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Zur Kulturkritik durch Kunst und Wissenschaft

Nach der inhaltlichen Behandlung der Werke Nietzsches und Allens, geht es mir nunmehr um die Beschreibung ihrer Kontexte im Rahmen der Kulturgeschichten westlicher Zivilisation. Der Filmkünstler bezieht sich explizit auf die Philosophie und Literatur des 19. Jahrhunderts. Implizit ist er natürlich dem american way of life des 20. Jahrhunderts ausgesetzt und nimmt nicht nur mit dem Jazz, sondern auch durch den in der neuen Welt verbreiteten Optimismus und Pragmatismus die amerikanische Kultur in sich auf. Habermas hat Nietzsche in seinem philosophischen Diskurs der Moderne eine herausragende Stellung eingeräumt, der Allen in seinem Werk in besonderer Weise gerecht wird. Seine Filme der 90er Jahre spannen den Bogen von der Klassik in die Postmoderne. Aber schon Victor Shakapopolis vereinigte in seinem Namen den Sieg über die Akropolis, d.h. den Sieg der postmodernen Kontingenz über den antiken Idealismus. Und die Zufälligkeiten in den Lebensumständen einer Verbrecherkarriere sind es, die den Verlegenheitstäter Virgil mit dem niederträchtigen Mörder Chris verbinden. Neben den Erbanlagen und der Erziehung ist es der schlichte Zufall, der den Lebensweg eines Menschen bestimmt. Der Unterschied zwischen den Underdogs Virgil und Chris könnte gleichwohl kaum größer sein. Während man Virgil milieubedingt für benachteiligt, aber ansonsten für einen guten Menschen hält, ist es bei Chris ganz anders. Im Gegensatz zu dem Pechvogel Virgil, der in unverhältnismäßiger Weise zu 800 Jahren Bau verknackt wird, kommt Chris einfach so davon, weil er Glück hat. Aber ist er nicht zugleich ein abgrundtief böser Mensch? Oder haben ihn die Umstände schlecht gemacht? Ist es nicht in beiden Fällen die im Kapitalismus propagierte Habgier, die noch die finstersten Triebe im Menschen erregt? Woody Allen enthält sich als Künstler eines Urteils; er moralisiert nicht, sondern stellt in Rollenspielen dar. Ironischerweise verfilmt er aber den vom Pech verfolgten Kleinkriminellen in einer Komödie, während ihm das Glück des Karrieristen zur Tragödie gerät.

Nach de Sade sollte es die Hauptaufgabe der Philosophie sein: die Mittel und Wege zu erforschen, deren sich das Schicksal zur Erreichung seiner Ziele bedient. Daraus müßte sie dann Verhaltensmaßregeln für den armseligen Zweifüßler, Mensch genannt, herleiten, daß er auf seinem dornenvollen Pfade nicht immer abhängig sei von den bizarren Launen jener dunklen Macht, die man nacheinander Bestimmung, Gott, Vorsehung, Zufall getauft hat. Und wie wirkt sich die Bestimmung oder der Zufall aus? De Sade fährt hypothetisch fort: Wenn wir nun bei solchen Studien finden, daß die Bösen für ihre Missetaten Lohn statt Strafe ernten, werden da nicht Menschen, die von vornherein, aus Anlage oder Temperament, zum Bösen neigen, mit Recht schließen, es sei besser, sich dem Laster offen zu weihen, als ihm zu widerstreben - entgegen unseren lächerlichen, abergläubischen, unnützen Moralgesetzen? Werden sie aber nicht vor allem sagen, daß, wenn Tugend und Laster gleichermaßen in den Absichten der Natur liegen und wir das Laster immer triumphieren, die Tugend immer unterliegen sehen, es klar zutage liegt, auf welcher Seite wir zu kämpfen haben? De Sades pragmatistisch-teleologisch formulierte Aufgabe der Philosophie kann als Ergänzung der klassischen Ansicht Hobbes gelesen werden: Philosophie ist die rationelle Erkenntnis der Wirkungen oder Erscheinungen aus ihren bekannten Ursachen oder erzeugenden Gründen und umgekehrt der möglichen erzeugenden Gründe aus den bekannten Wirkungen. Dem Vorbild der Mathematik folgend, versteht Hobbes unter rationeller Erkenntnis die Berechnung: entweder die Summe von zusammengefügten Dingen finden oder den Rest erkennen, wenn eins vom andern abgezogen wird. Wie man more geometrico aus der Summe der menschlichen Einzelkörper den Gesamtkörper des Staates formt, hat Hobbes 1651 im Leviathan beschrieben.

Der Immoralist de Sade steht neben dem Moralisten Kant am Beginn der Moderne nach Ranaissance und Klassik. In der Antike war es Plato und in der wiederbelebten Klassik des 17. Jahrhunderts Galilei, der seine Dialoge in Rollenspielen dramatisierte. Wittgenstein ließ dann in den Philosophischen Untersuchungen mit seinen Sprachspielen, Gespräche und Lebensformen zusammenfallen. Und der vormals analytische Philosoph Rorty wandelte sich im Anschluss an Wittgenstein, Heidegger und Dewey mit seiner Kritik am klassischen Spiegel der Natur zum postmodernen Kulturkritiker. Seine Kultur ohne Zentrum fand er aus dem Zusammenhang von Kontingenz, Ironie und Solidarität. Für Rorty zählen zu den üblichen Anwärtern auf den Posten im Zentrum der Kultur: Religion, Wissenschaft, Philosophie und Kunst. Wenn es überhaupt eines Zentrums befürfte, wäre ihm die Kunst am liebsten; eine Ansicht, die auch Allen und Nietzsche teilten. Der ebenfalls vormals analytische Philosoph Putnam argumentierte parallel dazu in Verbindung mit einer Neubewertung der pragmatistischen Demokratietheorie Deweys sogar Für eine Erneuerung der Philosophie. Gegen den mit Hobbes begonnenen Szientismus ist ihm die intelligente Durchführung der gemeinschaftlichen Forschung das Kernstück der Demokratie. In seinen Beiträgen zu einer Diskursethik des demokratischen Rechtsstaats gelangt Habermas im historischen Rückblick zu einer ähnlichen Einschätzung: Von der Selbstbehauptung der naturalistisch begriffenen Individuen bei Hobbes führt die Linie einer konsequent verfolgten Eliminierung praktischer Vernunft bei Luhmann zur Autopoiesis selbstbezüglich gesteuerter Systeme. Das klassische Systemdenken von Plato bis Luhmann hob an mit einer Kritik an Naturphilosophen, Sophisten und Kynikern. Im 19. Jahrhundert knüpften die Lebensphilosophen, Existentialisten und Materialisten wieder an die vorsokratischen Aufklärer der Antike an und unterzogen der von Kant und Hegel systematisierten Moderne einer grundsätzlichen Kritik, als deren Drehscheibe Habermas Nietzsche ansieht. Er stellte die Weichen für die Entwicklungen über Husserl, Heidegger und Sartre in den Existentialismus sowie über Deleuze, Foucault und Derrida in die Postmoderne. Die Besonderheiten, wie sich amerikanische und europäische Traditionen in den Werken Woody Allens jeweils überschneiden und zu unterhaltsamen Konfrontationen führen, werde ich in den nächsten Kapiteln etwas systematischer betrachten.



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Ingo 2007-08-11