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Klassik oder Postmoderne?

Im Anschluss an die Dramatisierung der Spannung zwischen metaphysischem Nihilismus und moralischer Verantwortung nimmt Allen mit der Komödie Alice das Drama der Selbstfindung in der ,,anderen Frau`` auf und knüpft an die alte Tradition der klassischen chinesischen Philosophie an. Am Beispiel des sinnentleerten großstädtischen Lebensstils der nordamerikanischen Oberschicht konfrontiert er dabei in grundsätzlicher Weise die ruhelose Betriebsamkeit der westlichen Zivilisation mit der heiteren Gelassenheit ostasiatischer Weisheit. Woody findet nicht nur das naiv-hedonistische Milieu der upper class - Kreise (denen er selbst angehört) äußerst komisch, er kontrastiert vielmehr die individuell-konsumorientierte Suche nach dem Glück mit einer alten nach Harmonie strebenden Kosmologie. Aber lassen wir Allen selbst zu Wort kommen: Ich dachte, daß es eine komische Geschichte sein könnte, sich auf eine Frau wie Alice zu konzentrieren. Denn alle diese Frauen beschäftigen sich mit nichts anderem als Akupunktur, Ernäherung, Massage, Kosmetik, Gesichtslifting und dergleichen. Ich dachte also, daß es witzig sein könnte, Alice zu einem Akupunkteur gehen zu lassen, der aber in Wirklichkeit ein Zauberer ist. Und der wendet ihr Leben von innen nach außen. Denn ihr Problem hat nichts mit dem Körper zu tun. Es ist alles psychisch. Woody parodiert in seiner Komödie also nicht nur den westlichen Lebensstil, sondern auch die tradtionelle chinesische Medizin. Die komische Shopping-Tussie Alice Tate sollte ihr Leben anders sehen, damit sie schließlich ein neues Leben beginnt. Sie sollte zu den Wurzeln ihrer streng katholischen Erziehung in einer Klosterschule zurückfinden: Heutzutage ist niemand mehr religiös, und die Leute rennen herum und sehnen sich nach etwas Geistigem. Sie klammern sich an die Psychoanalyse, an die Akupunktur, an die Ernäherung, an Reformkost. Die Menschen brauchen irgendeine Art von Innenleben, etwas, an das sie glauben können. Es gibt viele Dinge, die diesem Zweck dienen. Und so hat auch der Film dieses Thema aufgegriffen ... Alice ist die Komödienversion von Another Woman. Statt der Stimmen durch den Luftschacht sind es Kräutermischungen und an die Stelle der Psychoanalyse tritt das Tao der Kosmologie.

Für den Anfang seines Films, hat sich Allen wieder etwas ganz Besonderes ausgedacht. Gerhold geht im Detail darauf ein: Woody Allen beginnt Alice mit einer Plansequenz, die den Film und seine Motive in einer ungeschnittenen Einstellung bündelt, Alices Katholizismus visuell vorwegnimmt und filmhistorisch als Zitat Orson Welles' Meisterwerk The Lady from Shanghai grüßt ... Im Zoo von New York schwenkt die Kamera durch das Aquarium, bis sie in einer Nahaufnahme Alice und Joe (von dem wir noch nicht wissen, wer er ist) erfaßt, die sich küssen: Im Hintergrund sind putzige Pinguine zu sehen, die am Rande des Wassers (also freudianisch oberhalb des Bewußtseins) die niedlichen Menschen beobachten, die (noch) im Unterbewußtsein schwimmen. Der folgende Schnitt führt in die Realiät von Alices Haushalt und erklärt die Plansequenz als Phantasie. Mit Manhattan Murder Mystery wird Allen 1993 The Lady from Shanghai erneut seine Referenz erweisen.

Um ihre anhaltenden Rückenschmerzen kurieren zu lassen, sucht Alice nach mehrfachen Empfehlungen in Chinatown Dr. Yang auf. Frei nach dem Buch der Wandlungen (I-Ging) soll Alice im Wunderland der traditionellen chinesischen Medizin aus dem Schattenreich (ying) ihres westlichen Konsumzwangs zur heiteren Lichtgestalt (yang) östlicher Weisheit gewandelt werden. Zunächst hat der einfühlsame Mediziner aber Mühe, dem Redeschwall seiner Patientin zu begegnen, sie abzulenken und schließlich - in Hypnose zu versetzen: Sagen Sie mir, was Sie sehen. Alice: Pinguine. Dr. Yang: Wieso Pinguine? Alice: Sie bleiben ein Leben lang ein Paar. Dr. Yang: Ja. Glauben Sie, daß Pinguine katholisch sind? Da sind also erst einmal die Gitter eines Ehegefängnisses zu sprengen. Dem unorthodoxen Arzt scheinen natürliche Drogen der geeignete Weg, um der verspannten Frau das Bewußtsein zu erweitern. Dafür hat er mehrere ,,Kräutermischungen`` auf Lager: zur persönlichen Enthemmung, neutralen Beobachtung, schwerelosen Vergeistigung und stimulierten Inspiration. Darüber hinaus setzt er Opium ein, um das Bewusstsein zerfließen zu lassen, und verwendet ein ,,Liebespulver``, das es der Anwenderin gestattet, Zufallsbekanntschaften spontan in sich verliebt zu machen.

Unter der Wirkung der ,,Enthemmungskräuter`` macht sich Alice in hinreißend komischer Weise an den attraktiven Vater Joe im Kindergarten ihrer Sprösslinge heran. Mit dem Jazz-Musiker und Saxonphon-Spieler eröffnet sich ihr eine völlig neue Welt der Harmonien. Das ,,Rauchpulver`` für die ,,schwerelose Vergeistigung`` erlaubt ihr nicht nur eine Kontaktaufnahme mit ihrem verstorbenen ersten Ehemann, sondern auch einen zauberhaft-romantischen Flug über das nächtliche Manhattan ins Blue Moon Café. Durch die Drogen zur ,,neutralen Beobachtung`` unsichtbar gemacht, vermag Alice sowohl ihrem neuen Freund als auch ihrem Ehemann auf frischer Tat sehr Nahe zu kommen ... Für eine gerade vom Glauben abgefallene Katholikin ist die Liebe aber noch eine sehr verunsichernde Erfahrung. Dr. Yang kann ihr da nur zustimmen: Liebe. Liebe ist - höchst kompliziertes Gefühl. Menschliche Wesen - unberechenbar. Keine Logik bei Gefühlen. Wo es keine Logik gibt, gibt es auch keine Vernunft. Wo es keine Vernunft gibt, kann es viel Romantik geben, aber auch viel Leid.

Um auch aus sich selbst schöpfen zu können, versucht sich Alice an den Kräutern zur ,,stimulierten Inspiration``,- die ihr flugs eine Muse an die Seite projizieren. Mit deren Hilfe muss sie allerdings ihre Talentlosigkeit erkennen und ist reif - fürs Opium. Das ,,Zerfließen ihres Bewusstseins`` stellt Mia Farrow mit viel Sinn für verhaltene Komik dar. Einmal auf den Weg zu sich selbst gebracht, öffnen sich ihr in Träumen und Erinnerungen die Schleusen zu ihren Kindheitserlebnissen, die sie nunmehr in neuem Licht sieht: Manchmal glaube ich, daß ich meinen Kindern nicht beibringe, was wirkliche Werte sind. Daß ich sie verwöhne. Sie nicht den Dingen aussetze, die am wichtigsten sind. Als Kind wollte ich Heilige werden. Ich betete immer mit ausgebreiteten Armen, weil es schmerzhafter war. Und ich mich dadurch Gott näher fühlen konnte. Ich hatte vor, mein Leben lang Leuten zu helfen, mich um Kranke und Alte zu kümmern. Ich war am glücklichsten, wenn ich auf diese Weise helfen konnte. Was ist passiert? Wohin ist dieser Teil von mir verschwunden? Ihr damaliges Idol war keine Geringere als Mutter Theresa ...

Am Ende muss sie allerdings selbst die Entscheidung über ihren zukünftigen Lebensweg treffen - und verfällt der Angst davor, frei zu sein. Existentiell verunsichert, sucht sie erneut Dr. Yang auf: Mrs. Tate hatte Illusion, glücklich zu sein. Bei näherer Betrachtung, kein sehr ehrlicher Mann, nicht sehr ehrlich mit sich selbst ... Ich denke, Mrs. Tate hat jetzt bessere Vorstellung, wer sie ist, als vor Besuch bei Dr. Yang. Wer sind ihre Freunde und wer nicht. Wer ist Ehemann, Geliebter, Schwester, Mutter. Was sind ihre Bedürfnisse, ihre Grenzen, ihre Talente. Was sind geheimsten Gefühle. Weiß vielleicht nicht alle Antworten, aber hat bessere Vorstellung, oder? Alice: Ja, ja, das stimmt. Dr. Yang: Jetzt muß entscheiden, welchen Weg ihr Leben einschlagen wird. Der listig-heitere Chinese gibt ihr noch ein ,,Liebespulver`` mit auf den Weg. Auf einer Party ihrer Schwester gerät es allerdings aus Versehen in den Eierpuntsch,- und schon sind mehrere verliebte Männer hinter ihr her ... Das ist Alice Anlass genug, ihr Leben nun wirklich selbst in die Hand zu nehmen. Ihre Verwandlung könnte kaum dramatischer sein; kehrt sie doch von den Abwegen einer verwöhnten Shopping-Tussie aus der upper class auf den harten Tugendpfad der barmherzigen Samariterin zurück. Kurz entschlossen reist sie zu Mutter Theresa nach Indien und wird nach ihrer Rückkehr im Armenviertel der Bronx New Yorks eine glücklich-zufriedene Sozialarbeiterin ...

Woody Allens nächster Film Schatten und Nebel wurde am 12. Febr. 1992 in Paris uraufgeführt. Nach seinem listig-heiteren Ausflug in östliche Weisheiten vergräbt sich der Filmemacher wieder tief in den europäischen Existentialismus. Die in vielen Grautönen wabernden Nebel und schaurig aus dem Gegenlicht fallenden Schatten beschwören die kafkaeske Bedrohung in einem verfremdeten Prag zu Anfang des 20. Jahrhunderts herauf. Motive aus dem Leben Kafkas wie aus seinen Erzählungen und Romanen scheinen auf. Schatten und Nebel ist gleichsam ein Film über das Unbewusste des Jahrhunderts, wie es Allen Frodon gegenüber formuliert hat. Und Björkman hat Allen nach der Idee zu dem Film befragt: Vor langer Zeit hatte ich einen kleinen Einakter mit einem ähnlichen Thema geschrieben. Und im Laufe der Jahre habe ich mir immer wieder gesagt, daß das ein Stoff für einen interessanten Film wäre, aber er müßte in Schwarzweiß gedreht werden. Ich überlegte mir, wo ich ihn drehen könnte, und kam zu dem Schluß, daß ich damit nach Europa gehen müßte. Aber dann fiel mir ein, daß ich alles ja auch in einem Filmstudio nachstellen könnte, und die Idee begann Gestalt anzunehmen. Das Stück hieß ,,Tod`` und Woody hatte drei Einakter geschrieben mit den Titeln Sex, Gott und Tod.

Der Einakter Tod ist in Without Feathers zu finden. Das Grundthema des Stückes wie des Films ist: Ein Mann wird mitten in der Nacht aufgeweckt und auf die Straße geschickt, wo er sich einer Gruppe anschließen muß, deren Aufgabe es ist, sich um die öffentliche Sicherheit zu kümmern oder nach einem Killer zu fahnden, und im Laufe der Nacht verstrickt er sich immer mehr in diese Aufgabe. Dem Filmemacher ging es darum, den Film so hinzukriegen, daß er den Menschen etwas sagt, wenn er ihn unterhaltsam, fesselnd, amüsant und gleichzeitig erschreckend machen könnte, dann würde er sie auf vielfältige Weise zum Nachdenken bringen. Über psychologische, philosophische und soziale Fragen. So läuft das doch immer mit einem metaphorischen Gedanken. Dabei ging es Allen insbesondere um die schwierige Balance zwischen Tragödie und Komödie: Ich bastelte schon eine ganze Weile an dem Versuch, Komödien eine tragische Dimension zu geben ... Es ist schwer, eine Geschichte gleichzeitig amüsant, tragisch und pathetisch zu erzählen. Dazu braucht man viel Geschick ... Das, was das Ganze zusammenhält, sind die Schatten und der Nebel, die die ganze Nacht durchziehen. Und dann gibt es noch die gelegentliche Unterbrechung im Bordell. Eine warme Pause im geschlossenen Raum. Die tragische Dimension der Komödie um den komisch-desorientierten Kleinman wird unterstützt durch filmäshetische Anleihen beim surrealen Expressionismus Murnaus: Mit der Idee für diese bestimmte Geschichte fällt einem fast automatisch der deutsche Expressionismus ein. Weil die Idee einfach nicht in die zeitgenössische Atmosphäre paßt. Sie erfordert einfach irgendein europäisches Dorf als Spielort ... Wenn ich also an Schatten und Nebel denke und an bedrohliche Gestalten draußen in der Nacht, dann denke ich unweigerlich an diese deutschen Meister, die so oft mit einer solchen Atmosphäre gearbeitet hatten. Und die alle ihre Filme im Studio gedreht haben.

Neben philosophischem Existentialismus, ästhetischem Expressionismus und surrealer Literatur hat der selbstreflexive Film auch eine persönliche und eine politische Dimension. Auf der persönlichen Ebene reflektiert er das Selbstverständnis eines Künstlers zwischen Talent und Verantwortung wie das eines Kleinbürgers zwischen Freiheitsdrang und Ordnungsliebe. Wie mit Interiors begonnen und seit Stardust weitergeführt, spiegelt die Außenwelt auch hier wieder die Innenwelt der Akteure wider: Für mich war das bei Filmen immer sehr wichtig, das Umfeld, die Atmosphäre drumherum ... Das ist für mich ein wichtiger Aspekt: die Außenwelt, die bloß eine Funktion des eigenen inneren Zustands ist. Und so ist die Nacht mit ihrem Gefühl von Freiheit ein Teil der Metapher des Films. In der Nacht draußen geht das Gefühl für Zivilisation verloren. Alle Läden sind geschlossen, alles ist finster. Man beginnt zu erkennen, daß die Stadt bloß eine aufgesetzte, von Menschen geschaffene, Konvention ist und daß man in Wirklichkeit auf einem Planeten wohnt, einem wilden Gegenstand inmitten von Natur. Und die ganze Zivilisation, die uns schützt und es uns ermöglicht, uns über das Leben Gedanken zu machen, ist von Menschenhand geschaffen und künstlich. Die politische Dimension des Films verweist natürlich auf die anonyme Macht autoritärer Staaten, in denen nicht nur scheinbar wahllos gemordert wird, sondern das Volk selbst auch noch durch Lynchjustiz daran mitwirkt. Insbesondere die immer wieder für Juden existentiell-bedrohliche Situation, in der Diaspora als Sündenböcke herhalten zu müssen, wird in Schatten und Nebel thematisiert. Und als größtes Unheil scheint bereits der Holocaust auf ...

Woody Allen gelingt es in genialer Weise, das tragische Grundthema in komödiantischer Form vorzutragen. Die von ihm dargestellte witzige Figur Kleinman unterläuft immer wieder mit ihrer subversiven Komik die unheilvollen Verstrickungen des imaginären Plans. Nachdem sie ihn in der Nacht allein im Nebel zurückgelassen haben, flüchtet er zum Doktor, der in seiner Praxis mit nüchternem Interesse die Opfer des wahllos tötenden Killers seziert. Am liebsten wäre ihm das Gehirn des Unholds auf dem Seziertisch: Warum ist der Mörder so wie er ist? Manchmal können Impulse, die einen geisteskranken Menschen zu einem Mord treiben, andere zu höchst kreativen Ideen inspirieren. Wenn ich den Killer erst einmal hier auf diesem Tisch liegen habe,- fein säuberlich zerlegt und geprüft bis ins letzte Detail ... dann werde ich mit Gewißheit die Antwort auf die Fragen erhalten, über die ich jetzt nur spekulieren kann. Kleinman: Ja, aber ... aber es ist möglich, daß es unter dem Mikroskop, ähm ... etwas gibt, das Sie nie erkennen können? D ... d ... Doktor: Worauf spielen Sie an? Ein spirituelles Element? Eine Seele, die nach unserem Tod weiter lebt? Ein Gott? Der wissenschaftliche Arzt glaubt nicht an Geister oder Götter. Er ist begierig zu erfahren, wo der Wahnsinn aufhört und das Böse beginnt; denn Psychopathen können in jeder Beziehung logisch handeln. Kleinman dagegen möchte in den Plan eingeweiht werden, damit er weiß, was er tun soll. Aber der Pathologe hätte auch ihn am liebsten auf dem Seziertisch ...

Während Kleinman wieder durch die nebelverhangenen Gassen irrt und vor drohenden Schatten erschrickt, macht sich die Schwertschluckerin Irmy (Mia Farrow) vom Zirkus auf den Weg in die Stadt. Ihr Freund, der Clown, hadert mit den familiären Bindungen und braucht seine Freiheit: Eine Familie, das ist der Tod für einen Künstler. Ich brauche Ruhe und Frieden ... Ich liebe meine Freiheit. Die Artistin sucht Zuflucht in einem Bordell - und entdeckt beim Fick für eine sagenhafte Summe erstmals ihr wahres Selbst. Der Kleinbürger dagegen wendet sich hilfesuchend an die Polizei,- gerät aber unversehens selbst unter Verdacht. Erneut auf der Flucht, trifft Kleinman auf Irmy. Der emotionale Stress und die Atmosphäre der Nacht lassen die beiden schnell grundsätzlich werden. Kleinman gesteht sich die Lieblosigkeit seiner Verlobten ein und Imry führt den Gedanken weiter: Fällt es Ihnen schwer, sich gewisse Dinge einzugestehen? Kleinman: Normalerweise schon, ja. Aber aus irgendeinem Grund ist es heute nacht anders. Verstehen Sie, es ist ein seltsames Gefühl, um diese Zeit noch wach zu sein. Die Stadt ist so eigentümlich, wenn alle schlafen, sie kommt einem vollkommen anders vor ... Ohne jede Zivilisation ... die Geschäfte sind geschlossen, verstehen Sie, man fühlt sich so frei. Ich, wissen Sie, komme mir so sonderbar vor ... Irmy: Tja ... es entsteht wirklich ein Gefühl von Freiheit ... Kleinman: Es ist so schön ... Also, ein paar ... ein paar Sterne sind schon zu sehen. Der Nebel lichtet sich ein ganz kleines bißchen. Irmy: Sehen Sie den ganz hellen Stern da oben? ... Es könnte sein, daß dieser Stern vielleicht schon vor einer Million Jahren verschwunden ist. Und äh ... und es ... das Licht hat eine Million Jahre gebraucht, um uns zu erreichen. Kleinman: Ich versteh das nicht. Was wollen Sie damit sagen? Daß die ... die ... dieser Stern gar nicht da ist? Irmy: Daß ... daß er möglicherweise gar nicht mehr da ist. Kleinman: Ob ... obwohl ich ihn mit meinen eigenen Augen sehen kann? Irmy: Ganz recht. Kleinman: Das ist ein sehr ... ähm ... beunruhigender Gedanke, wissen Sie ... Dann wenn ich etwas mit meinen eigenen Augen sehe, dann will ich doch sicher sein, daß es auch tatsächlich da ist ...

Nachdem Kleinman wiederholt zwischen die Fronten der an dem Plan beteiligten Fraktionen geraten war, findet auch er endlich Unterschlupf - im Bordell. Die Damen Dorry, Hilda, Jenny und Lucy sind guter Dinge und freuen sich über den neuen Gast. Der zweite Freier ist Jack, ein Student aus gutem Hause, der sich im Freudenhaus gerne lustvoll als Ausgleich zum drögen Studium die Zeit vertreibt: Ich hab gerade die reizenden Damen auf die Metaphorik der Perversion hingewiesen ... Dorry: Ja, der Erste Magistrat läßt sich gern an Händen und Füßen von mir fesseln. Er bezahlt mich dafür. Jack: Das ist das, was ich meine. Man nimmt ihm seine Freiheit, und er genießt es. Ganz entzückt, sexuell erregt ... Er hat Angst vor seiner Freiheit. Lucy: Er fürchtet sich, wovor denn? Jack: Wer weiß ... vielleicht vor seinen Trieben ... Macht, Lust, Mord ... Dorry: Es gibt ein Gesetz gegen Mord. Hast du davon noch nichts gehört? Jack: Vielleicht gehorchen gewisse Menschen nur ihrem eigenen Gesetz. Jenny: Und so was lernt ihr auf der Uni? Überlegen zu tun? Jack: Nein, nein, nein ... Wir lernen Fakten. Nichts als Fakten. Logik ... und Mathematik ... und wie man depressiv wird. Dorry: Dein Problem ist, daß du an gar nichts glaubst. Jack: Also sprach eine echte Hure! Und sie glaubte nur ans Geld. Dorry: Lieber ... lieber an einen falschen Gott, als an gar keinen Gott, hm? Jack: Dort sitzt ein sehr nachdenklicher Mann. Wie ist Ihre Ansicht zu den göttlichen Belangen? Kleinman: Ver ... Verzeihung, Sie ... Sie meinen mich? Jack: Ich frage Sie, ob Sie an Gott glauben? Kleinman: Sehen Sie, ich ... ich würde es liebend gern. Glauben Sie mir, ich ... ich weiß, ich wäre dann viel glücklicher. Jack: Ja, aber Sie können es nicht. Kleinman: Ich kann's nicht, nein. Es ist einfach ... also ... Jack: Sie zweifeln an seiner Existenz, und Sie können nicht den notwendigen Glaubensschritt machen. Kleinman: Hören Sie, ich schaffe ja noch nicht einmal den notwendigen Schritt für den Glauben an meine eigene Existenz. Hilda: Hier ist etwas zu trinken, Kleinman. Jack: Das ist ja schön, und trickreich ist es auch. Machen Sie nur so weiter, bis der Augenblick kommt, in dem Sie dem Tod gegenüberstehen. Kleinman: Wie ... wieso reden wir über ein so mor ... morbides Thema? Ich ... ich bin nur, wissen Sie, das ist die Zukunft, verstehen Sie ... Jack: Ach, ist es die Zukunft? Jenny: Nein, nein, nein, der Trick ist, so viel Wein, so viele Kerle, so viel Spaß zu haben, wie man nur kriegen kann, bis sie dich im Sarg davonschleppen ... Und sich selbst dann kräftig gegen den Tod wehren. Hilda: Wenn ich davongehe, dann am liebsten im Schlaf, ohne es zu wissen. Lucy: Wenn ich glauben würde, daß nach dem hier nichts mehr kommt, würde ich mich umbringen. Jack: Daran hab ich schon mal gedacht. Glaub mir, es hat viele Male gegeben, da hat mein Gehirn gesagt: Warum nicht? Aber irgendwie sagt mein Blut mir ständig: Lebe! ... Lebe! Und ich höre immer auf mein Blut. Wie steht's mit Ihnen, Kleinman? Kleinman: Wissen Sie ... ich weiß ganz genau, was ich ... was ich von all dem halte, aber ich finde nie die richtigen Worte, um es auszudrücken. Wissen Sie? Viel ... Vielleicht, wenn ich etwas betrunken bin, dann könnte ich es Ihnen vortanzen und, äh, mich damit verständlich machen. Dorry: Komm schon, Süßer. Ich weiß, was du möchtest. Komm mit, gehen wir ins Schlafzimmer, hm? Kleinman: Ich ... ich hab noch nie in meinem ganzen Leben für Sex bezahlt. Dorry: Ach, das bildest du dir nur ein! Jenny: Genießen Sie es, Kleinman! Erleben Sie all Ihre ,,Höhen und Tiefen`` nur im Bett. Und zu Jack gewandt: Du bist heute in einer sonderbaren Stimmung. Diese kleine Zirkusartistin ... du kriegst sie einfach nicht aus dem Kopf. Jack: Ist das nicht verrückt? Eine Begegnung, flüchtig und zufällig ... Die Abwicklung eines Geschäfts mit einer Wildfremden ... Und doch fühl ich mich jetzt so, als ob ich was verloren hätte.

Auf den Tanz Zarathustras mit dem Leben, hatte Alvy schon in Annie Hall angespielt: ,,Warum mußt du immer meine animalischen Triebe auf psychoanalytische Kategorien r-r-reduzieren``, sagte er, während er ihr den BH auszog ... Dorry zieht sich ihren BH alleine aus, aber Kleinmans Aufenthalt im Paradies währt nicht lange. Die Leute von der Bürgerwehr spüren ihn auch im Bordell auf. Unter ihnen der Arbeitskollege, mit dem er um die Gunst des Chefs buhlt. Der hält Kleinman allerdings bloß für eine Art kriechendes, schleimiges Ungeziefer, eher zur Ausrottung bestimmt als zum Leben auf diesem Planeten, meint es aber nicht persönlich. Anonyme Mächte hatten schon Gregor Samsa in ein ungeheures Ungeziefer verwandelt. Kleinman stehen derartige Alpträume noch bevor. Um Irmy zu finden, macht er sich auf den Weg zum Zirkus und mit ihm - der Killer. Im Zirkuszelt trifft der Kleinbürger und Hobby-Zauberer auf sein großes Vorbild, den Zauberer Almstead. Da hat der Killer natürlich keine Chance. Mit ein paar Tricks hat der Magier ihn aus der Welt geschafft. Kleinman ist schwer beeindruckt und - erleichtert. Es trifft sich gut, dass Almstead gerade einen neuen Assistenten braucht. Kleinman erinnert sich seiner Freude an der Zauberei und sagt zu: Das hier wird das erste Mal in meinem Leben sein, daß ich endlich etwas tun kann, was ich wirklich liebe. Almstead: Liebe? Sehen Sie bloß zu, daß die Liebe nicht Ihre Pflichten beeinträchtigt. Kleinman: Nein, keine Sorge, die Pflichten haben Vorrang. Was könnte mir denn Besseres passieren für ... für den Rest meines Lebens, als ... Ihnen bei ... bei all Ihren phantastischen Illusionen zu helfen? Illusionen werden aber nicht nur geliebt, man braucht sie wie die Luft zum Atmen ... Nach diesem heiteren Schluss auf dem Weg Kleinmans und Irmys zu sich selbst, hat auch der Zuschauer die Wahl zwischen grausamer Lebenswirklichkeit und phantastischer Illusion ...

Die grausame Lebenswirklichkeit holte den Filmemacher während der Dreharbeiten zu seinem nächsten Werk Husbands and Wives ein. 1977 hatte Mia Farrow Soon-Yi, die Tochter einer Prostituierten, aus einem koreanischen Waisenhaus adoptiert. Aufgrund der erst mit sieben Jahren erfolgten Adoption, brauchte die Koreanerin einige Zeit, sich in die neue Gesellschaft einzugewöhnen. Ihre Außenseiterrolle in der Familie Mias mag dazu beigetragen haben, dass sie sich mit Woody anfreundete und die beiden später eine Liebesbeziehung eingingen. Als die Stiefmutter beim Schnüffeln in Allens Apartment dahinter kam, war sie schwer enttäuscht und tief verletzt über die Unaufrichigkeit der beiden. Carrol schreibt dazu: Allen finished writing the script in the summer of 1991 just as he was becoming closer to Soon-Yi. The shooting started in November and it wrapped on January 20, seven days after Mia discovered nude pictures of Soon-Yi which convinced her that Woody had been having an affair with the young woman. Obwohl Woody und Soon-Yi Mia hintergangen hatten und ihre Liebschaft besser von Anbeginn offenbart hätten, reagierte Mia unverhältnismäßig heftig auf die Affäre ihrer Adoptivtochter mit ihrem Liebhaber. Sie verstand es in medienwirksamer Weise, die in den USA der 1990er Jahre grassierende political correctness für ihre Rachsucht zu nutzen. Gegen eine Liebschaft zwischen einem 56jährigen Mann und einer 21jährigen Frau ist eigentlich überhaupt nichts einzuweden; aber der Ruch des Inzests und Farrows Anschuldigung, Allen hätte ihre siebenjährige Tochter Dylan missbraucht, eskalierte die Affäre zum Skandal, den die reaktionären Gazetten begierig aufgriffen. Mia Farrow redete Woody Allen in der Öffentlichkeit übel nach. Wie Schmeißfliegen stürzten sich die Journalisten auf den Fall. Die Angstträume aus Stardust Memories holten Allen in der Wirklichkeit ein, wie Reimertz hervorhebt. Mit gleicher Niedertracht war in der McCarthy-Zeit schon Charles Chaplin zur Auswanderung in die liberalere Schweiz genötigt worden. Und dem amerikanischen Präsidenten Clinten sollte es einige Jahre später nicht besser ergehen. Das harmlose Schwanzlutschen einer Praktikantin hätte fast zu seiner Amtsenthebung geführt - und die puritanischen Heuchler klatschen lauthals Beifall. 1996 begleitete Soon-Yi Previn Woody Allen auf seiner Jazz-Tournee durch Europa, so dass sie auch in dem Dokumentarfilm Wild Man Blues mitwirkt. Im Jahr darauf heirateten die beiden und sind bis heute ein Paar.

Die immer wieder mit Argwohn und Neid verfolgten Beziehungen zwischen älteren Herren und jüngeren Damen sind auch ein Handlungsstrang in dem großartigen Filmroman Husbands and Wives. Allen äußerte sich dazu gegenüber Björkman: Ich mag diese Verbindung zum Roman. Das ist für mich immer eine Herausforderung. Ich liebe die Idee, auf der Leinwand wie ein Romanschriftsteller zu arbeiten. Ich habe immer das Gefühl, mit Film zu schreiben. Und selbst wenn ich vom Roman ab und zu wegstreune, in einem Film wie Alice zum Beispiel, scheine ich doch immer wieder dorthin zurückzukehren. Ich mag es, wenn echte Menschen und echte Situationen und das menschliche Leben sich ausbreiten. Man kann in einem Roman dasselbe tun wie in einem Film und umgekehrt. Diese beiden Medien stehen einander physisch sehr nah. Anders als die Bühne. Das ist etwas ganz anderes. Im Unterschied zu Hannah and Her Sisters ist Husbands and Wives eine dunklere Komödie, die Sartres existentialistischer Theorie der Gefühle folgt und an den groben, direkt-domumentarischen Stil der Nouvelle Vague anknüpft. Die Geburt seiner Filmkunst aus dem Geist der Komik und Doku treibt Allen ein weiteres Mal voran. Ähnlich wie schon Isaac in Manhattan, schreibt der von Woody Allen gespielte Literaturprofessor Gabe Roth in Husbands and Wives an Romanen - und womöglich auch an dem Roman, aus dem der Film besteht ... Dabei ging es Allen darum, einen Film zu machen, bei dem nur der Inhalt zählt: Nimm die Kamera, vergiß den Kamerawagen, führe das Ding einfach mit der Hand, und hol dir, was du kannst. Laß auch die Nachkorrekturen der Farben, mische wenig, Schluß mit dem ganzen Präzisionsgetue. Schau, was draus wird. Trotz des postmodern-improvisierten Stils, ist Allens romanhaftes Drehbuch durchkomponiert wie ein klassisches Streichquartett. Man wird dabei unweigerlich an Godards Film-Komposition Vorname Carmen von 1983 erinnert.

Das erste Thema aus der Dokumentation des Lebens von Ehemännern und Ehefrauen führt Allen im nächtlichen Wohnzimmer der Eheleute Judy und Gabe Roth ein: Im Fernsehen wird ein Wissenschaftler interviewt. Wissenschaftler: Einstein hatte gerade seinen 70. Geburtstag gefeiert, und es fand ihm zu Ehren ein Kolloquium statt. Dort hat er gesagt: ,,Gott würfelt nicht mit diesem Universum!`` Dieser Ausspruch Albert Einsteins beschreibt meiner Ansicht nach ... Gabe: Nein, er ... er spielt nur damit ,,Verstecken``. Schnitt. Gabe sieht einen Werbespot im Fernsehen. Werbesprecher: Lernen Sie Filmdrehbücher schreiben, Fernsehspiele, Theaterstücke, Romane und ... Gabe schaltet den Fernseher aus. Gabe: Ach, Gott, die reden alle einen solchen Quatsch. Das ... das ... das Schreiben kann man gar nicht lehren! So etwas kann man niemandem beibringen! Judy geht mit mehreren Büchern Sartres zum Bücherbord. Gabe: Man kann die Studenten nur mit guter Literatur vertraut machen und hoffen, daß die sie inspiriert. Wer schreiben kann, kann das schon, wenn er in meine Vorlesungen kommt, und die anderen lernen es nie. Judy: Du verlierst doch die Geduld, wenn ein Student kein Dostojewskij oder Joyce ist. Gabe: Das ist doch Unsinn, ich bitte dich! Judy: Aber natürlich. Gabe: Aber die Mühe lohnt sich, weil hin und wieder ein Schüler begabt ist. Da ist ... ist doch dieses junge Mädchen in meiner Vorlesung. Von der stammt eine fabelhafte Kurzgeschichte: Oraler Sex und das Zeitalter der Dekonstruktion. Sie ist voller Einsichten und romantischer ... Es klingelt an der Tür - und das zweite Ehepaar Jack und Sally kommt zu Besuch, um die Roth's zum Essen abzuholen. Als die beiden Neuankömmlinge überraschend mitteilen, dass sie eine Auszeit von ihrer Ehe nehmen wollen und vorübergehend getrennt zu leben gedenken, kommt es zum Eklat; denn Judy (Mia Farrow) regt sich maßlos darüber auf und ist zutiefst verunsichert. Es ist offensichtlich an einem wunden Punkt ihrer Ehe mit Gabe gerührt worden.

Jack sucht fortan Abwechslung mit der jungen, blonden Öko-Spiritistin Sam. Die lebt zwar betont körperbewusst und ist im Bett eine zügellose Lustquelle, glaubt aber auch an den Unsinn der Astrologie und schaut sich im Fernsehen den reinsten Schwachsinn an. Eine Simone de Beauvoir ist sie leider nicht. Derweil verkuppelt Judy ihre Freundin Sally mit dem seriös-kultivierten Arbeitskollegen Michael. Die Ironie der Geschichte endet damit, dass Jack und Sally in ihre intellektuell abgeklärte Ehe zurückfinden. Ihrer Lebensgemeinschaft mangelt es zwar an Leidenschaft, dafür gewährt sie aber Sicherheit und Schutz vor Einsamkeit. Doch ist das wirklich schon alles? Ein Schlüsselerlebnis ist Sallys Erinnerung an das Liebesspiel mit Michael. Die Intellektuelle hatte offenbar ein Problem mit ihrem einfühlsamen Partner: Ich dachte, daß es mir gefiel, was Michael da mit mir tat ... Und es war auch ein anderes Gefühl als bei Jack. Zärtlicher und erregender. Und ich dachte daran, wie stark sich Michael doch von Jack unterscheidet. Und daß seine ganze Einstellung zum Leben viel tiefergehender ist. Und ich fand, daß Michael ein Igel ist ... Und Jack ein Fuchs. Und dann fiel mir ein, daß Judy auch ein Fuchs ist ... Und Gabe ein Igel. Und dann dachte ich über alle Leute nach, die ich kenne ... Eine Frau, die zuviel denkt beim Fühlen und sich dadurch um ihren Orgasmus bringt, ist oberflächlich betrachtet eine bloße Lachnummer - und witzig wirkt die Szene auch, weil ihr Liebhaber das Gefühl hatte, dass sie nicht immer so ganz bei der Sache war.

Wie Lee allerdings ausführt, mag Allen mit der Szene sehr viel mehr beabsichtigt haben. Er spielt damit nicht nur auf den Essay Berlins über Fuchs und Igel an, sondern charakterisiert darüber hinaus die Akteure gleichsam in ihrem ,,Geschlechterkampf`` um die jeweilige Dominanz in der Ehe: Der Fuchs weiß viele Dinge, aber der Igel weiß eine große Sache, heißt es bei Berlin. Dahrendorf hat den Philosophen kürzlich in den Olymp der ,,Erasmier`` erhoben und damit als einen liberalen Intellektuellen gewürdigt, der den Versuchungen der Unfreiheit widerstand. Wer (wie Einstein und Sartre) eine große Sache weiß, und die Vielfalt der Welt in einer vereinheitlichenden Sicht zu integrieren vermag, verfügt damit über ein souveränes Selbstvertrauen, dem man sich nur unterordnen kann. Sally sehnt sich wieder zu ihrem unterlegenen Fuchs Jack zurück und Judy entzieht sich ihrem überlegenen Igel Gabe, indem sie in subtiler Weise mit ihrer vermeintlichen weiblichen Schwäche die überlegene Souveränität Michaels unterminiert. Der Interviewer befragt dazu ihren ersten Mann David nach dem Ausgang ihrer Ehe. Interviewer: Warum haben Sie sich getrennt? David: Also damals dachte ich, ich wollte aus der Sache raus. Ich hatte einfach das Gefühl, daß die Luft raus ist. Aber wenn ich so zurückdenke, dann ... dann denke ich, daß es eigentlich Judy war, die die Scheidung wollte. Interviewer: Ach, dann hat sie Sie also verlassen? David: Nein, nein, sie würde ... Das ... das ist nicht ihr Stil. Lassen Sie sich von Judy nicht täuschen ... Sie ist ... Also, ich nenne das ,,passiv aggressiv``. Es heißt ständig: ,,Ich Ärmste ... Jetzt denk doch mal an mich``. Aber sie kriegt, was sie will ...

Dem einfühlsamen Michael fühlte sich Judy überlegen und Jack hatte seine ,,Simone de Beauvoir`` wieder, die er in Sam vermisst hatte, obwohl sie so gut im Bett war. Aber was trieb Gabe unterdessen? Hatte er eine Liebschaft mit der reizenden und talentierten Studentin Rain begonnen, die so schön über oralen Sex und das Zeitalter der Dekonstruktion schreiben konnte? Nach der Vorlesung spricht er sie darauf an: Ihre ... Ihre Kurzgeschiche ist einfach fabelhaft. Rain: Wirklich?! Gabe: Ja, ja. Ich war sehr beeindruckt. Das muß ich schon sagen. Und ich finde, es ist wahrscheinlich das Beste, was ich in diesem Semester gelesen habe. Sie ist wirklich wundervoll. Rain: Oh, das ist ja toll! Gabe: Ja, die Einsichten sind großartig, und ich ... ich fand die Prosa sehr, sehr anmutig, und ... Also, alles in allem war ich, war ich sehr beeindruckt ... Rain: Ihre Bestätigung bedeutet mir mehr als die von irgendjemandem. Sie sind der Grund, warum ich, ich anfing zu schreiben. Gabe: Wirklich? Rain: Ja. Meine Familie und ich, wir haben früher immer aus dem ,,Grauen Hut`` zitiert ... Gabe: Sie erinnern sich noch an diese Geschichte? Rain: Darin heißt es doch: ,,Die Aufgabe seiner ... Hoffnungen, der Kompromiß mit seinen Träumen war wie das Aufsetzen eines grauen Huts.`` Wir, äh, geliebt hab ich das. Ich meine ... Gabe: Wie kommen Sie denn zu dem Namen Rain? Rain: Meine Eltern nannten mich nach, äh ... Rilke ... Gabe: Ihre Art zu schreiben ist sehr ... Ich, ich finde sie sehr intensiv. Rain: Ich weiß nicht! Ja! Das ... ist nur ein Trick. Es ist genauso, wie ähm ... damals als ich zehn war, da hab ich eine lange Geschichte über Paris geschrieben. Und dabei bin ich noch nie dort gewesen ... Gabe: Können, können Sie das einfach so ,,rauslassen``? Der Professor ist sichtlich beeindruckt von seiner Studentin, hegt aber nicht die Absicht, sie zu verführen, wie er dem Interviewer mitteilt: Es gibt eine Anzahl von sehr, sehr guten Professoren, die schon berüchtigt sind, daß sie ihre Studentinnen verführen ... na ja, sie sind ältere Männer, und ihre Studentinnen fühlen sich durch ihre Aufmerksamkeit geschmeichelt. Ich habe so etwas nie getan. Ich will nicht sagen, daß ich nicht auch schon mal Tagträume hatte ... Doch die Erinnerung an eine wilde, geile, aber auch verrückte Frau voller Lust und Leidenschaft,- sollte besser nie wiederholt werden. Für sie endete die Affäre im Wahnsinn und für ihn in der Depression. Im Vergleich zu einer derartigen ,,Kamikaze-Frau`` war die ,,passive Aggressivität`` seiner Ehefrau ein Kinderspiel.

Auch Rains zweite Geschichte hat Gabe gefallen und so spricht er sie nach der Vorlesung darauf an: Ihre zweite Geschichte war genauso interessant wie die erste. Ich fand sie einfach wundervoll ... Rain: Das ist eine solche Ermutigung für mich. Ich möchte, dass Sie das wissen ... Gabe: Ich fand den Satz großartig, in dem es heißt: Das Leben imitiert nicht die Kunst, es imitiert das schlechte Fernsehen. Das entspricht vollkommen der Wahrheit. Die beiden verlassen die Uni und machen noch einen Spaziergang. Dabei kommt der Professor auf die Klassiker zu sprechen: Tolstoi ist eine ... ist eine ganze Mahlzeit. Äh ... Turgenjew, würde ich sagen, ist ein fabelhaftes Dessert ... So würde ich ihn charakterisieren. Rain: Und Dostojewskij? Gabe: Äh, ja, Dostojewskij ist eine ganze Mahlzeit mit einer Vitaminpille und Weizenkeimen als Beilage. Etwas später wird Rain poetisch zumute: ,,Ich stürze in die Dornen des Lebens, ich blute.`` Früher fand ich das romantisch ... Ach, zu schreiben, sich zu verlieren und wirklich Leidenschaft kennenzulernen. Gabe: Wirklich? Und Sie, Sie glauben, daß diese Leidenschaft tatsächlich aufrechterhalten werden kann? Rain: Ach, keine Ahnung. Das ,,Time Magazin`` sagt, daß die sexuelle Anziehungskraft auf den Partner in vier Jahren, glaube ich, waren das, verlorengeht ... Gabe: Ich denke manchmal daran, daß ich ... gern in Paris leben würde. Oder, na ja, ganz allgemein in Europa. Ich finde das schon sehr romantisch, wissen Sie? Weil mir dieses Leben in den Cafés so gefällt. Ich würde schreiben und mir eine kleine Wohnung oder so nehmen. Rain: Das hört sich toll an! ... Gabe: Also, ich sag Ihnen was ... Wenn Sie nie einer geküßt hat, an diesen regnerischen Pariser Nachmittagen ... dann sind Sie noch nie geküßt worden. Das versprech ich Ihnen ... Rain: Also, ich hab gefragt, ob ich Ihren Roman lesen darf ... Gabe: Na ja, ich bin jetzt desillusioniert. Ich habe wirklich ... Rain: Ja ...! Ich weiß. Und ich frage Sie auch nur deshalb, weil ich glaube, daß ich daraus sehr viel lernen könnte. Und ich würde gern erfahren, was Sie mögen und was Sie nicht mögen und warum Sie sich so hart kritisieren, wissen Sie?

Da Rain Interesse an seinem Roman gezeigt hat, passt er sie ein paar Tage später vor der Uni ab und gibt ihr sein Manuskript zu lesen. Die Studentin nimmt aber nicht nur den Text an sich, sondern bittet ihn auch gleich noch darum, mit zu ihr nach Hause zu kommen. Gabe lernt ihre Eltern kennen - die sich als seine Fans erweisen - und ist nicht minder verblüfft zu erfahren, dass seine 20jährige Studentin bereits drei Affären mit älteren Männern hinter sich hat. Unterdessen ist sie aber zur Vernunft gekommen und mit dem gleichaltrigen Carl zusammen. Gabe: Sie haben da genug Material für Ihren ersten Roman und die Fortsetzung. Und eine Oper von Puccini! ... Das ist ja unglaublich! Rain: Ja, schon, aber finden Sie nicht, daß ich recht habe?! Mit Carl hab ich Spaß. Und was soll ich eigentlich mit diesen Männern in ihrer Midlife-crisis ...? Ich meine, Sie sind alle wundervoll, durchaus gebildet, aber letzten Endes kam ich mir nur vor wie ein Symbol verlorener Jugend oder unerfüllter Träume. Oder dramatisiere ich das vielleicht?

Der Roman des Professors bietet weiteren Stoff über Ehemänner und Ehefrauen. Die Studentin liest ihn im Bett: Das Herz raste und stellte Forderungen, wurde melancholisch und verwirrt, und worauf lief das hinaus? Um welche schwachsinnige Strategie zu artikulieren? Die Fortpflanzung? All das sagte ihm etwas darüber, wie diese aberwitzige Anzahl von Spermien um ein einziges Ei wetteiferten. Es war auf keinen Fall anders herum. Selbstverständlich wollen Männer an jedem Ort und zu jeder Zeit mit möglichst vielen Frauen schlafen, vollkommen Fremde eingeschlossen, wohingegen Frauen wählerischer sind. Sie sind in jedem einzelnen Fall auf die Bedürfnisse eines einzelnen Eis ausgerichtet, während jeder Mann Abermillionen von rasenden Spermien hat, die laut schreien: ,,Laß uns raus, bitte, laß uns raus! Jetzt sofort!`` Ja, die Spermien buhlen um das Ei wie die Menschen um das goldene Kalb des Reichtums, der Macht oder des Ruhms. Aber war Feldmann nicht anders? Der sehnte sich danach, eine Frau kennenzulernen, die er körperlich begehrte und folgende Persönlichkeit besaß: einen schlagfertigen Humor, seinem entsprechend, Interesse für Sport, seinem entsprechend, einer Vorliebe für klassische Musik, seiner entsprechend, mit einer entsprechenden Liebe für Bach und sanfte Klimazonen. Kurz gesagt, er wünschte sich sich selbst. Aber als hübsche Frau.

Einige Tage später treffen sich Rain und Gabe in einem Restaurant: Rain: Also, das Buch ist wundervoll! Es ist, ach, es ist unterhaltsam und einfallsreich und bewegend. Gabe: Sie müssen das nicht sagen, ich kann ... Sie können ruhig kritisch sein. Seien Sie ganz ehrlich zu mir ... Rain: Glauben Sie mir nicht? ... Ich bin wirklich objektiv ... und, äh, ich meine, ja! Ich liebe Ihre Art zu schreiben und so ... Einiges hätte ich zu kritisieren, aber alles in allem ist das Buch einfach ... Aber da fällt der Studentin etwas Entsetzliches ein: Oh, mein Gott, ich glaube, ich habe das Manuskript im Taxi vergessen ... Zum Glück ist der Taxifahrer rasch ermittelt. Auf der Fahrt zu ihm, beginnt Rain mit dem Psychologisieren: Es ist, es ist alles so freudianisch! Gabe: Was denn? Rain: Oh, die ganze Geschichte, daß ich Ihren Roman im Taxi liegen lasse und das alles ... Ich hab mich vielleicht davon bedroht gefühlt. Gabe: Von meinem Buch bedroht? Rain: Ja. Ich meine, ich bin sehr ... Ich bin von Natur aus sehr ehrgeizig, also ... Gabe: Das ist doch absurd! Rain: Wieso denn?!? Weil ich eine junge Frau bin? Gabe: Nein, äh ... also, nehmen Sie mir das nicht übel, denn ich bin ja auf Ihrer Seite. Ich, ich bin, na ja, ich bin Ihr größter Fan. Rain: Ja, ich denke, daß ich mich vielleicht bedroht fühlte von gewissen Dingen in dem Buch ... Ähm, von Ihrer Einstellung Frauen gegenüber und Ihren Ansichten über das Leben ... Die Art und Weise, wie Ihre Figuren so leichtfertig ihre Verhältnisse aufrechterhalten, das ist ... Gabe: Aber das Buch billigt Verhältnisse nicht. Ich übertreibe nur aus Gründen der Komik. Rain: Ja ... Aber können wir denn wirklich nur wählen zwischen chronischer Unzufriedenheit und spießigem Stumpfsinn? Gabe: Nein, aber ich arbeite bewußt mit diesen Verzerrungen, weil ich aufzeigen will, wie schwer es ist, verheiratet zu sein, und äh, diese Le ... Rain: Aber man sollte vorsichtig sein und solche Dinge nicht trivialisieren ... Also, die Art, wie Ihr Held Frauen beurteilt, das ist so rückschrittlich, das ist so seicht, wissen Sie? Gabe: Aber, was reden Sie denn? Sie haben mir doch gesagt, es ist ein großartiges Buch. Rain: Ja, es ist wundervoll, aber großartig hab ich nicht gesagt. Ich sagte, es ist brilliant und lebendig ... Ich meine, ,,Triumpf des Willens`` war ein großartiger Film, aber man verachtet die Idee dahinter. Gabe: Was wollen Sie damit sagen? Daß Sie meine Ideen verachten? Rain: Nein, ich verachte sie nicht ... Das Beispiel war schlecht ... Okay, ist es für Sie als denkender Mensch nicht eigentlich unwürdig, Ihrem Helden zu gestatten, daß er soviel verschwendet von seiner emotionalen Energie, besessen von diesem psychotischem Verhältnis zu einer Frau, die sie so anlegen, als sei sie unglaublich sexuell und inspiriert, aber eigentlich ist sie bemitleidenswert krank ... Nach einiger Zeit ist Gabe sichtlich erregt: Ich ... ach, es wäre schrecklich, Ihr Freund zu sein. Der muß ja die Hölle durchmachen. Rain: Ich bin es auch wert. An Selbstwertgefühl mangelt es der jungen Dame nicht. Nur eine Wahl zwischen chronischer Unzufriedenheit und spießigem Stumpfsinn zu haben, kann auch als Parodie des Herdenwesens in der Massengesellschaft gelesen werden.

Die selbstbewusste Studentin hatte ihren Professor schwer beeindruckt. Dem Interviewer gestand er: Wissen Sie, unser Streit in diesem Taxi war ... war ... ähm ... Ich fand ihn sehr reizvoll. Und ich fühlte mich dadurch zu ihr hingezogen. Wissen Sie, daß sie nicht nur irgendeine passive kleine ehrfürchtige Studentin war oder so was. Irgendwie spürte ich schon, daß, äh ... Nicht, daß ich vorhatte, irgendwas zu unternehmen, obwohl ich ... Ich hatte schon gewisse Tagträume deswegen. Da er zu ihrem 21jährigen Geburtstag eingeladen war, kaufte er ihr eine geschmackvolle kleine Spieldose: genau das richtige Etwas für eine junge Dame. Obwohl sie sich riesig darüber freute, ihn in einem ungemein romantischen Moment um einen Geburtstagskuss bat und beide nach einigem Zögern den innigen Kuss sichtlich genossen - verfolgte er die keimende Liebschaft nicht weiter. Hatte er nicht schon genug Affären mit Kamikaze-Frauen hinter sich und wusste, wie es enden würde? Und war es ihr mit älteren Männern nicht auch schon mehrfach fad geworden?

Ein Jahr später wird Gabe noch einmal interviewt: Und wie sieht Ihr Leben jetzt aus? Gabe: Na ja, ich, ähm, ich bin gerade ,,aus dem Rennen``. Im Augenblick. Ich ... Ich will mich jetzt nicht an jemanden binden. Ich, äh, ich will niemanden verletzen und will nicht verletzt werden. Ich ... Also, es macht mir nichts aus, allein zu leben und zu arbeiten. Ich ... Also, das ist nur vorübergehend. Ich meine, die Gefühle werden verblassen, und dann krieg ich sicher wieder den Drang, auf das Karussel zu springen ... und ... Aber wie ich schon sagte, ich schreibe. Ich arbeite an einem Roman. Einem neuen Roman. Nicht mehr an dem alten, und ... Na ja, mir geht es gut, ja, wirklich gut. Interviewer: Ist er denn anders? Äh ... Gabe: Mein Roman?! Ja, er ist nicht so sehr ein Geständnis, sondern eher politisch. Ähm ... Äh, kann ich gehen? War es das?

Mit Bullets over Broadway greift der Filmemacher 1994 Gabes Traum vom Boheme-Leben in Cafés und Theatern auf und spitzt die Existenzphilosophie Nietzsches von der Überhöhung des Lebens durch die Kunst im ,,Übermenschen`` zu. Auf Lees Frage nach seinen wichtigsten Philosophen antwortete Allen mit Nietzsche: The Michael Jordan of philosophers, fun, charismatic, dramatic, great all-around game. Trotz des tragischen Grundtons, versteht es Woody immer wieder, den Film mit Humor zu erheitern und durch Komik ironisch zu brechen, so dass sein Kostümfilm aus dem Theater- und Gangstermilieu der 1920er Jahre bei Kritik und Publikum gleichermaßen gut ankam. Frodon hat Allen zu seinen ästhetischen Ambitionen befragt: Die meisten meiner Filme sind psychologische Geschichten - dieser nicht. Das Thema von Bullets over Broadway ist ästhetisch. Es ist ein Film über die Kunst und über die Bedeutung von Kunst. Es geht nicht um individuelle Introspektion, sondern darum, wie sich Gruppen von Menschen zur Kunst verhalten und wie sich Menschen nach bestimmten Modellen modeln. Die Boheme-Künstler und auch die Gangster handeln genauso, wie die Leute es von ihnen erwarten - mit Ausnahme von einem, und er ist der wahre Künstler. Zum Teil liegt das daran, daß er imstande ist, abscheuliche Taten zu begehen. Heute halten sich die Leute schon deshalb für Künstler, weil sie ein Boheme-Leben führen. Sie glauben, es genüge, Käse zu essen, Rotwein zu trinken und endlos über Dramen von Shakespeare zu debattieren ... Auf einer tieferen Ebene jedoch bleiben sie Angehörige des Bürgertums. Ihre Arbeit kommt über eine bestimmte Ebene nicht hinaus, sie ist von der Realität zu weit entfernt. Ein Künstler andererseits kann auch ein Hoteldieb oder irgendetwas sein, ein Killer, ein Müllmann, aber er hat etwas - etwas, das man auf der Kunstakademie nicht lernen kann. Als Künstler wie Thomas Mann oder Wissenschaftler wie Albert Einstein wird man geboren. Das kann für viele Mittelmäßige eine ziemlich deprimierende Einsicht sein.

Rain wusste um ihren Wert als Schriftstellerin, der Dramatiker David Shayne aus Bullets over Broadway wird sich schwer tun mit dem Eingeständnis, dass er zwar schreiben gelernt hat, aber deshalb noch lange kein Künstler aus ihm geworden ist. In einem New Yorker Künstler-Café debattiert er mit seiner Freundin Ellen, dem verkannten Dramatiker Sheldon Flender und seiner Freundin Rita sowie dem Möchtegern-Maler Rifkin und seiner Freundin Lili über Kunstanspruch und Publikumsgeschmack: David: Glaubt mir, sie lesen mein Stück, sie sind begeistert, sie haben nur Angst davor ... Flender: Das ist irrelevant ... irrelevant. Was ich ... was ich damit sagen, nur sagen will, ist, daß ... daß kein wirklich großer Künstler jemals zu Lebzeiten Anerkennung gefunden hat. David: Nein? Wirklich kein einziger? ... Flender: Nimm doch, äh ... äh, Van Gogh. Oder, oder Edgar Allan Poe. Rita: Genau. David: Ach ... Flender: Weißt du, kein ... kein .... kein .... kein einziges Stück von mir ist je produziert worden ... Ja, so ist das, und dabei schreibe ich ein Stück pro Jahr ... und das seit 20 Jahren. David: Ja, aber das liegt daran, daß du ein Genie bist. Und zwar weil das Durchschnittspublikum und die Intellektuellen dein Werk völlig unzugänglich finden ... Und deshalb bist du ein Genie. Rita: Vollkommen richtig. Rifkin: Wir kennen doch alle diese Augenblicke des Zweifels. Ich male jede Woche ein Ölbild ... Werfe einen Blick darauf, und dann zerschlitze ich es mit der Rasierklinge ... Flender: Tja, in deinem Fall ist das eine gute Idee ... Ellen: Aber ich glaube an deine Stücke, David ... Auch deshalb, weil du ein Genie bist. David: Ja. Und vor zehn Jahren habe ich diese Frau entführt ... aus einem bürgerlichen Leben in Pittsburgh ... Rita: Wir verlieben uns in den Künstler, nicht in den Mann ... Lili: Das läßt sich doch gar nicht voneinander trennen ... Rifkin: Ein Künstler läßt sich nicht mit normalen Männern vergleichen. Flender: ... Sagen wir mal, ein Haus fängt an zu brennen .... Und du kannst da noch rein rennen und nur eine einzige Sache retten .... Entweder die allerletzte Ausgabe von Shakespeares Stücken ... oder irgendeinen x-beliebigen Menschen ... David: Man darf nicht ... man darf auf keinen Fall der Welt diese Stücke rauben. Flender: Sehr richtig ... Das meine ich auch. Rita: Es geht doch dabei um ein Menschenleben. Lili: Nein, nein. Das ist doch Irrsinn! Du kannst doch nicht das Leben, das Leben eines Menschen als sein Werk bezeichnen. Rita: Aber das Leben eines Menschen ... das Leben eines Menschen ist doch ... Ellen: Es ist ein lebloser Gegenstand. Flender: Es ist kein lebloser Gegenstand ... es ist Kunst ... die Kunst ist das Leben. Sie lebt!

Der Forderung Nietzsches für den ,,Übermenschen`` folgend, haben sich die vermeintlichen Genies offenbar für die Kunst und gegen die Moral entschieden. Nun trägt es sich allerdings zu, dass David die Chance erhält, sein Stück Gott unserer Väter aufführen zu können. Die Sache hat natürlich einen Haken. Da die Unterweltsgröße Nick Valenti die Produktionskosten übernimmt, besteht er darauf, dass seine zickige Freundin Olive eine Rolle in dem Stück bekommt, obwohl sie keinerlei Schauspieltalent hat. Für David ist es ein Pakt mit dem Teufel. Da in der Hauptrolle immerhin die Diva Helen Sinclair auftreten wird, kann sich der Dramaturg die Angelegenheit schön reden - ganz so, wie es Festingers Theorie von der Vermeidung kognitiver Dissonanz verlangt: Vielleicht können meine Erfahrungen für andere von Nutzen sein, genauso wie ich mich an der Lektüre meiner Idole, Tschechow und Strindberg, ergötze.

In dem Maße wie David für die Diva entflammt, fällt ihm die Unterwelts-Braut auf die Nerven, zumal die stets ihren Bodyguard Cheech dabei hat. Da der sich alle Proben mitanhören muss und auch noch auf Geheiß seines Bosses mit Olive zu üben hat - rastet der ansonsten betont coole Gangster bei einer Probe unverhofft aus: Es ist nur Kotze vom Faß mit Schuß. Entsetzt und tief betroffen klagt der Dramaturg der Diva sein Leid. Doch die herrscht ihn nur an - zu schweigen, einfach still zu sein, nicht zu sprechen. Don't speak! Denn was er zu sagen hat, ist keines Künstlers würdig. Und insgeheim muss David dem Totschläger auch noch recht geben: Die Kunst imitiert das Leben; vom Leben aber weiß der Gorilla offenbar sehr viel mehr als der Schreiberling. Die gemeinsame Umarbeitung seines Dramas mit dem Killer wirkt denn auch wahre Wunder. Die Diva ist ganz aus dem Häuschen: Alles ist motiviert. Es hat Fluß ... Wunderbar ... Es ist so voller Leben. Es ist so voller Leidenschaft. Es knistert vor flammender Sexualität ... Endlich ist es fleischlich.

Die Proben schreiten fortan gut voran und der Erfolg scheint gesichert - wenn da nicht noch die völlig unfähige Möchtegern-Schauspielerin Olive wäre. Der Stückeschreiber David ist bereit, Kompromisse zu machen; nicht jedoch der wahre Künstler Cheech: Sie bringt meinen Text um! Während der Gangster das Vergehen der dümmlichen Schickse an seiner Kunst auf die harte Tour ahndet, trifft sich David mit Flender in einem Café in Greenwich Village. Kunst und Leben sind ihm wieder einmal durcheinander geraten: Hör mal ... Flender ... ich bin ... ich bin völlig durcheinander. Ellen, Ellen, ich liebe Ellen. Sie ist immer bei mir gewesen ... Hat zu mir gehalten ... Ich ... ich liebe sie über alles ... Doch, doch jetzt ... Flender: Komm zur Sache. Wo liegt das Problem? Es war doch immer klar, daß du Ellen liebst. David: Ich habe jetzt etwas mit Helen Sinclair, und ich fühle mich furchtbar. Aber ich kann nichts dagegen tun. Sie ist so charismatisch ... und ... und ist brilliant und wunderschön. Eine echte Künstlerin. Und wir sprechen dieselbe Sprache. Flender: Schuldgefühle zerfressen dich ... David: Ich kann nicht schlafen. Flender: Schuldgefühle ... sind kleinbürgerlicher ... Quatsch. Ein Künstler erschafft sich sein eigenes moralisches Universum.

Die Kleinbürger reden bloß über ihr angeblich selbst erschaffenes moralisches Universum, der Künstler dagegen ist zur Tat geschritten - und hat Olive einfach erschossen; ohne Skrupel oder Schuldgefühl, sondern nur, weil sie eine grauenhafte Schauspielerin war. Als David davon erfährt, ist er fassungslos. Er hätte sich mit Olive schon arrangiert. Nicht so Cheech. Der sah ein Werk von großer Schönheit gefährdet: Niemand ... niemand versaut mir meine Arbeit! Verstehst du mich? Niemand, ja? Als er David daraufhin zu Boden stößt, muss auch der um sein Leben fürchten. Er macht sich lieber aus dem Staub und sucht Zuflucht bei seiner Freundin-, die ihm allerdings erst einmal ihre Affäre mit seinem Freund Flender gesteht: Du kennst doch seine These, daß die Kunst reziprok ist. Man braucht zwei dazu: Und zwar den Künstler und das Publikum. Na ja, für ihn gilt das auch beim Sex. David: Beim, beim Sex? Ellen: Ja, wenn zwei Partner zusammenpassen, wird das auch zu einer Kunstform. David: Ellen, was soll das heißen? Daß du und Sheldon den Geschlechtsakt auf die Ebene einer Kunstform erhoben habt? Ellen: Nicht nur den Akt. Das Vorspiel auch. David: Mein Freund, der nie aufgeführte Dramatiker? Ellen: Er ist schon so lange Zeit hinter mir her, und ... du hast ja wohl nie die Absicht gehabt, mich zu heiraten ... Eines Abends sind wir was trinken gegangen und haben angefangen ... über Kunst und Literatur, Freud und Nietzsche zu reden ... Und um eine Behauptung zu bekräftigen ... über griechische Etymologie ... fiel mir auf, daß er dafür den Hosenschlitz aufgeknöpft hatte ... David: Ich will nichts mehr hören ... Ellen: Er ist aber ein bedeutendes Talent. David: So ist es für uns beide am besten. Ellen: Das hast du selbst tausendmal behauptet. Und bei einem derart großen Intellekt erschafft man sich sein eigenes moralisches Universum.

Nachdem Gott unserer Väter ein riesen Erfolg geworden war, David als neues Talent gefeiert wurde und Cheech sein in Gangster-Kreisen übliches Ende gefunden hatte, wird sich der Stückeschreiber endlich seiner Mittelmäßigkeit bewusst. Er hatte sich offensichtlich immer nur was vorgemacht und selbstgefällig sein Ego gepflegt. David ist kein Künstler. Ihm ist das Leben wichtiger als die Kunst. Und so sucht er abschließend die klärende Aussprache im Freundeskreis. Dazu eilt er nach Mitternacht auf die Straße und schreit wild entschlossen Flender aus dem Bett: Flender! ... Flender! ... Ich muß mit dir reden! Flender: Ha-ha! Sieh mal, wer da ist! Der große Broadway-Erfolg! Ich schreibe keine Kassenschlager, meine Stücke sind Kunst ... Sie sind bewußt so geschrieben, daß sie keiner aufführt. Da David seine Freundin beim Freund vermutet, fragt er nach ihr. Ellen: Ich gratuliere dir zu deinem Erfolg, David. Ich habe immer gewußt, daß du das Zeug dafür hast ... David: Hast du mich als Künstler geliebt ... oder als Mann? Ellen: Beides. David: Und wenn sich herausstellt, daß ich eigentlich gar kein Künstler bin? Ellen: Ich könnte einen Mann lieben, wenn er kein richtiger Künstler ist ... Andererseits hat es ihr Flender ganz schön angetan: Seine Technik ist sagenhaft. Flender: Sagenhaft! David: Ihr verwechselt Sex mit Liebe! Rita: Für mich geht Liebe sehr tief. Sex muß nur ein paar Zentimeter tief gehen. Flender: Ihr redet alle an der Sache vorbei. Es geht darum, daß ich einer Frau mehrmals am Tag Lust schenken kann. Rita: Ach, ja ... Ellen: Also wirklich, Flender, was hat denn Quantität damit zu tun? Flender: Quantität? Quantität bewirkt Qualität. David: Wer sagt das? Flender: Karl Marx. Rita: Jetzt geht es also um Ökonomie. Flender: Sex ist Ökonomie. Für David ist das nur noch Schwachsinn. Als er Ellen endlich losgeeist hat, trifft er eine Grundsatzentscheidung für sein künftiges Leben: Ich häng' es an den Nagel. Das In-Mansarden-Leben ... Käse essen ... Rotwein trinken und Kunst in Cafés analysieren ... Es ist vorbei ... Ich liebe dich ... Ich möchte, daß wir heiraten ... Ellen: Aber, du bist doch Künstler. David: Nein, bin ich nicht ... In zwei Dingen bin ich mir sicher: Erstens liebe ich dich. Und zweitens bin ich kein Künstler ... Jetzt hab' ich es gesagt, und ich fühle mich frei ... Ich bin kein Künstler ... Willst du mich heiraten? Ellen: Ja.

David und Ellen fahren wieder zurück nach Pittsburgh, um ein traditionelles Familienleben zu führen: in einem Haus mit Garten und Kindern, dem festen Job, regelmäßigen Urlaubsreisen - und dem gemeinsamen Altwerden. Das Boheme-Leben in Greenwich Village tauschen sie ein gegen das Familienleben in der Provinz. Allens Perspektivismus scheint sich aus beiden Quellen zu speisen. Mit seiner ersten Frau und Philosophin Helen pflegte er das Boheme-Leben in den Künstler-Cafés und Off-Broadway-Theatern New Yorks, als Kind wuchs er in das jüdische Familienmilieu Brooklyns hinein und der etablierte Filmemacher genießt den bürgerlichen upper class - Luxus der Park Avenue, zuerst mit Mia und ihrer Großfamilie, später in der verliebten Zweisamkeit mit Soon-Yi. Lassen sich Kunst und Familie also vereinbaren? Nur wenn man auf die Unbedingtheit des eigenen ästhetischen Schönheitsideals verzichtet und eher einer nüchtern pragmatischen Lebensbemeisterung zustrebt. Frodon hat Allen im Anschluss an Bullets over Broadway nach seinem Kunstanspruch befragt: Bei mir ergibt sich nichts von selbst. Ich muß hart arbeiten, studieren, Filme, Theaterstücke ansehen, Bücher lesen - und ich glaube nicht, daß ich meiner Arbeit zuliebe jemanden umbringen oder mein Leben aufs Spiel setzen würde. Die Leute sagen mir immer: ,,Sie sind ein Perfektionist.`` Aber ich bin nie ein Perfektionist gewesen. Ich bin jemand, der Filme macht, und wenn mir einer sagt: Heute abend ist ein wichtiges Basketballspiel, dann sage ich: Okay, wir drehen die Szene morgen zu Ende, gehen wir nach Hause! Meine Arbeit verschlingt nicht mein ganzes Leben, während die Figur in dem Film mit Haut und Haaren Künstler ist. Gleichwohl spielt Woody die Extrempositionen verschiedener Lebensweisen und Denkhaltungen gern in komischer Zuspitzung gegeneinander aus, greift als Autor und Regisseur ,,gottgleich`` in die Lebensgeschicke seiner Figuren ein und schaut zu, was daraus wird.

In Alice konfrontierte er die chinesische Antike mit dem upper class - Lebensstil im New York der 1990er Jahre, mit Mighty Aphrodite spielt er 1995 ,,Gott`` im Leben der Prostituierten Linda, indem er sie auf den Tugendpfad der amerikanischen Mittelschicht zu bringen versucht. Frodon gegenüber hat er dazu ausgeführt: Lenny, den ich spiele, greift in Lindas Leben ein. Er gebärdet sich als Regisseur, indem er Einfluß nimmt auf ihre Garderobe, ihre Diktion, ihre Einrichtung, sich einen Partner für sie ausdenkt, ihre Geschichte zu manipulieren versucht. Interessant daran scheint mir, daß gar nicht sicher ist, ob er ihr damit einen Dienst erweist, auch wenn er davon überzeugt ist. Sie ist Prostituierte, aber sie beklagt sich nicht über ihr Schicksal. Sie verdient Geld, sie lebt in ihrem Traum, Schauspielerin zu werden. Lenny zwingt sie, sich dem Frauenbild der Mittelschicht anzupassen, das sein Ideal ist, aber nicht unbedingt Lindas. Ich selbst bin paradoxerweise ähnlich wie Lenny und denke im Innersten, er hat richtig gehandelt, weil ich es schrecklich finde, Prostituierte zu sein. Aber ich gebe zu, daß jemand zu mir sagen könnte: Wie kommst du dazu, darüber zu entscheiden, was für ein Leben sie führen soll. Der Eingriff in Lindas Leben erfolgt zweifach: einmal als handelnde Filmfigur Lenny, das andere Mal als deus ex machina, als ,,Gott`` in Gestalt des Filmemachers. Schon Sandy aus Stardust Memories gefiel sich in der Rolle des Chefgottes Zeus. Statt auf die chinesische, greift Allen nunmehr auf die griechische Klassik zurück und knüpft damit auch an Nietzsches Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik an. Dazu lässt Woody den griechischen Chor der antiken Tragödie in unterhaltsamer Weise an den Geschicken eines New Yorker Mittelschichts-Paares der Gegenwart Anteil nehmen.

Als Ausgeburt seiner Filmkunst gerät ihm die Parodie der klassischen Tragödie zu einer wunderbar leichten Komödie, die anhebt mit dem Chor auf antiker Freilichtbühne und natürlich an die Mythen Homers erinnert: Woe unto man. Brave Achilles, slain in trail by blood. For prize, the bride of Menaleas and father of Antigone, ruler of Thebes, self-rendered sightless by lust of expiation, lost victim of bewilered desire. Nor for Jason's wife fared better, giving life, only to reclaim it, in vengeful fury. Chorleiter: For to understand the ways of the heart is to grasp as clearly the malice or ineptitude of the gods. Who in their vain and clumsy labours to create a flawless surrogate have left mankind but dazed and incomplete. Chor: Take for instance the case of Lenny Weinrib, a tale as Greek and timeless as fate itself. Schnitt! Und wir befinden uns nicht mehr auf antiker Theaterbühne, sondern am Tisch eines Restaurants in New York: Lenny, let's have a baby. Nach diesem Wunsch der Galleristin Amanda Sloane, gemeinsam mit ihrem Mann, dem Sportreporter Lenny Weinrib, ein Kind aufzuziehen, nimmt das Schicksal seinen Lauf. Der ältere Ehemann war schon einmal verheiratet und hat bereits ein erwachsenes Kind und die jüngere Frau (Helena Bonham Carter) möchte auch nicht ihre Karriere unterbrechen: also fällt die Entscheidung auf ein Adoptivkind. Lenny ziert sich noch zuzustimmen - und der Chor scheint ihn zu bestätigen: Kinder werden erwachsen, ziehen aus! Manchmal an so lachhafte Orte wie Cincinatti oder Boise, Idaho! Dann siehst du sie nie wieder! Chorführer: Glaubst du etwa, sie rufen an? Laius: Aber gibt es da eine wachsende Leere in der Ehe der Weinribs? Chor: Das haben wir nicht gesagt! Wir denken alle nur über mögliche Motive nach. Kinder sind eine ernste Sache! Um die Risiken der unbekannten Herkunft eines adoptierten Kindes aufzuzeigen, ist Kassandra nicht fern: Ich sehe Desaster! Ich sehe Katastrophen! Schlimmer: Ich sehe Anwälte!

Lenny ist zwar der Boss in der Ehe, aber Amanda trifft die Entscheidungen. Als gerade die Chance besteht, einen neugeborenen Jungen zu adoptieren, ist es soweit. Die beiden sind ganz entzückt von dem niedlichen Säugling. Aber wie sollen sie ihn nennen? Graucho? Django? Nein, einfach Max, wie Amanda vorschlägt. Zur Freude der überglücklichen Eltern entwickelt sich der Kleine zu einem ganz prächtigen Knaben; nicht nur hochintelligent, sondern auch schon früh sportbegeistert. Da Amanda zunehmend durch ihre Arbeit in einer neuen Gallerie in Anspruch genommen wird und Lenny das Künstlermilieu eher abschreckt, treibt ihn nicht mehr nur der Gedanke nach der Herkunft des außergewöhnlichen Jungen um, er schreitet vielmehr zur Tat. Obwohl ihn der Chorführer davon abzuhalten versucht, weil er gegen geltendes Recht verstoße, nimmt er ein ,,höheres Gesetz`` für sich in Anspruch - und eignet sich die Adoptionsunterlagen an. Nun steht seiner Suche nach den leiblichen Eltern Maxens nichts mehr im Wege. Und für einen Reporter ist das ein Kinderspiel. Als er aber die Prostituierte und Pornoqueen Julie Cum alias Linda Ash als Mutter ermittelt, ist er einigermaßen enttäuscht, um nicht zu sagen entsetzt. Aber auch eine ganz neue Welt des Abenteuers malt er sich aus. Und wieder den Rat des Chorleiters ausschlagend, vereinbart Lenny einen Termin mit dem Callgirl (Mira Sorvino).

Nicht nur eine attraktive, hochgewachsene und wohl proportionierte Blondine nimmt ihn in Empfang, neben der er wie ein verhuschter Wurzelzwerg ausschaut. Die Pornoqueen und Sexspezialistin ist zugleich eine ausnehmend warmherzige und verständnisvolle Frau mit viel Lebenserfahrung trotz ihrer jungen Jahre. Wie Lee hervorhebt, ist die ,,allmächtige Liebesgöttin`` the embodiment of female sensuality, a woman who relishes her sexual allure with no sense of shame or regret. Der Biedermann fühlt sich gleichermaßen angezogen und abgestoßen. Er ist sichtlich verunsichert. Zumindest kann er nunmehr die Suche nach dem Vater aufgeben. Bei einem geplatzten Kondom während eines Pornodrehs kommen viele infrage. Die leiblichen Eigenschaften eines Menschen sind offensichtlich nicht nur erblich, sondern auch zufällig! Aber wie sieht es mit den sozialen Merkmalen aus? Ein Hardcore-Callgirl wie Linda hat natürlich einen Luden - und der droht den beiden mit dem Schlimmsten. Nicht ohne Grund sieht Kassandra Gefahr und Unheil heraufziehen, um nicht zu sagen: auf den Boden genagelte Kniescheiben ... Neben Sex und Autos ist es der Sport, der die Milieus verbindet. Und so hat der Sportreporter die Prostituierte nach einigem Hin und Her gegen attraktive Stammplätze im Basketball-Stadion freigekauft. Aber was nun: Jetzt ist sie sein Mädchen! Da ist guter Rat teuer. Der Chor versucht es bei Zeus - was sich meldet, ist aber nur sein Anrufbeantworter ... Ja, der Grieche dachte und Zeus lachte. Da nimmt es nicht wunder, dass Lennys Versuche, aus Linda einen Durchschnittsmenschen zu machen, immer wieder scheitern. Hilfe ist also nur von oben zu erwarten. Wie es der Zufall so will, schwebt ein ins Trudeln geratener Hubschrauberpilot gerade in dem Moment an der Straße ein, als Linda im Auto seinen Weg kreuzt. Die beiden verlieben sich natürlich und der Pilot ist auch bereit, das Kind seines Glücksfalls anzunehmen. Denn ohne Wissen Lennys war Linda bei einem Tröstungsfick von ihm geschwängert worden. Nach dem letzten Schnitt hat wieder der Chorführer das Wort: Life is unbelievable, miraculous, sad, wonderful. Chor: Yes, this is all true. And that's why we say: When you're smiling, when you're smiling ... The whole world smiles with you ... Keep smiling ... When you're laughing, when you're laughing ... The sun keeps shining through ... Beschwingt-nachdenklich und mit der Sonne im Herzen verlässt der Zuschauer das Kino - und steht unversehens wieder der grausam-lärmenden Großstadt-Realität gegenüber.

Das Schweigen ,,Gottes`` mit dem Einschalten seines Anrufbeantworters zu parodieren, verweist auch auf die ,,gottgleiche`` Allmacht eines Autors über sein Stück. In dem Einakter Gott aus Without Feathers ist es der Autor Woody Allen, der sich in dem Drama anrufen lässt - und nicht nur erreichbar ist. Nachdem er erfahren hat, dass eine attraktive Philosophiestudentin aus dem Publikum unverhofft im Stück mitspielt, will er sogleich selbst vorbeikommen, um sich ihrer anzunehmen. Allens selbstreflexiv-zirkurläres Werk Gott hebt an mit einem Dialog zwischen Autor und Schauspieler. In humorvoll-komischer Weise beginnen und beenden sie das Stück mit der Suche nach einem passenden Schluss. Schauspieler: Nichts ... einfach nichts ... Autor: Was? Schauspieler: Bedeutungslos. Hohl. Autor: Der Schluß. Schauspieler: Natürlich. Worüber reden wir? Wir reden über den Schluß. Autor: Wir reden immer über den Schluß. Schauspieler: Weil er hoffnungslos ist. Autor: Ich gebe zu, er ist unbefriedigend. Schauspieler: Unbefriedigend? Er ist nicht mal glaubhaft. Der Trick ist, mit dem Schluß anzufangen, wenn man ein Stück schreibt. Erfinde einen guten, starken Schluß und dann schreib von hinten nach vorn. Autor: Das habe ich versucht. Ich bekam ein Stück ohne Anfang. Schauspieler: Das ist absurd. Autor: Absurd? Was ist absurd? Ist ein Kreis absurd, weil er nicht Anfang, Mitte und Schluss hat, wie es sich für ein klassisches Drama gehört? Wenn ein Stück endet wie es anfängt, kann es als Dauerveranstaltung zum Gleichnis für die ewige Wiederkehr des Gleichen werden.

Die Probe, die das Stück einleitet, spielt in einem Amphitheater um etwa -500 in Griechenland. Während der absurden Suche nach einem Schluss in einem zirkulären Drama, reflektiert der Autor hellsichtig seine Situation: Wir sind Figuren in einem Stück und werden bald mein Stück sehen, das ein Stück in einem Stück ist. Und sie sehen uns zu. Zur Kunst gehört auch ein Publikum. In diesem Fall wird es allerdings von Schauspielern aus einem anderen Stück dargestellt. Hilfesuchend wendet sich der Autor an die Runde. Es meldet sich Doris, eine Philosophiestudentin: Die philosophische Grundfrage ist: Wenn ein Baum im Wald umfällt, und niemand ist da und hört es - wie können wir dann wissen, daß es Lärm macht? Statt über die Wirklichkeit der Realität zu diskutieren, steht dem Autor eher der Sinn danach, mit Doris die Wirklichkeit des Sex' zu ergründen. Und sogleich ruft er nach dem Vorhang ... Diese Seite der menschlichen Natur hat der Autor Allen natürlich seiner Autoren-Figur in dem Stück auf den Leib geschrieben. Aber kann Sex mit einer Dramenfigur wirklich sein? Vielleicht dann, wenn die Publikumsfigur als Schauspielerin agiert? In einer derarigen Verwirrung kann am Schluss nur ein deus ex machina die Realitätsebenen vereinbaren. Aber was, wenn es keinen Gott gibt? Das ist eine Frage an den Autor. Nach einigen Erwägungen lässt er Zeus auftreten und sogleich proben: Schauspieler: Oh, Zeus. Du großer Gott! Wir sind verwirrte und hilflose Sterbliche. Bitte sei barmherzig und ändere unser Leben ... Bursitis (als Zeus): Ich bin Zeus, der Gott der Götter! Bewirker von Wundern! Schöpfer des Universums! Rettung bringe ich euch allen! Was in der Probe eindrucksvoll dramatisch funktioniert, geht zur Aufführung leider nicht gut aus: Der Schauspieler Diabetis ruft nach dem griechischen Gott; aber der wird so ungeschickt auf die Bühne heruntergelassen, dass ein Seil ihn stranguliert - und umbringt, bevor er rettend eingreifen kann: Gott ist tot. Sich selbst überlassen, müssen die Akteure wieder von vorne anfangen ...

Woodys witzig-hintersinniger Einakter Gott kann auch als Parodie des metaphysischen Happenings aus der fröhlichen Wissenschaft Nietzsches verstanden werden. Mit der Mehrebenenstruktur eines klassischen Dramas, in dem der Autor als Dramenfigur über den Schluss des Stückes nachdenkt, verbindet Allen wiederum antike Ordnungsliebe mit postmoderner Beliebigkeit. In seinem nächsten Film Deconstructing Harry setzt der Filmemacher 1997 das Motto der Postmoderne sogar im Titel ein. Mit dem an die Nouvelle Vague anknüpfenden Stil direkter Kameraführung und auslassender Schnitte, führt Allen seine Experimente aus Husbands and Wives weiter. Auch nimmt er mit dem gerade an einer Schreibblockade leidenden Schriftsteller Harry Block, den der Filmemacher selber spielt, das wechselvolle Verhältnis zwischen Literatur und Filmkunst wieder auf. Ebenso wie in dem Drama Gott vermengt Woody in Harry die Realitätsebenen, indem er die Figuren aus Harrys Romanen nicht nur in eingeblendeten Filmszenen auftreten lässt, sondern die Romanfiguren darüber hinaus mit dem Autor ins Gespräch bringt. Was in Purple Rose durch Schwarz-Weiß und Farbe als Film im Film erkennbar bleibt, unterscheidet Allen nunmehr durch den Filmstil. Die Romanverfilmungen Harrys werden mit ruhiger Kamera und kontinuierlicher Schnittfolge inszeniert, während das Leben des Autors selbst so chaotisch dargestellt wird, wie es ihm in all seiner alltäglichen Lebensuntüchtigkeit widerfährt. Die klassische Ordnung in der Phantasie des Autors steht der postmodernen Willkür in seinem wirklichen Leben gegenüber. Bei dem schwierigen Selbstreflexionsprozess, diese Einsicht aus seinem Autorenleben wiederum zu einem Romanthema zu machen, können wir als Zuschauer teilnehmen - und uns die Frage stellen, ob die am Schluss aufgehobene Schreibblockade Harrys nicht der Beginn des Romans ist, den wir als Film verfolgt haben.

Der wohl komplizierteste Film Allens ist von Lee als not a pleasant experience sowie most depressing film since Stardust Memories eingestuft worden. Im Casebook dagegen ist Bickley zusammenfassend des Lobes voll: Woody Allen's Deconstructing Harry is a masterful work. It is at once disturbing, whimsical, dark, shocking, and funny. It is a complex portrait of an artist, presented in an appropriately neurotic, digressiv manner. It is entertaining in all the ways audiences expect of a Woody Allem movie - creative, energetic, spontaneous, and witty. It is also profound in its ironic nature. Allen presents us with the story of a writer who is unable to function outside of his own fiction and then tempts us to equate this character with himself. Allen tempts us to deconstruct Harry ourselves, and, in so doing, question the dubious dividing line between art and reality. Ja, das Spannungsverhältnis zwischen Kunst und Realität, Phantasie und Lebensalltag, ist es, was wir mit Harry dekonstruieren können. Allen parodiert damit die Postmoderne in doppelter Weise. Er macht sich zum einen darüber lustig, dass es eine Frage der Semantik sein soll, zu entscheiden, was wirklich ist. Und zweitens führt er anschaulich vor, dass die Welt nicht nur ,,Text`` ist; denn dann gäbe es ja keinen Unterschied zwischen Schriftsteller und Romanfigur. Es sei denn, ein Autor schreibt in einem Roman über einen Schriftsteller, der gerade an dem Roman schreibt, den wir zu lesen bekommen. In der Literatur ebenso wie in der Filmkunst lassen sich die Realtitätsebenen wunderbar selbstbezüglich ineinander verschachteln. Darin gleicht die Kunst unseren Bewusstseinsleistungen in Träumen und Phantasien.

Aber ist unsere erlebte Welt deshalb bloß ein Film oder Traum? Verschwindet mit unserer Bewusstlosigkeit im Schlaf auch die Welt, von der wir nur ein winzig kleiner Teil sind? Durch das Schließen der Augen, versuchen sich nur kleine Kinder zu verstecken; spielend lernen sie, die Wirklichkeit der Außenwelt anzuerkennen. Aber wie schnell vergessen sie es wieder und geben sich Illusionen hin! Denn auch der ganze Religionswahn und esoterische Humbug resultiert aus dem Missverständnis, das innere Erleben mit dem äußeren Ereignen zu verwechseln. Und zudem ist es die in der Postmoderne wiederbelebte Textmetapher, die in allen Realitätsebenen nur ,,Texte`` sieht; die Wirklichkeit also zu einem Problem der Semantik macht. Den Unsinn der Religionen wie der Postmoderne parodiert Allen mit derber Komik. Nur seine Romanfiguren lässt Harry in normaler Weise mit Frauen verkehren. Im wirklichen Leben steht er auf Huren, da er mit ihnen nicht endlos über Literatur und Filme reden muss, bis er sie endlich ins Bett bekommt. Dirnen haben auch keine Probleme mit schwarzen Löchern; sind sie doch ihre Geschäftsgrundlage. Das atomistisch verstandene und gleichgültig expandierende Universum erschreckt sie ebenfalls nicht; denn eine Moral erwarten sie vom Kosmos so wenig wie von ihren Freiern: Fesseln, schlagen, blasen, und zwar genau in der Reihenfolge, ist die häufigste Wunschliste des blockierten Schriftstellers; denn natürlich hat er deutsche Literatur studiert und besonders eifrig Nietzsche gelesen. Als ein teleologisch existentieller Atheist steht Harry einem ironischen Nihilismus nicht fern. Als GOTT lässt er allenfalls die FRAU gelten; nicht die einzelne Frau, aber doch die Frauen im allgemeinen. Und als Freund von Wissenschaft und Technik sind ihm Klimaanlagen allemal wichtiger als Kirche und Papst. Diese Vorliebe teilt der Schriftsteller sogar mit dem ,,Teufel``, den er als seinen Freund eine an Bosch und Hellzappopin gemahnende Hölle mit vollklimatisierter VIP-Suite betreiben lässt. Nur seine mit einem orthodoxen Juden verheiratete Halbschwester erinnert ihn immer wieder an die jüdische Tradition. Für Harry dagegen gilt: Tradition ist die Illusion der Permanenz. Aber war nicht auch das große Vorbild Einstein Jude, Wissenschaftler und - religiös? Der geniale Physiker war natürlich nicht einfach religiös, er war kosmisch religiös im Anschluss an Spinoza. Darauf werde ich später noch genauer eingehen.

Mit Deconstructing Harry ist Woody eine grandiose Tragi-Komödie gelungen, die an den existentialistischen Tiefsinn Bergmans aus Wilde Erdbeeren anknüpft. In beiden Filmen geht es um die Suche nach dem Ort, an dem versteckt die wilden Erdbeeren wachsen. Die Fahrt des alten Professors Isak Borg zur Ehrung an seiner Universität wird zur Rückkehr in seine Kindheit und Jugendjahre. Und ebenso ergeht es Harry Block, als er sich mit seinem Sohn, einem Freund und einer Prostituierten auf die Reise zu seiner Schule begibt, die den erfolgreichen Schriftsteller ehren möchte, obwohl er seinerzeit wegen vielerlei Vergehen der Lehranstalt verwiesen wurde. Die innige Verbindung von Literatur und Filmkunst, mit der Allen Harry und die Postmoderne dekonstruiert, hat in der Folge einige talentierte Filmemacher inspiriert. Ich nenne als Beispiele die gelungenen Filmkompositionen Swimming Pool (2002), Lucia und der Sex (2003) und 2046 (2004). Deprimierend mag Harry wohl auf Gottgläubige und sonstige naiv-religiöse oder frömmenlnde Menschen wirken. Auch Romantiker und Spießer werden eher abgeschreckt von der drastischen Diesseitigkeit und den wüsten Kraftausdrücken, mit denen sich die Akteure beschimpfen. Harry sollte in allem exzessiv sein, wie Allen Frodon gegenüber betonte. Eine schöne Visualisierung der vage-verschwommenen Glaubenswelt der Religionen und Esoteriken ist Woody mit dem Unscharfwerden einer Filmfigur gelungen. Wenn es doch allen Menschen mit ihren Hirngespinsten und Wahnvorstellungen so erginge, dass sie entsprechend ihrer Denkunschärfe auch physisch unscharf würden! Die Welt wäre nicht wiederzuerkennen vor lauter diffuser Farbverwischungen. Filmästhetik und Humor unterminieren nicht selten die hohlen Machtansprüche der Herrschenden wie das mangelnde Selbstvertrauen der Beherrschten. Und so mag das Werk Allens einige provozieren und deprimieren, andere wird es immer wieder erheitern und nachdenklich stimmen.

Allens Satire des postmodernen Dekonstruktivismus machte sich über eine philosophische Mode lustig, die alle Bereiche der westlichen Kulturen erreicht hatte; in der Philosophie aber bereits Schnee von gestern war. 1998 greift der Filmemacher mit Celebrity das Phänomen der Prominenz in der US-Gesellschaft auf und bezieht sich wieder auf ein großes Vorbild: Fellinis La Dolce Vita von 1959. War Harry ein atheistischer Film, werden Celebrity und La Dolce Vita vom Katholizismus durchzogen. Fellinis Film setzt ein mit einem Hubschrauber, der eine Jesus-Statue über Rom hinweg zum Petersdom trägt. Dieser die Stadt gleichsam segnende Jesus wird im Mittelteil des Films zu einer imaginären Madonna, die zwar nur von Kindern herbeiphantasiert, durch die Medien aber zu einem großen Ereignis hochstilisiert wird. Der Film endet mit dem unschuldigen Lächeln eines Mädchens, das vergeblich versucht hatte, sich dem Klatschreporter Marcello verständlich zu machen. Als Allen auf der Wild Man Blues - Tour in Rom einen Hotelbalkon mit Blick auf den Petersdom betritt und einen Hubschrauber hört, fühlt er sich natürlich sofort in Fellinis Film versetzt und hätte gern Marcello im Hubschrauber zugewunken. Fellini kontrastiert den hohlen Starrummel im Rom der ausgehenden 1950er Jahre, indem er den Boulevard-Journalisten zwischen der Arbeit für sein Hochglanzmagazin und dem Schreiben an einem kulturkritischen Roman schwanken lässt. Dabei verkehrt Marcello nicht nur in den schicken Cafés und Nachtclubs der römischen Schickeria, er besucht auch gelegentlich die existentialistisch angehauchten Künstlertreffs seines Freundes Steiner. Der Philosoph und Freund gilt dem unzufriedenen Klatschreporter und Möchtegern-Schriftsteller als einziger Bezugspunkt in der flüchtigen Medienwelt. Da trifft es Marcello umso schmerzlicher, als sich Steiner eines Tages selbst das Leben nimmt - und auch noch seine beiden Kinder mit umbringt, an denen er so gehangen hatte. Damit wird dem Boulevard-Journalisten der Boden unter den Füßen entzogen, ähnlich wie den Dokumentarfilmer in Crimes der Freitod des Philosophen Levy aus der Bahn warf. An das Lächeln des Mädchens angesichts des männlichen Unverstandes in La Dolce Vita scheint Allen auch mit dem Schluss von Manhattan anzuspielen. Wohl nicht zufällig gehört die Großstadtsymphonie zu den Lieblingsfilmen Soon-Yi's.

Celebrity beginnt und endet mit einer Himmelsbotschaft: Zu den Takten der Schicksalssymphonie Beethovens schreibt ein Flugzeug mit Kondensstreifen die Schriftzüge des Wortes HELP vor den wolkenfreien Himmel über New York. Ein Schwenk der Kamera auf den Boden, entzaubert die Szene aber sogleich; handelt es sich doch lediglich um den Dreh für einen Film. Vor Ort ist auch der Klatschreporter Lee, der sich am Set in die hinreißende Jung-Schauspielerin Nola (Winona Ryder) verguckt. Das geplante Interview mit dem Starlet Nicole (Melanie Griffith) lässt ihn das süße Mädel aber schnell wieder vergessen; denn die attraktive Nicole verwöhnt ihn beim Besuch ihres Mädchenzimmers im ehemaligen Wohnhaus ihrer Eltern mit einem Blowjob. Im Gegensatz zu seiner katholischen Frau Robin denkt das Starlet beim Oralsex auch nicht an die Kreuzigung; sie vermag dem Schwanzlutschen sogar Freude abzugewinnen. Eine freiheitsberaubende Freundin machte schon Marcello das Leben schwer und vergällte ihm immer wieder aufregende Treffen mit einer Diva oder einem Supermodel. Bei Fellini war es die teutonisch blonde Nico, der die Männer nachstellten. In Celebrity spielt die sexy Blondine Charlize Theron das Supermodel. Das hat nicht nur eine Affäre mit einem deutschen Model gehabt, sondern ist auch noch von einem Jünger des Dionysos zu einer polymorph perversen Aphrodite gemodelt worden. Für Lee wird sie damit zur Sinngebung des Universums.

Der banale Rummel und die politische Instrumentalisierung, mit der in den USA eine Praktikantin prominent geworden war, nur weil sie dem Präsidenten den Schwanz lutschte, mag für Woody Anlass genug gewesen sein, einmal das Thema der Prominenz im Medienkapitalismus aufzugreifen. In dem komödiantischen Filmroman knüpft er wie selbstverständlich an seine großartigen New York - und Frauen-Filme Annie Hall, Manhattan, Hannah und Husbands an. Während Lee sich vom Boulevard und der Schickeria langweilen lassen muss und immer wieder vergeblich mit einem ausgefeilten Drehbuch oder kulturkritischen Roman herauszukommen versucht, feiert die US-Gesellschaft Prominente, die berühmt wurden, weil sie im Koma liegen oder als Geisel Verwendung fanden. Überhaupt scheinen alle nur noch danach zu streben, berühmt zu werden. Der Spaßmacher und Hofnarr Woody hält der Gesellschaft mit Celebrity gleichsam den Spiegel vor und verarscht den Medienkapitalismus mit der Bemerkung, in welchem Zustand sich eine Gesellschaft befinden müsse, in der Komapatienten berühmt seien. Befindet sich vielleicht die ganze Gesellschaft schon längst im intellektuellen Koma? Nicht nur dem Klatschreporter Lee geraten Freundin und Romanfigur durcheinander, auch die Gesellschaft insgesamt verwechselt ihre wirklichen Helden mit bloßen Medienidolen. Mit Celebrity setzt Allen seine humoristische Kritik an der hohlen Postmoderne und ihrer willkürlichen Beliebigkeit fort. Das himmlische Wort HELP soll zugleich den Journalisten wie der Gesellschaft ein ironisches Hilfsangebot machen, nicht mehr nur dem schönen Schein, sondern mehr dem wahren Sein nachzuspüren.

1999 lässt Woody Allen das Jahrzehnt mit einer weiteren Variation der Geburt seiner Filmkunst aus dem Geist der Komik und Doku ausklingen. Sweet and Lowdown inszeniert das Leben des sagenhaften Jazz-Gitarristen Emmet Ray, der in den 1930er Jahren durch die Clubs der USA tourte und stets als Zweitbester nach Django Reinhardt gefeiert wurde. Aber gab es Emmet wirklich? Woody macht sich wieder einen Spaß daraus, die Textmetapher der Postmoderne ad absurdum zu führen, indem er das Leben eines Jazz-Musikers dokumentiert, den es gar nicht gegeben hat. In den Medien entstehen Biographien einfach dadurch, dass über sie berichtet wird. In der langsamen Welt der 1930er Jahre konnte ein begnadeter Gitarrist in jedem Bundesstaat neu entdeckt werden, da sich die Informationen noch nicht wie heute mit Lichtgeschwindigkeit um den Erdball verbreiteten: Eine Legende, die in St. Louis ihren Anfang nimmt, dann nach Kansas City gelangt und schließlich New York erreicht, kann es nicht mehr geben. Man käme gleich nach dem ersten Auftritt ins Fernsehen. Die heutige Welt ist anders, sie ist wie in Celebrity, erzählte Allen Frodon dazu.

Neben der im Jazz verbreiteten Mythenbildung und der postmodernen Textmetaphorik ist es aber auch wieder die Künstlerproblematik, die der Filmemacher aufgreift: Ich hatte Lust, mich noch einmal unter einem anderen Gesichtspunkt mit einer Künstlerpersönlichkeit auseinanderzusetzen. Ich wollte zeigen, welche Kluft sich auftun kann zwischen einem genialen Auftreten als Künstler und völliger Mittelmäßigkiet im Alltag. Wie unsympathisch oder kindisch vulgär jemand sein kann, sobald er sein Instrument aus der Hand gelegt hat. Das gilt übrigens nicht nur für Musiker. Es kommt in allen Künsten vor. Ich habe dafür eine Figur entwickelt, die sich aus den Schwächen mehrerer Jazzmusiker zusammensetzt. Emmet Ray hat Züge von Django Reinhardt, von Jelly Roll Morton, der Zuhälter war, von Wild Bill Davis, einem Kleptomanen, von Freddie Keppard, dem großen Trompeter aus New Orleans, der sich aus Angst, man könne ihm seine Musik klauen, weigerte, Schallplatten aufzunehmen, von King Oliver, der immer mit einer Knarre herumlief. Extreme künstlerische oder wissenschaftliche Begabungen gehen nicht selten mit erheblichen Defiziten der Persönlichkeit einher. Kunst und Leben kontrastieren nicht nur hinsichtlich der Illusionsbildung und des Realitätsverlustes, sondern auch in dem Gegensatz von künstlerischer Virtuosität und alltäglicher Banalität. Die Legende Emmet Ray bekommt eine tragische Dimension durch sein Versagen im Umgang mit Frauen. Der Gitarrenvirtuose erkennt nicht, welche Frau ihn wirklich liebt und welche ihn nur ausnutzen. Als es ihm zum Schluss langsam dämmert, hat sich seine Herzensdame für einen anderen entschieden.

Im Jahr seines 70sten Geburtstages 2005 stand dem Filmemacher einmal wieder der Sinn nach einer reinen Tragödie. Im klassischen Schema aus Anfang, Mitte und Ende variiert Allen mit Match Point die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik, indem er ausnahmslos Opern im Soundtrack verwendet und virtuos leitmotivisch einzusetzen versteht. Den tragischen Grundton liefert ihm dabei die ergreifende Gesangskunst Carusos mit Una furtiva lagrima aus Donizettis L'elisir d'amore. Das traurig-schöne Tenor-Solo des Nemorino aus dem Liebestrank stimmt auf den Film ein und lässt ihn ausklingen:

Hinge ihr Auge nur einmal

Liebend an meinem Blick;

Gäb' mir ihr Mund nur einmal

Der Liebe Wort zurück.

Ach, gäbe sie mit schmachtendem Blick

Der Liebe süß Geständnis zurück!

Mag dann der Tod mir drohn,

Ach, mir ward der schönste Lohn!

Bei Allen hat aber nicht der Liebhaber, sondern die Geliebte den todbringenden Liebestrank auszukosten. Für die Polizei stellt sich ihr Ableben als Zufallsereignis dar, indem sie einfach zur falschen Zeit am falschen Ort war. Im Kontext ihrer Liebschaft allerdings wurde sie heimtückisch ermordert, da sie der Karriere ihres Liebhabers gefährlich wurde. Wie der Filmemacher auf der Extra-DVD zu Match Point berichtet, ging es ihm darum, welche Bedeutung das Glück im Leben hat. Weil das Leben so chaotisch, erschreckend, ziellos und bedeutungslos ist, hätten wir alle gern die Kontrolle darüber. Deshalb überschätzen die meisten Menschen ihren Anteil durch Arbeit und Talent und vernachlässigen den schlichten Zufall und die passende Gelegenheit in ihrem Einfluss auf das Lebensglück. Woody ließ schon in Pussycat den Zufall ins regelgeleitete Schachspiel eingreifen und kam immer wieder auf die Bedeutung des Glücks im Leben zurück, 1980 in Stardust Memories und 1992 in Husbands and Wives. Den Auftakt zu Husbands bildete ein Interview mit Einstein, der sich gegen den Zufall als Grundprinzip ausgesprochen hatte. Match Point beginnt mit einem Tennisspiel und der Off-Stimme des Sportlers Chris, der davon spricht, dass Glück wichtiger als Talent ist. Parallel dazu sehen wir einen Tennisball gerade noch so die obere Netzkante berühren, dass er genau senkrecht nach oben steigt und im Umkehrpunkt offen bleibt, ob er vor oder hinter dem Netz zu Boden fallen wird.

Dem Tennispieler Chris dient der Sport als Sprungbrett zu einer sagenhaften Karriere, die ihn vom Wagenwäscher zum Topmanager mit Spesenkonto und Fahrdienst aufsteigen lässt. Hellsichtig ist er sich dabei der Grenzen seines Talents bewusst und versteht es in besonderer Weise, die sich ihm bietenden Gelegenheiten zu nutzen. Zielstrebig möchte der Unterschichtler etwas aus seinem Leben machen. Während er sich als Tennislehrer besseren Kreisen empfiehlt, vertieft er sich auch in die Kultur der Musik und Literatur, liest und interpretiert Dostojewskij's Schuld und Sühne und hört aus der Stimme Carusos heraus, was tragisch ist am Leben. Aber ist Kunst mehr als bloße Unterhaltung für Intellektuelle? Vermag sie neben den Sinnen auch den Charakter zu verfeinern? Und wie hält es der Sportler mit der Religion? Der Chaostheorie verpflichtet, ist ihm der Glaube nur der Weg des geringsten Widerstands. Aber ebenso chaotisch wie die seltsamen Attraktoren nichtlinearer dynamischer Systeme ist das erotische Charisma einer schönen Frau. In der upper class lernt Chris nicht nur seine begüterte, aber eher fade Frau Chloe kennen, er wird auch mit der geballten sexuellen Kraft der Raubkatze Nola (Scarlett Johansson) konfrontiert. In einem von Gewittersturm und Platzregen aufgeweichten Roggenfeld verlaufen erstmals einer leidenschaftlichen Entladung gleich ihre Körpersäfte mit den Elementen. Da der Emporkömmling Eheberatung durch die Lektüre Strindbergs sucht, sollte er die Gratwanderung zwischen Liebe und Lust zu managen wissen. Als aber die falsche Frau von ihm schwanger wird und auf eine Entscheidung besteht, sieht der Karrierist nur noch in der Ermordung der Geliebten den Ausweg aus seiner Zwangslage.

Aber wird er mit den Gewissensnöten aus Schuld und Sühne fertig, die einen Mörder nach der Tat heimsuchen? Ist das Geschäftsleben nicht ebenso chaotisch, wertneutral und grausam wie das Universum? Kann es nicht sogar eine entscheidende Vervollkommnung der Führungs-Persönlichkeit sein, auf der Karriereleiter über Leichen gehen zu können? Ist er stark genug, einen Mord zu begehen und moralisch indifferent damit umzugehen? Taugt er gleichsam zum ,,Übermenschen``, nur seinem eigenen Gesetz verpflichtet? Chris zufolge, müssen sogar Unschuldige manchmal ausgelöscht werden, um einem größeren Ziel Platz zu machen. Dostojewskij spielt die Situation, in die sich Raskolnikow nach der Ermordung zweier Frauen bringt, literarisch im Kontext der christlichen Moral durch. Allen überlässt es in Match Point dem Zuschauer, sich über die moralische Verantwortung in der säkularen Welt des Kapitalismus Gedanken zu machen. Nach den Freitod-Versuchen der jungen Schönen in Pussycat, den Wechselspielen zwischen Liebe und Tod und den Verbrechen und anderen Vergehen ist der Filmemacher mit Match Point wieder auf sein Grunddilemma einer Lebensbemeisterung zwischen Liebesverlust und Sterblichkeit des Menschen zurückgekommen. Am Ende vergeht das Leben ebenso wie die Liebe und die ergreifende Stimme Carusos lässt uns diese Tragik im Leben hörbar werden:

Un solo istante i palpiti

Del suo bel cor sentir ...

I miei sospir confondere

Per poco a' suoi sospir! ...

Cielo, si puo morir;

Di piu non chiedo.

Eccola ... Oh! qual le accresce

Belta l'amor nascente!

A far l'indifferente

Si seguiti cosi finche non viene

Ella a spiegarsi.

Die traurig-schöne Arie aus Donizettis Liebestrank begleitet auch den deprimierenden Gang Captain Yossarians durch das kriegsdemoralisierte Rom in Catch-22. Er ist auf der Suche nach einer Hure, der er eine furchtbare Mitteilung zu machen hat. Nachdem er als Überbringer einer schlechten Nachricht die Flucht ergreifen musste, steht er unversehens vor einer mit zertrümmertem Schädel auf dem Pflaster liegenden Dirne. Ein GI hatte sie vergewaltigt und einfach aus dem Fenster geschmissen. Es stürben täglich Tausende, da komme es auf eine mehr oder weniger nicht an. Konsequenterweise verhaftet die MP nicht den Mörder, sondern den Zeugen Yossarian. Dass sein Urlaub abgelaufen ist, wird ernster genommen als ein Mord. Der Kontext kapitalistischer Immoralität stellt eine Verbindung her zwischen der bitter-bösen Antikriegs-Satire und der erschütternden Gesellschafts-Tragödie.

Gerhold hatte Allen zu Recht als einen der Frauenregisseure gelobt. Schon die Wäscherin Louise bringt Ordnung ins Chaos Virgils. Und noch so junge Frauen wie Tracey und Rain haben mehr Selbstvertrauen und praktischen Lebenssinn als ihre sehr viel älteren Partner. Da ist es nur konsequent, wenn Woody durch Harry die Frau schlechthin vergöttern lässt. Die Kehrseite männlich-teuflischer Abgründe wird mit Judas und Chris vorgeführt. Zur Karriere des Mannes im kapitalistischen Patriarchat gehören neben der professionellen Hausfrau immer noch die Huren für den Sex und die Geliebten für die Lust. Und wenn sie sich nicht an die Spielregeln halten, werden sie schlimmstenfalls einfach umgebracht.

Im Gegensatz zu Nietzsche, der womöglich aus übertriebener Enthaltsamkeit über Frauen bloß halluzinierte, werden die Frauen in den Filmen Allens zumeist regelrecht gefeiert und als Garanten moralisch verantwortungsvollen Handelns in Szene gesetzt. Das steht ganz im Einklang mit Woodys privatem Erfolg bei den Frauen und dem engen und häufigen Umgang, den er mit ihnen sucht. Ebenso kann der Filmemacher auf ein langes und inniges Verhältnis mit seiner Schwester zurückblicken, das von wechselseitigem Vertrauen geprägt ist. Der wahre ,,Übermensch`` ist also weder Künstler noch Immoralist: er ist die FRAU.


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Ingo Tessmann 2007-04-15