein und das Nichts bloß auf das relativ Nicht-Seiende des néant. Die Seinsweise des Bewusstseins meint damit zweierlei: den negativen Bezug aufs Sein, ohne den es sich in gar nichts (rien) auflösen würde, und eine innere Durchsichtigkeit und Leere, die Sartre auch Substanzlosigkeit nennt (und über die Woody Allen sich gerne lustig macht).

Sartre hat seinen Versuch einer phänomenologischen Ontologie in folgende Teile und Kapitel untergliedert:

Mittels Phänomenanalyse begibt sich Sartre einleitend auf die Suche nach dem Sein. Und was findet er? Auf dem Weg dorthin lässt er zunächst all die beliebten philosophischen Dualismen hinter sich und wird fasziniert der Unerschöpflichkeit im Unendlichen des phänomenalen Seins gewahr. Weiter der idealistischen Formel des esse est percipi folgend, droht er in den infiniten ontologischen Regress ihrer Selbstanwendung zu geraten. Sartre entgeht dem Regress mit der existentialistischen Formel, nach der die Existenz der Essenz vorangeht. Denn das percipi ebenso wie das cogito kann sich nur auf das Sein selbst gründen, nicht aber auf ein Sicherscheinen. Damit besteht zwischen Sein und Cogito folgende traditionelle Wechselbeziehung: Das An-sich ist Seinsgrund des Cogito, das Cogito ist Erkenntnisgrund des Seins. Das Sein scheint im Bewusstsein auf, indem es das Bewusstsein zum Erscheinen bringt. Für das Bewusstsein gibt Sartre folgende Definition: Das Bewußtsein ist ein Seiendes, dem es in seinem Sein um dieses selbst geht, insofern dieses Sein ein Sein in sich einbezieht, das ein anderes als es selbst ist. Die Existenz ist das subsistente (sich selbst unterhaltende) Sein des Selbstbewusstseins. Und das dem reflexiven cogito vorangehende präreflexive cogito ist das gesuchte Sein. Frank dröselt den einleitenden ontologischen Beweis Sartres wie folgt auf:

  1. Das Fassen des Gedankens ,,cogito`` impliziert Existenzbewußtsein.
  2. Das Cogito ist sich präreflexiv durchsichtig.
  3. Zur Durchsichtigkeit gehört Einsicht in seine Substanzlosigkeit (Nichtigkeit).
  4. Aus 1. und 3. folgt, daß das Sein des Bewußtseins nicht sein eigenes Sein sein kann, daß es vielmehr parasitär auf einem Sein aufruht, das nicht es selbst ist, aber auf das es vorstellend gerichtet ist.

Sartre fasst seine Argumentation kurz und bündig so zusammen: Das Bewußtsein ist Bewußtsein von etwas: das bedeutet, daß die Transzendenz konstitutive Struktur des Bewußtseins ist; das heißt, das Bewußtsein erwächst ruhend auf einem Sein, das nicht es (das Bewußtsein) ist. Das nennen wir den ontologischen Beweis. Ausgehend von der reinen Erscheinung und davon, daß das Bewußtsein in seinem Sein ein nichtbewußtes und transphänomenales Sein enthält, ist Sartre beim vollständigen Sein angekommen. Die einfache Formal: das Sein ist, was es ist, bezeichnet dabei zunächst einen besonderen Seinsbereich: den des Seins an sich, demgegenüber das Sein des Für-sich als das bestimmt werden muss, was es nicht ist, und als nicht das, was es ist. Damit sind zwei Seinstypen zu unterscheiden: das An-sich und das Für-sich. Am Schluss der Einleitung stellt Sartre die Fragen, um derentwillen er das Buch überhaupt geschrieben hat: Was ist der Sinn des Seins, insofern es in sich diese beiden radikal getrennten Seinsbereiche begreift? Welche andere Lösung als die gescheiterten Versuche des Idealismus und Realismus ist denkbar? Und wieso kann das Sein des Phänomens transphänomenal sein?

Den Ursprung der Verneinung beginnt Sartre mit der Befragung. Für Frank wendet er damit Heideggers Umschreibung des Daseins in eine des Bewusstseins, dem in seinem Sein sein Sein in Frage steht. Sartre beschließt seine Befragung mit der Frage nach dem Nichts: Die notwendige Bedingung dafür, daß es möglich ist, nein zu sagen, ist, daß das Nicht-Sein ununterbrochen anwesend ist, in uns und außer uns, das heißt, daß das Nichts das Sein heimsucht. Aber woher kommt das Nichts? Klarerweise gilt zunächst, daß das Sein ist und daß das Nichts nicht ist. Da also das Nicht-Sein leer an Sein ist, gibt es das Nicht-Sein nur auf der Oberfläche des Seins. In diesem Zusammenhang hätte Boris angemerkt, dass er nur dann eine leere Leere im Zentrum seines Seins spüre, wenn er nicht gerade Völlegefühl aufgrund einer vollen Leere habe. Bringt uns das Hungergefühl vielleicht weiter beim Verständnis des Nichts? Für Sartre wäre das die falsche Fährte; denn nicht im Hunger des Leibes, sondern in der existentiellen Angst scheint dem Dasein das Nichts auf. Zu den Haltungen der ,,menschlichen Realität``, die ein ,,Verständnis`` des Nichts beinhalten, zählt der Haß, das Verbot, die Reue usw. und es gibt sogar für das ,,Dasein`` eine ständige Möglichkeit, sich ,,angesichts`` des Nichts zu befinden und es als Phänomen zu entdecken: das ist die Angst. Die Frage nach dem Sein hat auf das Nichts als ihren Urgrund und Ursprung verwiesen. Aber wo kommt das Nichts her? Sartres Antwort macht Gebrauch von der im Französischen möglichen Passivform des Seins, die nur schwer ins Deutsche zu übersetzen ist: Das Nichts ist nicht, das Nichts ,,ist zu einem gewesenen geworden``; das Nichts nichtet nicht, das Nichts ,,ist genichtet``.

Welches Sein, das nicht das An-sich sein könnte, käme dafür in Frage, die Eigentümlichkeit aufzuweisen, das Nichts zu nichten? Das Sein, durch das das Nichts in die Welt kommt, ist ein Sein, dem es in seinem Sein um das Nichts des Seins geht: das Sein, durch das das Nichts in die Welt gelangt, muß sein eigenes Nichts sein. Dieses Sein ist natürlich die Freiheit. Aber was muß die Freiheit sein, wenn durch sie das Nichts in die Welt kommen soll? Na? Genau das menschliche Sein, das seine Vergangenheit aus dem Spiele nimmt und sein eigenes Nichts absondert. Richtig! Und wie das Nichts wird auch die Freiheit in der Angst erfahrbar: Das Schwindelgefühl ist Angst in dem Maße, als ich mich davor fürchte, nicht sowohl in den Abgrund zu fallen, als vielmehr mich hinabzustürzen. Und die Angst vor der Vergangenheit? Es ist die des Spielers, der sich freiwillig entschlossen hat, nicht mehr spielen zu wollen. Die Freiheit, die sich uns in der Angst entdeckt, kann gekennzeichnet werden durch das Dasein jenes nichts (rien), das sich zwischen Motiv und Akt einschiebt. Dabei sind wir immer wieder ,,in Situation``, wie der Spieler, der von neuem die synthetische Wahrnehmung einer Situation vollziehen muß, die ihm zu spielen untersagt.

Im Gegensatz zu Freuds freiheitslähmender Mythologie des Unbewussten ist das Bewusstsein bei Sartre trotz seiner Selbstdurchsichtigkeit in der Lage, vor der Angst zu fliehen: Wenn ich meine Angst bin und zugleich vor ihr fliehe, setzt das voraus, daß ich in bezug auf das, was ich bin, eine ungewöhnliche Einstellung haben kann, daß ich also Angst sein kann in Gestalt ,,es nicht zu sein`` und daß ich über eine in der Tiefe der Angst nichtende Gewalt verfügen kann. Diese nichtende Gewalt nichtet die Angst, insoweit ich sie fliehe, und vernichtet sich selbst, insoweit ich sie bin, um sie zu fliehen. Das ist das, was man die Unwahrhaftigkeit nennt. Das mauvaise foi wird allerdings besser übersetzt durch Schlechtgläubigkeit oder Selbsttäuschung. Was muß der Mensch in seinem Sein sein, wenn er unwahrhaftig sein können soll? Sartres Antwort fällt der Frage entsprechend sehr allgemein aus. Es sind die zweifachen Eigenschaften des menschlichen Seins, die den widersprüchlichen Aspekten der Unaufrichtigkeit zugrunde liegen: Faktizität und Transzendenz sowie Für-sich-Sein und Für-Andere-Sein. Grundsätzlich geht es darum, die menschliche Realität als ein Sein zu konstituieren, das ist, was es nicht ist, und das nicht ist, was es ist. Sartre erläutert diese dialektischen Stilblüten am Beispiel eines Kaffeehauskellners, der für die Gäste nur eine Rolle spielt oder einer Frau, die sich beim ersten Rendezvous nicht einzugestehen vermag, dass sie sich verliebt hat. Selbsttäuschungen werden auch immer wieder in den Filmen Allens thematisiert; wenn z.B. Ike in Manhattan sich darüber etwas vormachen möchte, dass er Tracey und Mary Yale nicht mehr liebt oder Cliff in Crimes nicht wahrhaben will, dass auch Halley bloß eine Karrieristin ist und Lester nicht ernsthaft eine Dokumentation von ihm erwartet. Einen weiteren Fall von Schlechtgläubigkeit schildert Paasilinna. Er ereignete sich einstmals am Rande des Waldes der ,,gehenkten Füchse``. In einer Holzfällerhütte sitzt ein Major und spielt gegen sich selbst um Geld Patience. Verliert man nun große Summen gegen sich selbst und gibt sie aus, ist ein hohes Maß an Selbsttäuschung erforderlich, um nicht das Gefühl zu haben, sich selbst zu bestehlen.

In Verbindung mit der Unwahrhaftigkeit wandelt Sartre die Maxime Nietzsches ab: Wenn der Mensch ist, was er ist, dann ist die Unwahrhaftigkeit für immer unmöglich, und der Freimut hört auf, sein Ideal zu sein und wird sein Sein; aber ist der Mensch denn das, was er ist, und wie kann man das sein, was man ist, da man doch als Seinsbewußtsein ist? Wenn der Freimut (oder die Echtheit) ein allgemeingültiger Wert ist, dann versteht es sich von selbst, daß seine Maxime ,,man muß sein, was man ist`` nicht ausschließlich als regulatives Prinzip für die Urteile und Begriffe dient, durch die ich ausdrücke, was ich bin. Der Freimut stellt nicht nur einfach ein Ideal für das Erkennen auf, sondern ein Seinsideal; er bietet uns eine absolute Übereinstimmung des Seins mit sich selbst als den Seinsprototyp an. In diesem Sinne müssen wir uns zu dem machen, was wir sind. Im Film spielen die Darsteller die Rollen des Autors, aber sind wir nicht auch im Leben häufig Rollenspieler? Wir sind stets irgendeine unserer Haltungen, eine unserer Verhaltensweisen; wie der Schönredner, der das Reden spielt, weil er nicht Redender sein kann. Aber wie verhält es sich mit der Traurigkeit? Bin ich diese Traurigkeit, die ich bin, nicht in der Weise, das zu sein, was ich bin? Was ist Traurigkeit denn, wenn nicht die intentionale Einheit, die das Insgesamt meiner Verhaltensweisen vereinigt und führt? Ist Traurigkeit nicht letztlich selbst eine Verhaltensweise, die als magische Zuflucht vor einer allzu bedrängenden Situation erscheint? Nach den unwahrhaftigen Verhaltensweisen behandelt Sartre die ,,Wahrhaftigkeit`` in der Unwahrhaftigkeit und kommt zu folgendem Ergebnis: Die Vertrauensseligkeit will das ,,Nicht-glauben-was-man-glaubt`` im Sein fliehen, die Unwahrhaftigkeit flieht das Sein des ,,Nicht-glaubens-was-man-glaubt``. Zur Illustration der Vertrauensseligkeit könnten Louise aus Money oder Hannah herangezogen werden. Louise kauft ihrem ,,Helden`` die aufschneiderrischsten Geschichten ab und Hannah sieht einfach nicht, wie ihr Mann im Liebestaumel ihrer Schwester nachstellt.

Die Verneinung hat Sartre auf die Freiheit gebracht und diese verweist ihn auf die Unwahrhaftigkeit und die Unwahrhaftigkeit auf das Sein des Bewußtseins als Bedingung ihrer Möglichkeit. Wie bereits angesichts der relationalen Bestimmung des Selbst bei Kierkegaard, werden Allen auch bei Sartres Seinsgesetz die Tränen in die Augen geschossen sein: Das Seinsgesetz des Für-sich, als ontologisches Fundament des Bewußtseins, ist, selbst zu sein in der Form der Anwesenheit bei sich. Das Für-sich ist anwesend bei sich, wie konnte man darüber in Zweifel geraten? Lag der Grund dafür nicht einfach im Für-sich? Selbstverständlich; denn das Für-sich gründet als genichtetes An-sich nicht nur sich selbst, sondern mit ihm erscheint überhaupt zum ersten Mal der Grund. Aber auch wenn das Für-sich als solches sein eigener Grund ist, droht ihm die Faktizität, überflüssig zu sein: Ebenso, wie meine nichtende Freiheit sich selbst durch die Angst erfaßt, ist das Für-sich sich seiner Faktizität bewußt: es hat das Gefühl seiner völligen Beliebigkeit, es erfaßt sich als für nichts daseiend, als überflüssig.

Es gibt schlimmeres als überflüssig zu sein, aber der Faktizität steht ja noch die Transzendenz entgegen: Die Untersuchung der negativen Verhaltensweisen und der Unwahrhaftigkeit hat uns erlaubt, die ontologische Betrachtung des cogito in Angriff zu nehmen, und das Sein des cogito erschien uns als das Für-sich-sein. Vor unseren Augen hat dieses Sein sich auf den Wert und das Mögliche hin transzendiert, wir konnten es nicht in die substanzialistischen Grenzen der Augenblicklichkeit des cartesischen cogito einschließen. Eben deshalb können wir uns jedoch nicht mit den Resultaten begnügen, die wir bisher erreicht haben: verweigert das cogito die Augenblicklichkeit und transzendiert es sich auf seine Möglichkeiten hin, so kann das nur in einem zeitlichen Überstieg sein. Und nicht nur die Zeitlichkeit transzendiert das Für-sich, sondern auch die Erkenntnis; denn sie ist nichts anderes als die Anwesenheit des Seins beim Für-sich und rührt daher, daß sich das Für-sich, was es ist, vom An-sich anzeigen läßt, das heißt, in seinem Sein Seinsbeziehung ist. Wie gut, dass Sartre mit seinem Körper nicht auf Kriegsfuß stand; denn auch der erscheint ihm als etwas Erkanntes. Und ein Lebemann entdeckt mit seinem Körper sogar eine neue Seinsweise der menschlichen Wirklichkeit, die ebenso fundamental ist wie das Für-sich-sein und die er das Für-Andere-sein nennt.

Das Für-andere erschließt sich dem Für-sich z.B. in den Gefühlen der Scham oder des Stolzes. Die Gefühle haben für Sartre gleichsam seinserschließenden Charakter. Und die Modalitäten der Anwesenheit Anderer umfassen neben der Subjektheit auch die Objektheit: Ich sehe diesen Menschen, ich erfasse ihn als Objekt, gleichzeitig auch als Menschen. Was bedeutet das? Im Blick erfahren die Menschen für Sartre ein erstes, entferntes ,,Mit-dem-Anderen-verkoppelt-Sein``. Das fortwährende Sehen und Gesehen-werden bedeutet ein Pendeln zwischen Subjekt und Objekt, das heißt, die ständige Möglichkeit für ein Subjekt, das mich sieht, sich an die Stelle des von mir gesehenen Objektes zu setzen. Das ,,Vom-Anderen-gesehen-werden`` ist die Wahrheit des ,,den-Anderen-Sehens``. In ihren jeweiligen Blicken erscheinen die Körper der Anderen bloß in ihrer Gegenständlichkeit. Aber zu was werden sie bei einer Annäherung? Sie offenbaren sich als Leiber, die man fesseln und schlagen, lecken und lutschen kann. So einfach wie die sprachlos forschende Jugend zwischen Blick und Fick macht es sich der Philosoph natürlich nicht. Für ihn ist zunächst einmal evident, daß mein Bewußtsein seinen Leib nur als Bewußtsein existieren kann. Und was droht dem Volk ohne Brot und Spiele, wenn es nichts ,,zu existieren`` gibt? Bei Allen war es chronische Unzufriedenheit oder spießiger Stumpfsinn. Für Sartre verbleiben Langeweile oder Ekel als Rückstände verwirkter Existenz; denn das Für-sich entwirft sich auch dann, wenn vom Bewußtsein kein bestimmter Schmerz, kein bestimmtes Behagen oder Mißbehagen ,,existiert`` wird, über eine reine und sozusagen qualitätslose Zufälligkeit hinaus. Dies, daß mein Für-sich ständig einen faden und fernelosen Geschmack erfaßt, der mich sogar in meiner Bemühung noch, mich von ihm zu befreien, begleitet und der mein Geschmack ist, dies ist der existentielle Ekel, d.h. ständig offenbart meinem Bewußtsein ein leiser, aber unüberwindlicher Ekel meinen Leib. In seinem gleichnamigen Roman ist der Ekel schlagartig da: Die Menschen. Man muß die Menschen lieben. Die Menschen sind bewundernswert. Ich möchte kotzen - und mit einem Schlag ist er da: der Ekel. Als Virgil sich in die bezaubernde Louise verliebte, wurde ihm übel. Hatte ihn der existentielle Ekel heimgesucht? Oder waren ihm seine Versagungsängste auf den Magen geschlagen? Schließlich galt es, allen drei Seinsdimensionen des Leibes gerecht zu werden! Ich existiere meinen Leib: das ist seine erste Seinsdimension. Mein Leib wird vom Anderen gebraucht und erkannt: das ist seine zweite Dimension. Insofern ich jedoch für den Anderen bin, enthüllt sich mir der Andere als das Subjekt, für das ich Objekt bin. Sollte Virgil als lebender Dildo zum bloßen Sexualobjekt degenerieren? Aber er sagte sich: Ich existiere für mich als vom Anderen als Leib Erkannter. Das ist die dritte ontologische Dimension meines Leibes.

Die ontologische Stufenleiter hatte Woody bereits mit Harlene erklommen. Warum sollte es Virgil da besser ergehen? Von Wittgenstein hatte er gelernt, dass man die Leiter zurückstoßen konnte, wenn man oben angekommen war. Für Sartre zählte nur noch die einzuerdringende Seinstiefe, denn die Seinstiefe meines Leibs-für-mich ist dieses ständige ,,Außen`` meines intimsten ,,Innen``. Aber wusste Virgil noch wie ihm geschah? Im Ehebett geriet ihm sein geschwollener Zeh unversehens zum ,,Weltstück``. So gewählt vermochte sich aber nur Sartre auszudrücken: Der Leib ist das Werkzeug, das ich bin. Er ist meine Seinsfaktizität als ,,Weltstück``, insofern ich diese Faktizität auf mein In-der-Welt-Sein hin überschreite. Wohin diese ,,Überschreitung`` führte, zeigte sich alsbald in der Schwangerschaft Louisens. War das vielleicht die ,,transzendierte Transzendenz``, von der Sartre sprach? Der hatte jedenfalls gut Reden: Ich ergreife die transzendierte Transzendenz des Anderen als Leib-in-Situation und ich erfahre mich in meiner Entfremdung zugunsten des Anderen auch als Leib-in-Situation. Für ihn ist es die Fremdexistenz, die ihm das Sein enthüllt und bereits ein ,,Blick`` lässt ihn der Besessenheit anheim fallen: Wenn wir von der ersten Enthüllung des Anderen als Blick ausgehen, müssen wir zugeben, daß wir unser unfaßliches Für-Andere-Sein in Gestalt einer Besessenheit erfahren. Jungejunge, aber in der Liebe hat noch jeder seine Meisterin gefunden; denn das Ideal des liebenden Inswerksetzens ist die entfremdete Freiheit. Lieben heißt, eine Freiheit besitzen wollen und ist insofern eine widerspruchsvolle Bemühung. Für einen Hedonisten ist es da allemal lustvoller, das Bewusstsein in der Begierde gleich ganz in Leib zu verwandeln. Ist die Begierde nicht eine zauberische Verhaltensweise? Der Existentialist entlarvt aber sogleich auch ihr unmögliches Ideal: die Tanszendenz des Anderen als reine Transzendenz und dennoch als Leib besitzen; den Anderen auf seine einfache Faktizität reduzieren, weil er dann inmitten der Welt ist, aber doch erreichen, daß diese Faktizität eine fortwährende Vergegenwärtigung seiner nichtenden Transzendenz ist. Nun ja, das war wohl nichts. Böte nicht vielleicht der Sado-Masochismus einen Ausweg? Oder der Rückzug ins Für-sich? Aber wie sollte man den ständigen Blicken der Anderen entkommen?

Nachdem er sich auf die Suche nach dem Sein begeben hatte, das Problem des Nichts löste, die ontologischen Strukturen des Für-sichs und des Für-andere analysierte, geht Sartre zum Haben, Machen, Sein über. Hat nicht die kreativ-produktive Tätigkeit so manchem Künstler und Wissenschaftler einen dauerhaft gesteigerten Endorphinspiegel beschert? Darum geht es dem Existentialisten aber nicht. Der fragt sich vielmehr: Was heißt wirken? Warum wirkt das Für-sich? Wie kann es wirken? Und er empfiehlt es sich, folgendes noch einmal zu befragen: die Nichtung, die Faktizität und den Leib, das Für-Andere-Sein, die eigentümliche Natur des An-sich. Was sonst, als die Freiheit ist ihm dabei die erste Bedingung der Tätigkeit. Die Freiheit ist nichts anderes als die Existenz unseres Willens oder unserer Affekte, insofern diese Existenz die Nichtung der Faktizität ist, das heißt die eines Seienden, das sein Sein in der Weise ist, daß es zu sein hat.

Wir sind gewesen worden, werden gelebt und sitzen in einem Zug, der uns mit Sicherheit in den Tod fährt. Und dennoch sind wir frei? Um im Bild Allens und Fellinis zu bleiben, können wir an jeder Weiche entscheiden, in welche Richtung wir fahren und in welchem Bahnhof wir halten wollen. Anlass, Antrieb und Ziel sind dabei für Sartre drei untrennbare Ausdrücke für das Hervorbrechen eines lebendigen und freien Bewußtseins, das sich auf seine Möglichkeiten hin entwirft und sich von ihnen bestimmen läßt. Sartre ist Lebemann genug, um die Begriffslyrik seiner phänomenolgischen Ontologie auf die menschliche Realität zu beziehen, für die sich das Sein natürlich auf Tun reduziert und damit in Handlungstheorie aufgeht. Innere Antriebe und äußere Anlässe wirken auf die Intention ein, die sich im Akt ausdrückt, der das Ziel realisiert. Diese Bewegung findet im Ziel aber nicht ihren Abschluss, da seine Realisierung wiederum auf die Antriebe und Anlässe zurückwirkt. Die Gefühle unseres Leibes wie der Charakter unserer Persönlichkeit sind dabei nur eine Folge des Zusammenhangs zwischen abwägender Überlegung und willensbestimmter Entscheidung, die sich auf dem Weg von der Intention zum Ziel jeweils abwandelnd reorganisieren. Gefühle und Charakter sind also ständig in Wandel begriffen und für einen Existentialisten nicht als Ruhekissen oder Rettungsanker geeignet, wie es die Romantiker so genre hätten. Dem praktischen Kontext des Handelns entspricht die existentielle Situation zwischen nichtender Freiheit und faktischer Geworfenheit. So wie die Freiheit unentbehrlich für die Entdeckung meiner Geworfenheit ist, enthüllt mir die freie Wahl zugleich die Geworfenheit meines Platzes, da zu sein und nicht hier. Es gibt Freiheit nur in Situation, und es gibt Situation nur durch Freiheit. Die menschliche Realität trifft überall auf Widerstände und Hindernisse, die sie nicht geschaffen hat; aber diese Widerstände und Hindernisse haben Sinn nur in der und durch die freie Wahl, die die menschliche Realität ist. Sartre bestimmt das, was er In-Situation-Sein nennt, im Anschluss an die verschiedenen Darstellungen, die sich auf meinen Platz, meine Vergangenheit, meine Umgebung, meinen Tod und meinen Nächsten erstrecken.

Ich bin da: nicht hier, sondern da; an meinem Platz, der ich bin, der aber zugleich ein Bezug ist. Daß ich meinen Platz existiere, heißt, daß ich da zu sein habe. Der Bezug stellt für Sartre wieder etwas her zwischen dem, was ich bin, und dem, was ich nicht bin. Dabei habe ich folgendes auszuführen: 1. dem, was ich bin, zu entrinnen und es zu nichten, und zwar so, daß das, was ich bin, obwohl es mittlerweile existiert wird, sich dennoch als Glied eines Bezuges enthüllen kann. 2. Durch innere Verneinung den ,,dies-da`` - inmitten - der Welt entrinnen, die ich nicht bin, und durch die ich mir verkünden lasse, wer ich bin. Welche möglichen Welten mögen diesen dialektischen Bezügen genügen? Aber letztlich kommt es ja nur auf das Ziel an: Man muß also sagen, daß die Geworfenheit meines Platzes mir in und mittels der freien Wahl enthüllt wird, die ich über mein Ziel treffe.

Wenn ich mich als meinen Platz existiere komme ich nicht umhin, eine Vergangenheit zu haben. So ist für Sartre die Gestalt beschaffen, die hier die ,,Notwendigkeit meiner Kontingenz`` annimmt. Zwei exitentielle Charakteristika bestimmen nun aber das Für sich: 1. nichts ist im Bewußtsein, was nicht Seinsbewußtsein wäre; 2. in meinem Sein geht es um mein Sein - das soll heißen, daß nichts mir zu-kommt, das nicht gewählt wäre. Und Sartre folgert: Die Bedeutung der Vergangenheit ist also direkt abhängig von meinem gegenwärtigen Michentwerfen. Das Insgesamt der ,,Gewesenheitsschichten`` wird durch die Einheit meines Entwurfs zusammengefügt. Genau wie die Gesellschaft hat auch die menschliche Person eine denkmalhafte und in Aufschub befindliche Vergangenheit. Abhängig von unserer jeweiligen Situation, in der wir uns in Hinblick auf die Zukunft zielorientiert entwerfen, wer wir sein wollen, beurteilen wir auch in je verschiedener Weise unsere Vergangenheit. So wie der Platz fügt sich die Vergangenheit in die Situation ein, wenn das Für-sich durch seine Zukunftswahl seiner vergangenen Geworfenheit einen Wert verleiht, eine rangmäßige Ordnung und eine Gewichtigkeit, von denen aus sie dessen Akte und und Verhaltensweisen motiviert.

Beim Einnehmen und Wechseln meines Platzes enthüllt sich mir eine Umgebung; es sind die Zeug-Dinge, die mich umgeben, samt ihren eigentümlichen Feindlichkeits- und Zeugkoeffizienten. Ständig erfahre ich Widerstände und Misshelligkeiten, die zu überwinden sind oder an denen ich zu scheitern drohe. Die synthetische Bildung aus diesen fortwährenden ,,Widerfahrnissen`` konstituiert die Einheit dessen, was die Deutschen ,,Umwelt`` nennen und diese ,,Umwelt`` kann nur innerhalb der Grenzen eines freien Sichentwerfens entdeckt werden, das heißt der Wahl der Ziele, die ich bin. Aber woher rührt die Feindseligkeit der Dinge her? Sind wir nicht im Schoß der Natur entstanden, die reichlich Lebensmittel für uns bereit hält? Wir haben allerdings noch andere Ziele und auch die Nahrung kann knapp werden. Der Schicksalshaftigkeit gegenüber haben wir unsere Freiheit zu behaupten. Die Feindseligkeit, die die Dinge mir bezeugen, wird also von meiner Freiheit als eine ihrer Bedingunen vorgezeichnet und nur über einer frei entworfenen Feindseligkeitsbedeutung überhaupt kann dieser oder jener Dingkomplex seinen jeweiligen individuellen Feindseligkeitskoeffizienten offenbaren. In dialektischer Manier schränkt Sartre die Bedeutung der Freiheit aber sogleich wieder ein: Ohne Zweifel kommt die Feindseligkeit den Dingen durch die Freiheit zu, aber nur insoweit, als die Freiheit ihre Geworfenheit als ,,Inmitten-eines-An-sich-von-Indifferenz-Sein`` erhellt. Aufgrund seiner Indifferenz sieht ja auch Allen das Universum als grausam und damit feindselig an.

Wir sind von den Dingen durch nichts, außer durch unsere Freiheit getrennt; sie bewirkt es, daß es Dinge mitsamt ihrer Indifferenz, ihrer Unberechenbarkeit und ihrer Feindseligkeit gibt. Zum Glück stehen uns nun aber nicht alle Dinge feindselig entgegen und der Nächste entpuppt sich nicht selten als junger Mensch mit hohem Niedlichkeitskoeffizienten. Sein Lächeln auf meinem Blick lädt mich ein zu einem Spiel oder Gespräch. Dabei sind die Beziehungen zur Zeit, zur Stunde, zum Platz, zur Umgebung, zur Situation der Stadt, der Provinz, des Landes natürlich schon vor dem gesprochenen Wort gegeben. Die Freiheit ist auch hier allein mögliche Grundlage der Sprachgesetze. Die kosmische Perspektive ist weit genug, einen unverfänglichen Anfang zu machen: ,,Von welchen Sternen sind wir uns hier einander zugefallen?`` Unversehens erfährt sich das Für-sich unter dem Blick des Anderen als Objekt im Weltall. Aber sobald das Für-sich, indem es den Anderen auf seine Ziele hin überschreitet, aus ihm eine transzendierte Transzendenz macht, erscheint ihm das, was freies Überschreiten des Gegebenen auf Ziele hin war, als bedeutsame und gegebene (zu An-sich erstarrte) Welt. Als Nächster droht der Andere, meine Freiheit einzuschränken, um nicht zu sagen, mich in eine Grenzsituation zu versetzen. Die Tatsache, daß es ein Jenseits von Leben gibt, insofern es seinen Sinn nur mittels und innerhalb meines Lebens erhält und dennoch für mich unrealisierbar bleibt; die Tatsache, daß es eine Freiheit jenseits meiner Freiheit gibt, eine Situation jenseits meiner Situation, für die das, was ich als Situation erlebe, als objektive Gestalt inmitten der Welt gegeben ist: das sind zwei Typen von Grenzsituationen.

Zu den Grenzsituationen haben Kierkegaard und Jaspers auch den Tod gezählt. Für Allen und Sartre ist der Tod kein Teil des Lebens, weil man nicht mehr dabei sein wird, wenn er sich ereignet. Ähnlich hat es schon Epikur gesehen und Sartre hebt hervor: Der idealistische Versuch, den Tod wieder in Besitz zu bekommen, war ursprünglich nicht das Unternehnen von Philosophen, sondern von Dichtern, wie Rilke oder Romanschriftstellern, wie Malraux. Dabei genügte es, den Tod als Endpunkt zu betrachten, der zu der Reihe gehört. Bei Heidegger wird das Sein der menschlichen Realität als ,,Sein zum Tode`` bestimmt und Camus betont den ,,Absurditätscharakter`` des Todes. Für ihn gibt es nur ein wirklich ernstes philosophisches Problem: den Selbstmord. Die Entscheidung, ob das Leben sich lohnt oder nicht, beantwortet die Grundfrage der Philosophie. Der Tod erscheint als eine charakterische und deutlich umschriebene Möglichkeit. Aber ist der Tod, der mich trifft, mein Tod? fragt sich Sartre. Zunächst einmal ist die Behauptung völlig unbegründet, daß ,,Sterben das einzige ist, das mir niemand abnehmen kann``. Oder vielmehr, es steckt in dieser Überlegung eine offenkundige Unwahrhaftigkeit; denn das gilt für alle Verhaltensweisen. Es gibt kein die Person konstituierendes Vermögen, das meinem Tode eigentümlich wäre. Warten auf den Tod, kann man also nur in geistiger Blindheit oder in Unwahrhaftigkeit. Der immer wieder auftredende Zufall innerhalb meiner Entwürfe, kann nie als meine Möglichkeit aufgefaßt werden. sondern im Gegenteil nur als Nichtung aller meiner Möglichkeiten, eine Nichtung, die selbst keinen Teil meiner Möglichkeiten mehr bildet. So ist der Tod nicht meine Möglichkeit, Anwesenheit in der Welt nicht mehr zu realisieren, sondern eine jederzeit mögliche Nichtung meiner Möglichkeiten, die außerhalb meiner Möglichkeiten liegt. Der Selbstmord ist für Sartre eine Absurdheit, die mein Leben im Absurden untergehen läßt; denn da der Tod nicht auf dem Untergrund unserer Freiheit erscheint, so muß er dem Leben jede Bedeutung nehmen. Sind wir damit von der Zwangsgewalt des Todes befreit? Jedenfalls ist der Tod wie die Geburt Ausdruck unserer Geworfenheit: Der Tod ist, ebenso wie die Geburt, ein reines Faktum; er kommt von Draußen und verwandelt uns in Draußen. Im Grunde genommen unterscheidet er sich in keiner Weise von der Geburt, und die Identität von Geburt und Tod ist das, was wir Geworfenheit nennen.

Sartre kommt nunmehr dazu, genauer zu bestimmen, was es mit dem In-Situation-Sein auf sich hat:

  1. Ich bin ein Daseiendes inmitten anderer Daseiender.
  2. Die Situation existiert nur in Korrelation zur Überschreitung des Gegebenen auf ein Ziel hin.
  3. Wenn das Für-sich nichts anderes als die Situation ist, so folgt daraus, daß das In-Situation-Sein die menschliche Realität definiert, indem es von deren Da-Sein und gleichzeitig von deren Darüberhinaus-Sein Rechenschaft gibt.
  4. Die Situation, die durch Ziele aufgehellt wird, die selbst nur von dem Da-Sein aus pro-jektiert werden, das sie aufhellen, stellt sich als in höchstem Maße konkret dar.
  5. Ebensowenig wie die Situation objektiv oder subjektiv ist, kann sie als freie Auswirkung einer Freiheit oder als das Insgesamt der Zwänge, die ich erdulde, betrachtet werden.
  6. Das Für-sich ist Zeitigung; das bedeutet, daß es nicht ist; es ,,macht``.

Die konkrete Ausgestaltung des In-Situation-Seins hat Sartre bereits vor seinem Hauptwerk in der Erzählung Die Kindheit eines Chefs und in dem Roman Der Ekel Ende der 1930er Jahre nieder geschrieben. Alle Grundgedanken seiner Philosophie sind darin bereits im Keim enthalten und können zur Illustration seiner Begriffslyrik herangezogen werden.

Hinsichtlich der Freiheit und Verantwortlichkeit gelangt Sartre zusammenfassend zu dem Schluss, daß der Mensch, der verurteilt ist, frei zu sein, das ganze Gewicht der Welt auf seinen Schultern trägt: er ist, was seine Seinsweise betrifft, verantwortlich für die Welt und für sich selbst. Im Einklang damit zitiert er den Satz Romains: Im Kriege gibt es keine unschuldigen Opfer.

Zum Haben, Machen, Sein gehört auch der Besitz. Für Sartre erschließt er sich aus der Ontologie über die Begierde, insofern das Begehren das Sein der menschlichen Realität ist. Dabei ist ihm auch das Erkennen eine der Formen, die das Haben annehmen kann. Und das Spiel ist im Gegensatz zum Ernst zu sehen; denn der Ernsthafte gehört der Welt an und kann nicht mehr zu sich selbst Zuflucht nehmen. Nicht die Welt ist komisch, sondern das, was ein Komiker daraus macht. Und dem ist das Merkwürdigste auf der Welt der Mensch. Die Kunst, die Wissenschaft, das Spiel sind Tätigkeiten der Aneignung im ganzen oder teilweise, und was sie sich aneignen wollen, ist jenseits des konkreten Gegenstands ihres Suchens das Sein selbst, das absolute Sein des An-sich. Die Ontologie lehrt uns somit, daß die Begierde ursprünglich Begierde nach Sein ist und sich als freier Mangel an Sein kennzeichnet. Letztlich folgt aus der Einheit ,,Besitzender-Besessenes``, dass der Besitzende der Seinsgrund des bessenen Gegenstandes ist. Was wir uns mit ihm grundsätzlich anzueignen begehren, ist sein Sein und ist die Welt. Jede Vorliebe, jeder Geschmack ist reduzierbar und stellt eine bestimmte Wahl der Seinsaneignung dar. Am Schluss des vierten Teils wird Sartre in seinem atheistischen Existentialismus sehr nüchtern und bestimmt: Jede menschliche Wirklichkeit ist direkter Entwurf, das eigene Für-sich zum An-sich-Für-sich zu verwandeln, und zugleich Entwurf zur Aneignung der Welt als der Ganzheit des An-sich-seins in der Besonderung einer fundamentalen Qualität. Jeder Mensch ist eine Leidenschaft, insofern sie entwirft, sich selbst zu vernichten, um das Sein zu gründen und um zugleich das An-sich zu konstituieren, das als sein eigener Grund der Kontingenz entgeht, das Ens causa sui, das die Religionen Gott nennen. Die Leidenschaft ist somit die Umkehrung der Leidenschaft des Christus, denn der Mensch richtet sich als Mensch zugrunde, damit Gott entsteht. Aber die Idee Gottes ist widerspruchsvoll, und wir richten uns umsonst zugrunde; der Mensch ist eine nutzlose Leidenschaft.

In den Schlussfolgerungen lässt Sartre sein Werk mit metaphysischen Bemerkungen und ethischen Perspektiven ausklingen. Nunmehr dürfen wir zum Schlusse kommen. Wir haben, von der Einleitung an, das Bewußtsein entdeckt als einen Ruf nach Sein und haben gezeigt, daß das cogito unmittelbar auf ein An-sich-Sein verwies, und zwar als Gegenstand des Bewußtseins. Aber neben dem An-sich entsprang dem Sein auch ein Für-sich und es tauchte die Frage nach der Verbindung beider auf. Unsere Untersuchungen haben es uns ermöglicht, auf diese Frage zu antworten: das Für-sich und das An-sich werden durch eine synthetische Verbindung geeint, die nichts anderes ist als das Für-sich selber. Das Für sich ist nämlich nichts anderes, als die reine Nichtung des An-sich; es ist wie ein Seinsloch im Inneren des Seins. Sartre spielt dann auf den physikalischen Energieerhaltungssatz an, während Boris bei Seinsloch wohl eher an seine leere Leere im Sein und Harry an ein ,,schwarzes Loch`` gedacht hätte.

Für Sartre bleibt noch das zweite Problem übrig, das er bereits in der Einleitung formulierte: Wenn das An-sich und das Für-sich zwei Modalitäten des Seins sind, liegt dann nicht ein Hiatus sogar im Innern der Seinsidee vor? Damit wir das Dasein als eine Ganzheit betrachten können, muss die Verschiedenheit seiner Strukturen in einer vereinheitlichenden Synthese einbehalten sein, und zwar so, daß jede, für sich genommen, nur ein Abstraktum ist. Dabei ist das für sich genommene Bewusstsein nur eine Abstraktion, während das An-sich selber kein Für-sich nötig hat. Das Phänomen des An-sich ist ein Abstraktum ohne das Bewußtsein, nicht aber sein Sein.

Metaphysisch erscheint es Sartre sinnvoll, ein Sein zu behandeln, daß wir Phänomen nennen und das zwei Seinsdimensionen besitzt, die Dimension des An-sich und die des Für-sich (unter diesem Gesichtspunkt würde es nur ein Phänomen geben: die Welt), so wie man es in der Einsteinschen Physik vorteilhaft gefunden hat, von einem Ereignis zu reden, als bestimme es seinen Ort in einem Zeit-Raum, oder ob es trotz alledem weiterhin vorzuziehen ist, die alte Zweiheit ,,Bewußtsein-Sein`` beizubehalten. Daran anschließend spekuliert Sartre noch darüber, eine Metaphysik der Natur vom Begriff der Gestalt her zu versuchen. In der Physik sind es die Symmetrieforderungen der Invarianzprinzipien, die den Theorien Gestalt geben und in einen Strukturrealismus münden, der ihre ontologische Basis in neuem Licht erscheinen lässt. Der Zusammenhang von Existentialismus und Physik kann im Kontext einer methodischen Philosophie genauer entwickelt werden. Schon Nietzsche ließ in der fröhlichen Wissenschaft die Physik hochleben und Allen thematisiert in seinen Filmen immer wieder das in der Weite des Universums verlorene Individuum.

Nach Ontologie und Metaphysik ist es die Aufgabe der Ethik, die Verantwortlichkeit angesichts einer menschlichen Realität in Situation darzustellen, um die mangelnde Synthese des Bewußtseins mit dem Sein unter dem Zeichen des Wertes oder der Ursache seiner selbst aufzuheben. Den Moralisten ist dabei klar zu machen, daß die Werte durch das Sein existieren. Und wird die Freiheit, die sich selbst zum Ziele nimmt, jeder Situation entrinnen? Diese Frage soll nach Sartre die (noch zu schreibende) Ethik beantworten. Aber ist es nicht eher eine praktische, um nicht zu sagen: politische Frage?

Im Gegensatz zu Spinoza hat Sartre seine in Aussicht gestellte Ethik nie geschrieben. Er hat das Leben eines politischen Intellektuellen gewählt und immer wieder die elitäre Stellvertreter-Demokratie des Parteien- und Lobby-Parlamentarismus kritisiert. Mit dem Existentialismus vereinbar sind eher regional umweltbezogene oder fachlich problemorientierte räterepublikanische Politikformen. Im Vergleich mit Sartre kann Allen als geradezu unpolitisch gelten. Nie hat er sich direkt ins politische Geschehen eingemischt oder öffentliche Debatten geführt. Sein Engagement ist primär ästhetisch, von der frühen Komik bis hin zu seinen ausgereiften Meisterwerken der Filmkunst.

Allens Filme sind natürlich alle implizit und mittelbar politisch, auch wenn es um die mit viel Witz und Humor geschilderten Einzelschicksale seiner Akteure geht. So sind bereits seine frühen Komödien immer auch subversiv-politisch; handeln sie doch von der Selbstbehauptung des bedrängten Individuums gegenüber den Autoritäten in Schule und Staat, Wirtschaft und Gesellschaft. Von seinen späteren Filmen heben sich hauptsächlich Zelig, Shadows, Crimes und Celebrity durch ihren politischen Kontext ab. Die innige Verbindung von Existentialismus und Politik möchte ich am Beispiel der beiden Filme Shadows und Crimes hervorheben.

Die von Kleinman durch wabernde Nebel und drohende Schatten erlebten Ängste sind ein Gleichnis für die anonymen Mächte des Staates, der Wirtschaft und der Religion. Sie werden verkörpert in den Charaktermasken des Polizisten, des Chefs und des Pfaffen. Niemand kennt den Plan, aber alle folgen den Direktiven, sind ein willfähriges Rädchen im laufenden Getriebe. Rückzugsorte der Freiheit sind lediglich der Zirkus und das Bordell. Hier kann man sich ganz seinen Freuden und Phantasien hingeben und die Kunstfertigkeit der Dirnen und Zauberer genießen und bestaunen. Die ungezwungen-heitere Atmosphäre unter Freudenmädchen lässt auch philosophische Betrachtungen ins Kraut schießen und Kleinman sogar an seiner eigenen Existenz zweifeln. Ist das nicht gerade im Puff, wo primär durch den Leib und nicht im Gespräch die Beziehung zu der Anderen hergestellt wird, eine eklatante Form von Selbsttäuschung? Kleinman war noch nicht der geworden, der er war; dazu verhalf ihm erst die Situation im Zirkus.

In Shadows wird die Selbsttötung nur diskutiert, in Crimes bringt sich ausgerechnet der Existentialist Levy um, obgleich er in der Liebe eine Möglichkeit der Sinnstiftung sieht im ansonsten chaotischen, wertneutralen und grausamen Universum. Muss sein Freitod nicht umso absurder erscheinen, als dass er unter den Zwangsbedingungen im KZ offenbar nicht am Sinn seines Lebens gezweifelt hatte? War Levy zu der Einsicht gelangt, dass sich sein Leben nicht mehr lohnte? Und setzte dieser Gedanke nicht Freiheit voraus und war somit unter Zwang gar nicht möglich, da dann der Körper ganz die Existenz ausfüllte? Auch Lee befriedigen die Antworten Camus und Sartres nicht beim Verständnis der Selbsttötung Levys. Im Casebook schreibt er: If in fact Levy was able to survive the Holocaust with his optimism intact, then what could have occured in the intervening years to destroy his spirit and lead him to suicide? The answer of this question is hinted at in Allen's portrayal of the character Frederick in his film Hannah and Her Sisters. Frederick is a man who has experienced the meaninglessness of life and the terror of dread. Rather than persevere, he has given up the search in order to inhabit an sterile abyss of his own making, one of loneliness, bitterness, and frustration. He is filled with hatred for the hypocrisy around him and he expressed it in a compelling soliloquy. Für Frederick war der Holocaust ja keine Ausnahme; denn so wie die Menschen sind, passiert das öfter, nur nicht so offen. Am Ende realisiert Levy für Lee diese Wahrheit, the ultimate extension of Hannah Arendt's famous description of ``the banality of evil­­'', and, being a fundamentally honest person, concluded that nothing he could say or do would stop this degradation and, additionally, that he no longer wished to live in such a world. Given the complete pessimism of such a conclusion, he had nothing more to say, so in his note he simply reported his decision.

Wie man ohne Selbsttäuschung mit der Einsicht in die Grausamkeit des Menschen leben kann, zeigt Allen mit den Diskussionen zwischen der Nihilistin May und dem Gläubigen Sol. Im Gegensatz zu dem gläubigen Interpreten Lee, ergreift Allen dabei keineswegs Partei für Sol; denn für einen atheistischen Existentialisten gleicht die Wahl, ein Gläubiger sein zu wollen, den Tod bereits im Leben gewählt zu haben. Die Seinsweise eines Gläubigen entspricht genau der Schlechtgläubigkeit, von der Sartre in anderem Zusammenhang gesprochen hatte. Sich im Zweifel für die Existenz eines Gottes auszusprechen, käme der Unredlichkeit gleich, jemandem im Zweifel für schuldig zu halten. Wie im Recht die Unschuldsvermutung, sollte in der Existenzphilosophie die Nichtexistenzannahme gelten. Diese Aufrichtigkeit legt in aller Offenheit die Nihilistin an den Tag, indem sie mit Nietzsche daran erinnert, dass noch immer die Macht das Recht macht. Demgegenüber versteigt sich Sol zu der Auffassung, dass er letztlich ,,Gott`` sogar noch der Wahrheit vorzöge. Damit hat Allen im Anschluss an Dostojewkij's berühmter Legende vom Großen Inquisitor aus Die Brüder Karamasow sehr schön zugespitzt, wie es in einem Gottesstaat zuginge (und im Mittelalter ja zugegangen war).

Lee zufolge befinden sich die Akteure in Allens Filmen häufig in einem exitentiellen Dilemma zwischen dem Streben, ihr Leben auf eine verlässliche moralische Grundlage zu stellen und dem Wissen darum, dass es eine solche Grundlage nicht geben kann. Sols Entscheidung, sich blindlings einem ,,Gott`` auszuliefern, vermag Allens ,,Augen-Metapher`` noch einen weiteren Sinn zu verleihen. Dem herbeiphantasierten allgegenwärtigen ,,Auge Gottes`` kontrastiert die krankhafte Blindheit des gläubigen Rabbi. Die Blindheit der Religionen und der blinde Glaube ihrer zwanghaften Anhänger, steht dem herrlichen Reichtum kultureller Möglichkeiten gegenüber, zwischen denen wir frei wählen können. Während May, Cliff und Woody dem atheistischen Existentialismus Nietzsches und Sartres zuneigen, haben sich Sol und Ben der jüdischen Religion verschrieben. Judah dagegen schwankt zunächst zwischen den beiden Seinsweisen im existentiellen Dilemma. Erst nachdem er wirklich erfahren hatte, dass der von ihm veranlasste Mord an seiner Geliebten ungesühnt blieb, hielt er die Existenz eines ,,richtenden Gottes`` nicht mehr für wahrscheinlich. Fortan sollten ihn nur noch kleinere Gewissensbisse plagen, aber auch die verschwänden mit der Zeit.

Wichtiger als blindes Gottvertrauen bleibt der Mut, offen gegen Lügen, Intoleranz und Humorlosigkeit aufzutreten, und die Wehrhaftigkeit, notfalls auch mit Gewalt, Unrecht, Diskriminierung und Religionswahn die Stirn zu bieten. In vielen seiner Filme lässt Allen nur darüber diskutieren, in Anything Else dagegen tritt er 2003 humoristisch (also mit Witz, der ernst gemeint ist) dafür ein, wirklich wehrhaft zu sein. Der von ihm gespielte Lehrer David schafft sich nicht nur ein Gewehr und ein Überlebenspaket an, sondern drischt auch mit einem Brecheisen auf die Scheiben eines Autos ein, dessen Fahrer ihm Gewalt androhte, nachdem er ihm den Parkplatz besetzt hatte. Und als ein Faschist ihm gegenüber höhnisch davon spricht, dass es sich bei Auschwitz bloß um einen Freizeitpark gehandelt habe, greift David sogar zur Waffe ...


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Ingo 2007-08-11