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Zur Kritik des Reinen Schreckens

Der reine Schrecken fuhr Nietzsche bekanntlich im August 1881 während eines Spaziergangs am See von Silverplana in die Glieder, als ihm schlagartig die Tragweite des Gedankens von der ewigen Wiederkunft klar wurde. Wie konnte man überhaupt noch weiterleben, wenn man ernsthaft erwog, dass alles, was man tat oder einem widerfuhr, ewig wiederkehrte? Ergäbe das nicht einen ins Unermessliche gesteigerten ,,kategorischen Imperativ``? Die Frage wäre nicht nur, ob alle einmal so handeln könnten, sondern endlos immer wieder. Der darüber bis ins Mark erschreckte Nietzsche sah als mögliche Konsequenz aus diesem Anspruch nur sein heiter-gelassenes amor fati der absoluten Bejahung allen Seins und pries mit dem reinen Blick des Physikers die Schönheit der Welt als vita femina.

Mit dem reinen Blick des Physikers hatte Newton in seinen mathematischen Prinzipien der Naturphilosophie die Gravitation als Ursache des Weltsystems enthüllt und in einem allgemeinen Gesetz zu formulieren vermocht: Lehrsatz: Die Kräfte, durch welche die Planeten beständig von der geradlinigen Bewegung abgezogen und in ihren Bahnen erhalten werden, sind nach der Sonne gerichtet und den Quadraten ihrer Abstände von derselben umgekehrt proportional. In seinem Beschluß aus der Kritk der praktischen Vernunft erläutert Kant den Zusammenhang seines Sittengesetzes mit dem Gravitationsgesetz: Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmenden Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte Himmel über mir, und das moralische Gesetz in mir. Beide darf ich nicht als in Dunkelheiten verhüllt, oder im Überschwenglichen, außer meinem Gesichtskreise, suchen und bloß vermuten; ich sehe sie vor mir und verknüpfe sie unmittelbar mit dem Bewußtsein meiner Existenz. Das erste fängt von dem Platze an, den ich in der äußern Sinnenwelt einnehme, und erweitert die Verknüpfung, darin ich stehe, ins unabsehlich-Große mit Welten über Welten und Systemen von Systemen, überdem noch in grenzenlose Zeiten ihrer periodischen Bewegung, deren Anfang und Fortdauer. Das zweite fängt von meinem unsichtbaren Selbst, meiner Persönlichkeit, an, und stellt mich in einer Welt dar, die wahre Unendlichkeit hat, aber nur dem Verstande spürbar ist, und mit welcher (dadurch aber auch zugleich mit allen jenen sichtbaren Welten) ich mich nicht, wie dort, in bloß zufälliger, sondern allgemeiner und notwendiger Verknüpfung erkenne. Der erstere Anblick einer zahllosen Weltenmenge vernichtet gleichsam meine Wichtigkeit, als eines tierischen Geschöpfs, das die Materie, daraus es ward, dem Planeten (einem bloßen Punkt im Weltall) wieder zurückgeben muß, nachdem es eine kurze Zeit (man weiß nicht wie) mit Lebenskraft versehen gewesen. Der zweite erhebt dagegen meinen Wert, als einer Intelligenz, unendlich, durch meine Persönlichkeit, in welcher das moralische Gesetz mir ein von der Tierheit und selbst von der ganzen Sinnenwelt unabhängiges Leben offenbart, wenigstens so viel sich aus der zweckmäßigen Bestimmung meines Daseins durch dieses Gesetz, welche nicht auf Bedingungen und Grenzen dieses Lebens eingeschränkt ist, sondern ins Unendliche geht, abnehmen läßt. Diese übersteigerte Verherrlichung der Persönlichkeit wird mit Einstein im Anschluss an Laotse und Spinoza zu relativieren sein.

In seiner Grundlegung zur Metaphysik der Sitten stellt Kant seine Abgrenzung zwischen zufällig-hypothetischem und notwendig-kategorischem Imperativ heraus: Wenn ich mir einen hypothetischen Imperativ überhaupt denke, so weiß ich nicht zum voraus, was er enthalten werde: bis mir die Bedingung gegeben ist. Denke ich mir aber einen kategorischen Imperativ, so weiß ich sofort, was er enthalte. Denn da der Imperativ außer dem Gesetze nur die Notwendigkeit der Maxime enthält, diesem Gesetze gemäß zu sein, das Gesetz aber keine Bedingung enthält, auf die es eingeschränkt war, so bleibt nichts, als die Allgemeinheit eines Gesetzes überhaupt übrig, welchem die Maxime der Handlung gemäß sein soll, und welche Gemäßheit allein den Imperativ eigentlich als notwendig vorstellt. Der kategorische Imperativ ist also nur ein einziger, und zwar dieser: handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde.

Ebenso wie Goethe und Beethoven, stand auch Kant im Banne der französischen Aufklärung. Mit seiner Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? appelleliert er an die Menschen, sich doch einfach ihres Verstandes zu bedienen: Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung. Denken hilft, auch bei der Aufklärung.

Kant war dem Schrecken angesichts der Nichtigkeit des Individuums unter dem Sternenhimmel durch seine Verherrlichung der Persönlichkeit begegnet. Dem Naturgesetz stellte er sein Sittengesetz gegenüber. Im Gegensatz zu Abraham, hätte Kant die Aufforderung ,,Gottes``, den eigenen Sohn töten zu sollen, mit dem Hinweis auf seinen kategorischen Imperativ souverän zurückgewiesen. Dem spröden, aber nicht humorlosen Philosophen, wäre es auch egal gewesen, nachts in seinen Unterhosen vor den Schöpfer des Universums treten zu müssen. Nicht so der witzlose Religionsfanatiker Kierkegaard. Der spricht sich ausdrücklich dafür aus, dass es ein höheres als das Menschengesetz gebe und man ,,Gottes`` Anweisungen unbedingt auszuführen habe. In Furcht und Zittern hält er eine Lobrede auf Abraham, aus der Schröder geradezu eine Suspension des Ethischen heraushört; denn im Konfliktfall ist nicht die betreffende moralische Forderung, sondern das ihr widersprechende göttliche Gebot zu befolgen. Damit wandte sich Kierkegaard nicht nur gegen den Rationalismus Kants, sondern widerprach auch den christlichen Exegeten der dicken Schwarte. Schon die Vorsokratiker hatten die Götter als bloße Mythengestalten enttarnt und für Marx war die Religion nur noch Opium fürs Volk. Nietzsche und Allen ließen ,,Gott`` sterben, damit die Menschen ihre Geschicke selbst in die Hand nehmen könnten. Aber wer ist dazu wirklich in der Lage? Immer mehr Selbstmord-Terroristen töten wahllos ihre Artgenossen, um sich der Geltung eines angeblich höheren Gesetzes zu unterwerfen. Die Kritik des reinen Schreckens ist mit Kierkegaard noch lange nicht abgeschlossen, werden doch die Schreckensmänner immer zahlreicher.

Mit Kierkegaard und Sol haben die religiösen Fundamentalisten Gewährsmänner, die sich über jede wissenschaftliche Wahrheit meinen hinwegsetzen zu können. Dieser Rückfall in die vorkritische Philosophie ist einer genaueren Betrachtung wert, zumal auch Allen mit seiner Kritik das kantische Vorbild der Kritik der reinen Vernunft aufgreift. Was hatte Kant zu seiner Kritik motiviert und warum mag Allen auf sie zurückgegriffen haben? Brandt zufolge ging es Kant um die Selbstbegrenzung der Vernunft, er wollte die Hirngespinste des bloßen Denkens, die in der Metaphysik ungehemmt ins Kraut schossen, von innen her begrenzen. Der Aufklärer hielt Gericht über die sinnlosen Streitigkeiten, die im Namen der Vernunft geführt wurden: Die Vernunft fordert alle Mächte dieser Welt in die Schranken - jeder demonstriere öffentlich seine Rechte oder verzichte auf sie. So sieht es Brandt. Der Königsberger schreibt in seiner Einleitung von 1781: Die menschliche Vernunft hat das besondere Schicksal in einer Gattung ihrer Erkenntnisse: daß sie durch Fragen belästigt wird, die sie nicht abweisen kann; denn sie übersteigen alles Vermögen der menschlichen Vernunft. Auf die lästigen Fragen kommt Kant explizit am Schluss seines Werkes zurück: Alles Interesse meiner Vernunft (das spekulative sowohl als das praktische) vereinigt sich in drei Fragen: 1. Was kann ich wissen? 2. Was soll ich tun? 3. Was darf ich hoffen? Für Brandt beziehen sich diese drei Fragen auf die metaphysische Gotteslehre, Weltlehre und Seelenlehre. Nach Dogmatismus und Skeptizismus legt Kant in seinem Kritizismus der Transzendentalen Ästhetik die subjektiven Bedingungen unserer Erfahrung gerade als die Bedingungen der Gegenstände der Erfahrung frei. Neben die Logik tritt die Ästhetik, das begriffliche Denken wird um die anschaulichen Inhalte bereichert; denn Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind. In Allens Worten: Guck mal, da geht Edna mit einem Saxophon.

Der vom Glauben abgefallenen Alice bescherte der Saxophonspieler Joe eine völlig neue Welt der Harmonien. Die Erlebnisformen sexueller Lust sind dabei ebenso vorgegeben wie die Anschauungsformen sinnlicher Erkenntnis. Alice hatte sich wortreich in die Welt des schönen Scheins geflüchtet. Aber mit Begriffen umgehen lernen heißt verlernen, die Dinge anzusehen, gibt der neokynische Nihilist Cioran in seinen Aspekten der Dekandenz zu bedenken: Die Reflexion wurde an einem Tage der Flucht geboren; das Wortgepränge war ihre Folge. Aber wenn man sich auf sich selbst besinnt und wieder allein ist - nicht mehr in Gesellschaft der Worte -, so entdeckt man aufs neue das eigenschaftslose Weltganze, das reine Objekt, das nackte Ereignis: wie den Mut aufbringen zu solch einem Gegenüber? Kant sah sich im Grenzbereich seiner Erkenntnis mit dem Ding an sich konfrontiert, Nietzsche fand hinter dem Wortgepränge nur Menschliches, Allzumenschliches, Jaspers erahnte im Sein das Umgreifende der Existenz, Sartre enthüllte die Substanzlosigkeit des Bewusstseins in seiner Transparenz - und Alice? Sie bedurfte der Zauberei, um in ihrem Inneren neben der Dekadenten wieder die Wilde zu entdecken. Für Cioran liegt der Gedanke nahe, daß der wortmüde und zeitüberdrüssige Mensch die Dinge wieder ihrer Namen entkleidet und sie mitsamt seinem eigenen auf einen riesen Scheiterhaufen wirft, dessen Feuer auch seine Hoffnungen verschlingt. Wir alle eilen diesem Endziel entgegen - dem stummen und nackten Menschen ... Sich wie Ike im Bett mit Tracey einen Stummfilm anzuschauen oder wie Sartre wortlos gefangen im Blick, den Fick zu existieren?

Aber droht nicht auch beim ewigen Eindringen in schwarze Löcher der reine Schrecken der ewigen Wiederkehr des Gleichen? Der fortwährende Reigen in der Selbstreproduktion des Lebens durch Nahrung und Paarung hat sogar eine kosmische Dimension in der Selbstreproduktion der Universen in schwarzen Löchern. Unter roter Sonne kann einem Liebhaber sogar dieser Planet zu langweilen beginnen. Und der Schwarm aller Frauen, die der Suche nach dem Märchenprinzen überdrüssig wurden, wünscht sich gleich ein ganz neues Universum: Die Luft ist durch alle Lungen gegangen, sie erneuert sich nicht mehr. Ein Tag speit den anderen aus, vergebens strenge ich mich an, auch nur einen einzigen Wunsch zu entwerfen. Alles fällt mir zur Last: ein ermattetest Lasttier, das man vor die Materie spannte, schleppte ich die Planeten. Man schenke mir ein neues Universum - oder ich verende ... Das neue Universum des irdischen Mannes ist die Frau, und in ihr vollziehen sich die kleinen Tode auf dem langsamen und endlichen Weg des Verendens. Der letzte Tod ist nicht mehr Teil des Lebens, aber dennoch schürt er die Angst - wie vor dem Nichts und der Freiheit. Nach Sartre scheint in der existentiellen Angst vor der Freiheit das Nichts auf. So wie Kant mit seiner Kritik der reinen Vernunft die Grenzbereiche der Metaphysik auszuloten gedachte, mag es Allen mit seiner Kritik des Reinen Schreckens intendiert haben, die Grauzone des Existentialismus zu colorieren; zwischen Blick und Fick gleichsam den heiter dramatisierten Dialog zu inszenieren. Insofern wäre alle Kunst nur Überredungskunst. In Hoolywood Ending lässt Woody den Regisseur Val Waxman ungeniert auf den Punkt kommen: Sex ist besser als Gespräche. Gespräche sind das, wo man sich durchquält, um zum Sex zu kommen. Der reine Schrecken ist also ebenso gegenstandslos wie die reine Vernunft. Kant hat in seinen synthetischen Urteilen apriori Logik und Ästhetik zusammengebracht und Allen in seinem synthetischen Verlangen apriori Gespräche und Sex vereint. Erst nach der Erweiterung der geradlinigen Anschauungsformen in der Naturphilosophie des Asketen Newton zu den krummlinigen Begehrensweisen in der Kosmologie des Erotikers Einstein, sind den Physikern auch im Universum die schwarzen Löcher zum Lustobjekt intensiver Untersuchungen gediehen. In künstlerischer Freiheit hat der Humorist Allen gleichsam den bestirnten Himmel über ihm und das moralische Gesetz in ihm zum schwarzen Loch des Übermenschen FRAU gemodelt.

Im Anschluss an Kant können die drei Grundfragen der Metaphysik zu der einen Frage nach dem Menschen zusammengefasst werden: Was ist der Mensch? Nietzsche versuchte den Menschen in sich selbst zu erleben sowie aus Naturwissenschaft und Geschichte heraus zu verstehen. An das Allzumenschliche Nietzsches hat kürzlich Tugendhat angeknüpft unter dem Motto: Anthropologie statt Metaphysik. Und Sloterdijk spannt den Bogen der Anthropologie in seinem auf Heidegger anspielenden Titel Zorn und Zeit von den Helden des antiken Griechenlands bis hin zu den Terroristen der Gegenwart. Für Tugendhat war Nietzsches Denken in Wirklichkeit nichts anderes als philosophische Anthropolgie. Und vor welche Herausforderung hat uns der letzte Jünger des Dionysos gestellt? Wenn wir ihm darin zustimmen, daß man den Menschen nicht so verstehen kann, daß er auf etwas Übersinnliches bezogen ist, folgt dann daraus, daß man das menschliche Sein als Wille zur Macht verstehen muß? Und die Aufgabe, die sich hier stellt, besteht darin, die Frage der philosophischen Anthropologie wieder aufzunehmen und dabei speziell die Frage nach der immanenten Transzendenz im Auge zu behalten. Sartre sah die transzendierte Transzendenz in der freien Wahl des Lebensentwurfs eines Menschen und Adorno verwendete gerne das Philosophem: der Immanenz ist die Transzendenz immanent.

Damit das keine Leerformel bleibt, könnte man auf das Sichselbstüberschreiten der jeweiligen Lebensform im Zuge der Evolution verweisen oder auf die Strukturerweiterungen in den Theorien der Mathematik und Physik. Nietzsche hat sich mit seiner Formel Der Wille zur Macht auf das Übersichhinausgehen durch Machtzuwachs des Individuums bezogen. Mit dem Biologen Dawkins könnte man diese These durch Verweis auf das egoistische Gen untermauern. Der Sprachphilosoph Tugendhat sieht die immanente Transzendenz eher in der Eigenart unserer Sprache, stets nach Gründen zu fragen. Und dieses ständige Weiterfragen weist dabei über sich hinaus, indem es sich gleichsam auf einer Exzellenzskala am Besseren orientiert. So wie die Ausdifferenzierung des Genoms ein natürlicher Überlebensvorteil war, kann die Ausdifferenzierung der Sprache als sozialer Gewinn in der Lebensbemeisterung angesehen werden. Plotkin und Nowak haben die Major Transitions in Language Evolution untersucht. Ausgehend von der zufälligen Assoziation zwischen Signalen und Objekten konnten sie mit Hilfe stochastischer informationstheoretischer Modelle demonstrieren, wie sich aus Lauten Worte und aus Worten Sätze bildeten, die einer Grammatik folgten, wie sie für menschliches Sprechen typisch ist. Die Wort- und Satzlängen ergaben sich dabei aus Optimierungsalgorithmen, die einen maximalen Informationsgehalt bei minimaler Redundanz unter Störeinflüssen zu gewährleisten hatten. Evolutionsbiologie und Sprachphilosophie müssen sich nicht widersprechen, sie stützen vielmehr gemeinsam die These Tugendhats: daß die propositionale Sprache für das menschliche Verstehen eine zentrale Rolle spielt und daß es sich lohnt, der Frage nachzugehen, was alles innerhalb der Struktur des menschlichen Sichverstehens damit zusammenhängt.

Im Gegensatz zu Habermas reduziert Tugendhat die Sprache nicht nur auf Kommunikation, sondern hebt auch ihre signifizierende Funktion hervor. Als redlicher Denker kommt er ebenso wie Nietzsche zu dem Ergebnis: Alles spezifisch Religiöse entfällt jetzt, weil an einen Gott zu glauben einen Existenzsatz impliziert, der nicht begründbar ist und vielleicht nicht einmal Sinn hat. Das entspricht der allgemeinen Zurückweisung von allem, sofern es nur durch Tradition oder Autorität vorgegeben ist. Das Mystische hingegen, in dem Sinn, in dem ich das Wort verstehe, ist eine menschliche Haltung ohne jeden Bezug auf etwas Supranaturales: sie besteht in einem Gesammeltsein, in dem ein Mensch zugleich auf die übrige Welt in ihrem Eigensein bezogen ist und sich der eigenen Insignifikanz bewußt wird. In seinem Buch Egozentrizität und Mystik hat Tugendhat sein sprachanalytisches Verständnis von Mystik als Möglichkeit aus der anthropologischen Struktur herausgearbeitet, wie sie sich in der propositionalen Sprache ausdifferenziert hat. Alle Mystik hat zu ihrem Motiv, von der Sorge um sich loszukommen oder diese Sorge zu dämpfen. Und als ob der Sprachphilosoph die egozentrische Alice vor Augen hätte, fährt er fort: Mystik besteht darin, die eigene Egozentrizität zu transzendieren oder zu relativieren, eine Egozentrizität, die andere Tiere, die nicht ,,ich`` sagen, nicht haben.

Als gleichsam rationalste Mystik kommt Tugendhat, ganz so wie Allen mit Dr. Yang, auf den Taoismus zu sprechen und hebt ihn vom Buddhismus ab: Die taoistische Mystik ist diesseitig, sie ist keine Mystik der Weltflucht, das Leiden spielt in ihr keine primäre Rolle und soll lediglich integriert und gerade nicht vermieden werden. Das Eine des Tao, die unio mystica, wird im Ganzen aus Himmel und Mensch gesehen. Im Buch des Alten vom Weg und von der Tugend heißt es in Kapitel 25:

Ein Wesen gibt es chaotischer Art,

Das noch vor Himmel und Erde ward,

So tonlos, so raumlos,

Unverändert, auf sich nur gestellt,

Ungefährdet wandelt es im Kreise.

Du kannst es ansehn als die Mutter der Welt.

Ich kenne seinen Namen nicht.

Ich sage Weg, damit es ein Beiwort erhält.

Der Mensch nimmt zum Gesetz die Erde;

Die Erde zum Gesetz den Himmel;

Der Himmel zum Gesetz den Weg;

Der Weg nimmt zum Gesetz das eigene Weben.

Die ersten Zeilen künden nicht nur vom Matriarchat und feiern die FRAU schlechthin als GOTT, auch ihr Schoß als schwarzes Loch scheint auf: Unverändert, auf sich nur gestellt, / Ungefährdet wandelt es im Kreise. / Du kannst es ansehn als die Mutter der Welt. An den sich selbst webenden Weg als Ursache seiner selbst knüpft die Definition Spinozas an: Unter Ursache seiner selbst verstehe ich das, dessen Essens Existenz einschließt, anders formuliert das, dessen Natur nur als existierend begriffen werden kann. Und wie schon Spinoza GOTT mit NATUR identifizierte, sah Einstein in einer pantheistischen Anwandlung kosmischer Religiösität im Seienden gleichsam die VERNUNFT verkörpert. Zusammengenommen können die letzten vier Zeilen durch den Weg der Naturphilosophie von Galilei über Newton und Einstein bis hin zu Penrose interpretiert werden. Galilei nahm sich mit seinem Fallgesetz zum Gesetz die Erde, Newton mit seinem Gravitationsgesetz zum Gesetz den Himmel, Einstein mit der Invarianz des Linienelements in der Raumzeit zum Gesetz den Weg und Penrose mit seinen Singularitätensätzen zum Gesetz das eigene Weben. Versteht man unter Weg dabei das invariante Linienelement der Allgemeinen Relativitätstheorie, so ist das aus der selbstbezüglichen Struktur der Raumkrümmung verständliche Weben gleichsam in den Einsteinschen Feldgleichungen enthalten. Und wie Penrose in seinen Sigularitätensätzen bewiesen hat, folgt aus den Einstein-Gleichungen unter sehr allgemeinen Nebenbedingungen die Existenz schwarzer Löcher. Damit schließt sich das Kreisen: Du kannst es ansehn als die Mutter der Welt.

Der Koitus ist ein großes Gesetz der Natur, aber die schwarzen Löcher sowohl im Kosmos wie in den Frauen, vermögen sich selbst zu reproduzieren. Das geschlechtsspezifische Y-Chromosom ist bereits dem Zerfall ausgesetzt, so dass der Menschheit ohne Männer vorerst nicht mehr die Ausrottung drohen wird. Aber ist es nicht vielleicht schon zu spät? Heinsohn weist darauf hin, dass in den nächsten Jahrzehnten immerhin 300 Millionen junge Männer aus den islamischen Ländern in die Territorien der entwickelten Welt drängen werden. Erreicht der youth bulge der 15-24 Jährigen mit einem Anteil von nindestens 20% seinen kritischen Anteil an der Gesamtbevölkerung, drohen Revolten, Terrorismus und Bürgerkriege. Heinsohn zeigt an einer Vielzahl von Beispielen, dass es eine signifikante Korrelation zwischen einem youth bulge und Massentötungen gibt. Dieser fatale Zusammenhang wird noch verstärkt, wenn die Jungen durch Ausnutzung ihres pubertären Machogehabes zur Aggressivität erzogen werden und zugleich keine Aussicht auf eine Lebensperspektive haben, die ihnen einen anerkannten Status in der Gesellschaft verspricht. Die demütigende Erfolgslosigkeit gepaart mit einem selbsttäuschenden Überlegenheitsgefühl führt genau zu der ,,Nekrophilie``, die Islamisten für die Rekrutierung von Terroristen brauchen. Gewalt ist die Rache, die das ungelebte Leben an sich selbst nimmt, formulierte Fromm bereits 1974 in seiner Anatomie der menschlichen Destruktivität. In seinem Versuch über den radikalen Verlierer weist wieder Enzensberger darauf hin, dass es in der islamischen Welt immer mehr Schreckensmänner unter den radikalen Verlierern gibt. Und für Sloterdijk handelt es sich dabei stets um die zornigen jungen Männer, bei denen zu dem Doppelelend von Arbeitslosigkeit und Hormonüberdruck die explosive Einsicht in ihre soziale Überflüssigkeit hinzukommt.

Seit 400 Jahren gerät die islamische Welt im Vergleich mit den westlichen und ostasiatischen Staaten zunehmend ins Hintertreffen und hat in der langen Zeit keinerlei nennenswerte Erfindungen gemacht. Gemäß Arab Human Development Report grassieren noch immer in hohem Maße Armut und Analphabentum in den arabischen Ländern. Und mit Koranschulen ist ebensowenig ein Staat zu machen wie es mit den christlichen Klosterschulen des Mittelalters unmöglich war. Allein der Profit aus den Öleinnahmen schafft partiellen Wohlstand, zeigt aber auch wie abhängig die Ölstaaten von den führenden Industrienationen sind. Mit dem Schwinden der Ölvorkommen werden die reichen islamischen Länder wieder in die Bedeutungslosigkeit zurückfallen, wenn sie sich nicht zu einer Zivilisierung ihrer Kulturen durchringen sollten. Es scheint, als werde das Patriarchat in den nächsten Jahrzehnten seinen letzten Kampf um die Vorherrschaft in der Welt unter dem Banner des Islamismus führen. Solange Frauen unterdrückt in der Abhängingkeit ihrer islamischen Machos leben müssen, werden sie weiter ,,Kanonenfutter`` für den ,,heiligen Krieg`` zu produzieren haben. Und so werden dem youth bulge aus dem Reservoir der 0-14 Jährigen noch vermehrt fehlerzogene Jungen nachwachsen, so dass Bandenkriege und Massaker, Terrorismus und Bürgerkriege in den nächsten Jahrzehnten weiter zunehmen und verstärkt die Metropolen der westlichen Zivilisation in Mitleidenschaft ziehen werden. Der völkische Nihilismus ist noch lange nicht ausgestanden und im Vergleich mit dem Ausmaß des zu erwartenden islamo-faschistischen Bombenfutters war der Germano-Faschismus nur ein kleiner Vorgeschmack. Damit noch nicht genug, werden die demographisch und islamistisch bedingten Probleme noch verschlimmert durch die zu befürchtenden Folgen des Klimawandels aufgrund des ebenfalls patriarchalen Industrialisierungswahns.

Internationaler Terrorismus und globaler Klimawandel beschwören apokalyptische Visionen und Endzeitstimmungen herauf. Metaphysische Nihilisten wie Nietzsche oder Allen lassen sich den Spaß allerdings nicht so leicht verderben. Im Anschluss an Nietzsche kann man in evolutionärer Perspektive weiterhin fröhliche Wissenschaft treiben und die Schönheit der Welt in ihrer Weiblichkeit preisen. Und der humoristische Kinematograph Allen plädiert mit Harry für eine VIP-Suite in einer lustvoll ausstaffierten Hölle - mit Klimaanlage. Wenn schon seine Artgenossen sich ihr südliches Urlaubsklima auch in den nördlichen Regionen schaffen, bleiben Klimaanlagen um so wichtiger. Aus der Not eine Tugend machen, empfiehlt der Zyniker; den Dingen durch Nichtstun ihren Lauf lassen, meint der Taoist. Und der Medienkapitalist? Die Verknüpfung Gott-Held-Rhapsode bildete nach Sloterdijk den ersten effektiven Medienverbund. Die Ilias hebt an mit dem Zornesgesang eines glücklichen Bellizismus:

Den Zorn singe, Göttin, des Peleussohns Achilles,

den unheilbringenden Zorn, der tausend Leid den Archäern

Schuf und viele stattliche Seelen zum Hades hinabstieß ...

Zeitgenössische Analphabeten lesen nicht mehr Homer, ergötzen sich dafür aber an den grausamen Gewaltspielen im Computer. Sloterdijk hebt in Zorn und Zeit weiter hervor: Ob der Patriarch der Kriegsgeschichte und der Griechischlehrer zahlloser Generationen, einen Begriff von ,,Geschichte`` oder ,,Zivilisation`` besaß, ist ungewiß, eher unwahrscheinlich. Sicher ist nur, daß das Universum der Ilias ganz aus den Taten und Leiden des Zorns (menis) gewoben ist - so wie die etwas jüngere Odyssee die Taten und Leiden der List (metis) dekliniert. Eine Säkularisierung der Affekte ist den Zeitgenossen Homers noch unbekannt, der Akkusativ noch unregierbar: Nicht die Menschen haben ihre Leidenschaften, die Leidenschaften haben vielmehr ihre Menschen. Die Grammatik bestimmt die Mythologie und bis heute die Volksmetaphysik. Der in Hochform Zürnende ,,fährt in die Welt wie die Kugel in die Schlacht``. Allen parodiert dieses archaische Menschenbild in Stardust Memories, indem er die Aggression Sydney Finkelsteins ausbrechen lässt während dieser einen geruhsamen Mittagsschlaf hält. Aber ist nicht der Thymotik vom Anbeginn der Zivilisation mit der Erotik ein Ausgleich geschaffen worden? In dem Abgesang Klaus Hoffmanns auf die Herren dieser Welt heißt es dazu:

Sie sind sehr stark, nicht nur in Uniformen,

sie haben Macht, das steht auf jedem Scheck,

sie schaffen Ordnung nach bewährten Normen,

fließt etwas Blut, erfüllt es seinen Zweck.

Doch wenn sie lieben, dann als Kamerad,

einem Weibe wohlgesinnt,

Und wenn sie bocken, dann nach gutsherrenart,

kurz und heftig, aber bestimmt.

Man sieht sie überall zu allen Zeiten,

einer jeder Herr hat auch noch einen Sohn,

sie wollen alle für den Fortschritt streiten,

es sind die Herzschrittmacher der Nation.

Ihr Schreibtisch ist wie eine Guillotine,

sie sind auch Mensch, doch täusche dich nicht,

sie morden mit unschuldiger Mine,

ja, der Herr hat auch ein Damengesicht.

In der Entwicklung des Verhältnisses von Erotik und Thymotik nimmt Nietzsche für Sloterdijk eine einzigartige ideengeschichtliche Stellung ein. Bevor er die neue Zornwirtschaft unserer Zeit, diese Kriegswirtschaft des Ressentiments, als das psychopolitische Geheimnis des 20. Jahrhunderts in Augenschein nimmt, bezieht er sich auf den Ecce Homo, in dem Nietzsche einen besonders prophetischen Ton anschlägt: Ich bringe den Krieg quer durch alle absurden Zufälle von Volk, Stand, Rasse, Beruf, Erziehung, Bildung: ein Krieg wie zwischen Aufgang und Niedergang, zwischen Willen zum Leben und Rachsucht gegen das Leben, zwischen Rechtschaffenheit und tückischer Verlogenheit«, also ein ,,Krieg`` auf der Ebene des Geistes, mit den Waffen des Geistes. ,,Der Begriff der Politik ist gänzlich in einen Geisterkrieg aufgegangen, alle Machtgebilde sind in die Luft gesprengt,- es wird Kriege geben, wie es noch keine auf Erden gab.-`` Schon bald sollte sich der youth bulge der europäischen Jugend an den vielfach entfachten Ressentimentherden entzünden und den dritten 30jährigen Krieg nach sich ziehen, aus dem heraus nicht nur die Sowjetunion und Rotchina hervorgingen, sondern mit der Moslembruderschaft auch der Islamismus in tückischer Verlogenheit die Rachsucht gegen das Leben fortsetzte. Entstanden aus der Ohnmacht der Moslems gegenüber der Zerschlagung des osmanischen Großreiches und angestachelt durch die Gründung des Staates Israel hat der Islamismus seit dem Niederlage auf Niederlage hinnehmen müssen, so dass sich der heilige Zorn im finalen Terrorakt auf das WTC entlud. Die Zürnenden fuhren in die Welt wie Lenkwaffen in die Hochhäuser. Für Sloterdijk regt sich dabei der Furor des Ressentiments von dem Augenblick an, in dem der Gekränkte beschließt, sich in die Kränkung fallen zu lassen, als ob sie eine Auserwählung sei. Damit ist der Bogen vom bellizistischen Zorn Homers zum heiligen Zorn Bin Ladens gespannt. Mit Blick auf die Spaßgesellschaft in der Popkultur ist aber trotz aller kriegerischer Thymotik die Fröhlichkeit und der Humor der Erotik ins Feld zu führen.

Kant hatte in seiner Kritik der reinen Vernunft aus der apriorischen Synthese von Logik und Ästhetik die Vernunft neben dem Denken auch auf die Sinne gegründet. Nietzsche erweiterte diese allzumenschliche Basis in seinem dionysischen Rausch des amor fati zur vita femina in der ewigen Wiederkehr der Welt. Und Allen hatte in seiner Kritik des Reinen Schreckens eine apriorische Synthese aus Sprache und Erotik gewonnen, indem er aus dem reinen Schrecken quälender Gespräche lustvollen Sex transzendierte. War also alles nur halb so schlimm und blieb wie die Vernunft auch der Schrecken in evolutionärer Perspektive nicht so rein wie er am Ende der Entwicklung erschien? Solange eine religiös-triebunterdrückende Erziehung das Allensche Begehrensapriori in den heranwachsenden Jungen unterdrückt, droht der Hormonstau. Da helfen auch nicht die medienkapitalistischen Gewaltspiele und Pornofilme weiter. Eine sexuelle Befreiung wie sie sich im Zuge der westlichen Kulturrevolution seit den swinging sixties verbreitet hat, ist im Islam längst überfällig. Wer guten Sex hat, wird sich nicht wegsprengen, sondern das Leben weiter zu genießen trachten: Make love, not war, ist immer noch die Parole der Zeit; auch für die jungen Männer des Westens, die fasziniert in die Killerphantasien ihrer Computerspiele eintauchen. Während sich die Jungs mit ihren Machovisionen in spielende Rechner verwandeln und ansonsten bloß zu chronischer Unzufriedenheit und spießigem Stumpfsinn neigen, entwickeln die Mädels lieber ihre Persönlichkeit, entdecken die Welt und machen Karriere. Jung, dynamisch und unabhängig wie sie sind, wird ihnen in der westlichen Welt die Zukunft gehören und sie könnten zum Vorbild für die Emanzipation der Frau im Islam werden.

Woody Allen hat in seinen Filmen immer wieder die Frauen gefeiert und viel aus der Zusammenarbeit mit ihnen profitiert. Mit 41 stimulierte ihn die liebreizende 17jährige Stacey und mit 56 verfiel er dem jungendlichen Charme seiner 21jährigen Stieftochter. Eine mädchenhaft-intelligente Muse hätte sicher auch Nietzsche geholfen, den Schrecken vor der ewigen Wiederkunft zu verlieren; denn letztlich sprach ja nur die Existenz seiner Mutter und Schwester gegen diesen abgründigen Gedanken. Wäre die mit Lou und Paul erträumte erotisch-intellektuelle Dreieinigkeit gelungen, hätte seine Lebensphilosophie eine weniger tragische Wendung genommen. Die ewige Wiederholung des alten Rein-Raus-Spiels angesichts des unwiderstehlich anziehenden weiblichen Bermudadreiecks wohnt ja bereits dem ewigen Eindringen und Rückprallen der Universen in ihren schwarzen Löchern inne, die alle Materie, die in ihren Bannkreis gerät, in sich hineinziehen und dabei in gleichsam erhabener Ruhe heimlich wärmestrahlen. Die Visionen der Physiker von einem ewigen sich aus dem Reservoir der dunklen Energie schöpfenden Multiversum, in dem die Universen einem ständigen Entstehen und Vergehen in schwarzen Löchern oder durch Nullpunktsfluktuationen ausgesetzt sind, wird in den Büchern Randalls, Smolins und Susskinds beschrieben. In seinem Buch The Trouble with Physics kritisiert Smolin auch die in der Superstringtheorie grassierende Tendenz zur science fiction, um nicht zu sagen: Mystik. Gegen science fiction als im engeren Sinne weiter gedachter Wissenschaft ist andererseits nichts einzuwenden; denn um experimentell nicht mehr prüfbare Hypothesen handelt es sich generell nur noch in der zeitgenössischen physikalischen Kosmologie, da die astronomischen Energiebereiche mit den irdischen Großbeschleunigern prinzipiell nicht mehr erreichbar sind. Ich möchte nicht unerwähnt lassen, dass es sich bei den amerikanischen Autoren um ein Trio mit Dame handelt. Zumindest in den USA machen Frauen auch verstärkt in der Physik Karriere. Die grundlegendste und faszinierendste Wissenschaft überhaupt wird von deutschen Frauen leider immer noch weitgehend gemieden. Das monarchisch-faschistische Frauenbild der unsäglichen deutschen Tradition wirkt wohl noch immer nach.

Sloterdijk hatte den Wiederkunftsgedanken lediglich kulturmorphologisch interpretiert; aber was ist physikalisch und biologisch von ihm zu halten? Was hätte das Philosophen-Trio mit Dame in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts aus der Physik lernen können, wenn Nietzsches Traum von einer Studiengemeinschaft in Paris sich erfüllt hätte? Uffink hat kürzlich in einem Übersichtsartikel die Grundlagen der klassischen statistischen Mechanik zusammengefasst und als einführendes Lehrbuch kann immer noch auf Beckers Klassiker zur Theorie der Wärme zurückgegriffen werden. Grundlage der statistischen Mechanik ist bis heute die Darstellung, die Hamilton um die Mitte des 19. Jahrhunderts der klassischen Mechanik gegeben hatte. Physikalisch ging es ihm darum, eine vereinheitlichte Beschreibung zu finden für Teilchenbewegungen in einem Kraftfeld wie für Lichtstrahlen beim Durchscheinen eines Mediums. Mathematisch löste er das Problem, indem er die Transformierbarkeit einer $n+1$-dimensionalen partiellen Differentialgleichung in ein System von $n$ gewöhnlichen Differentialgleichungen ausnutzte. Unter der Bedingung der Energieerhaltung war die Hamiltonfunktion $H$ eine Konstante und entsprach der Gesamtenergie des physikalischen Systems. Im hochdimensionalen Zustandsraum des Systems bildete die Hamiltonsche Konstante $H$ eine Hyperfläche und entsprach der Energieschale $E$. Die Frage, welche Punkte auf dieser Fläche für die Bahnkurve eines Systems prinzipiell erreichbar sind, beantwortete Boltzmann 1887 mit der Ergodenhypothese: Die Bahnkurve durchläuft jeden Punkt der Fläche H = E. Da Boltzmanns Hypothese allerdings mathematisch nicht beweisbar war, schwächte das Physikerpaar Paul und Tatjana Ehrenfest sie 1911 zu einem Näherungssatz ab: Im Laufe der Zeit kommt die Bahnkurve jedem Punkt der Fläche H = E beliebig nahe.

Wird nun eine Vielzahl von gleichartigen Systemen betrachtet, stellt sich die Frage, unter welchen Voraussetzungen, die zeitliche Mittellung über die Entwicklung eines Systems mit der Mittellung über einer Schar von Systemkopien zu einem festen Zeitpunkt zusammenhängt. Für Systeme, deren Energie erhalten bleibt, die also ohne Energieaustausch mit ihrer Umgebung stehen, gilt: Zeitmittel gleich Scharmittel. Aus einer Schar gleichartiger Systeme lässt sich eines herausgreifen und in seiner zeitlichen Entwicklung mitteln. Hat das vielleicht etwas mit dem Wiederkunftsgedanken und dem kategorischen Imperativ zu tun? Handle so wie es auch alle tun können sollten! So wie die Schar sich zu einem festen Zeitpunkt im Mittel verhält, soll bestimmt werden können aus dem mittleren Fortgang eines Verhaltens. Es geht hier nur um statistische Aussagen, nicht wirklich um den Extremfall, dass alle sich in gleicher Weise verhalten. Eine moralische Norm, wie den kategorischen Imperativ, statistisch interpretieren, liefe ethisch auf einen Utilitarismus hinaus. Aber was würde aus dem Wiederkunftsgedanken, wenn er sich nur auf statistische Verteilungen bezöge, auf Scharen und nicht auf Einzelsysteme? Einzelsysteme folgen dem Ergodensatz, der als näherungsweise Wiederkehr verstanden werden kann. Scharen als statistische Gesamtheiten entwickeln sich aber irreversibel, d.h. auch innerhalb eines Systems, in dem die Energie erhalten bleibt, gleichen sich lokale Abweichungen aus, da die Entropie immer zunimmt oder gleichbleibt.

Den aus der Hamiltonschen Mechanik gewonnenen Wiederkehreinwand gegen die Irreversibilität in der statistischen Mechanik hat Poincaré 1890 formuliert in his famous treatise on the three-body problem of celestial mechanics, Poincaré derived what is nowadays called the recurrence theorem. Roughly speaking, the theorem says that for every mechanical system with a bounded state space, almost every initial state of the system will, after some finite time, return to a state arbitrarily closely to this initial state, and indeed repeat this infinitely often. 1890 war Nietzsche allerdings schon der fortgeschrittenen Paralyse anheim gefallen, so dass er den Poincaréschen Wiederkehrsatz nicht mehr hätte studieren können. Einem mathematischen Satz werden exakt formulierte Annahmen vorausgesetzt, die natürlich in physikalischen Systemen nur näherungsweise erfüllt sind. Aber auch unter der Annahme, dass die mathematischen Voraussetzungen physikalisch erfüllbar wären, könnte es noch sein, dass die Wiederkehrzeiten zwar mathematisch formulierbar, aber physikalisch überhaupt keinen Sinn ergäben. Und genau das ist der Fall; denn die grob abgeschätzten Wiederkehrzeiten übersteigen um viele Größenordnungen den Zeithorizont unseres Universums. Damit folgt aus dem Wiederkehrsatz kein Einwand gegen die Irreversibilität während kleiner Zeiten.

Auch wenn sich Nietzsches Visionen nicht auf die kleinen Zeiten des menschlichen Maßes bezogen haben mögen, erhebt sich hinsichtlich seines Wiederkunftsgedankens noch der Einwand, ob Populationen von Lebewesen überhaupt vollständig im Rahmen der Hamiltonschen Mechanik beschrieben werden können. Wie genau können Organismen durch Systeme angenähert werden? Ebenso wie in der statistischen Mechanik sind auch die Details der Evolution nur mit statistischen Methoden approximierbar, da die Evolutionsprinzipien auf den stochastischen Prozessen der Mikrophysik basieren. Darwin hatte die Ergebnisse seiner mehrjährigen Forschungsreise 1859 in seinem epochalen Werk Über die Entstehung der Arten bereits im Titel zusammengefasst: On the origin of species by means of natural selection, or the preservation of favoured races in the struggle for life. Der Grundgedanke eines ,,Überlebenskampfes`` zur ,,Verbesserung`` der Organismen ist sehr alt, wurde aber von den Christo-Faschisten über mehr als ein Jahrtausend unterdrückt, weil er dem Schöpfungsmythos der dicken Schwarte widersprach. Zum Glück blieb die antike materialistische Philosophie in der Überlieferung des Lukrez aus dem ersten vorchristlichen Jahrhundert erhalten. In seinem Lehrgedicht Über die Natur der Dinge beschreibt er auch das Überleben der stärkeren und nützlicheren Tiere:

Damals mussten wohl viele der lebenden Gattungen ausgehn,

Da sie imstand nicht waren für Nachwuchs weiter zu sorgen.

Denn die Geschöpfe, die jetzt sich erfreun des belebenden Odems,

Können von Jugend auf nur so das Geschlecht sich erhalten,

Dass sie durch Kraft sich und List und endlich durch Schnelligkeit schützen.

Viele sind auch uns Menschen durch ihren Nutzen empfohlen,

Und so bleiben sie leben, da wir sie hegen und pflegen.

Erstlich das wilde Geschlecht und die grausamen Scharen der Löwen

Hielten durch Kraft sich, der Fuchs durch List und der Hirsch durch die Schnelle.

Darwin fasst seine Untersuchungen schlussfolgernd zusammen in den Gesetzen, die im weitesten Sinne genommen, heissen: Wachsthum mit Fortpflanzung; Vererbung, fast in der Fortpflanzung mit inbegriffen, Variabilität in Folge der indirecten und directen Wirkungen äusserer Lebensbedingungen und des Gebrauchs oder Nichtgebrauchs; rasche Vermehrung in einem zum Kampfe um's Dasein und als Folge dessen zu natürlicher Zuchtwahl führenden Grade, welche letztere wiederum die Divergenz des Characters und das Erlöschen minder vervollkommneter Formen bedingt. In seinen Stufen zum Leben hat Eigen 1987 diesen genial einfachen stochastischen Algorithmus in die Form allgemeiner Replikatorgleichungen gebracht und damit alle teleologischen Missverständnisse und Fehlinterpretationen eines intelligent designs ad absurdum geführt. Denn allein aufgrund der Voraussetzungen eines funktionierenden Stoffwechsels mit vielen sich selbst nicht ganz fehlerfrei reproduzierenden Nukleinsäuren im Bioreaktor, konnte er die Selektion jeweils weniger Spezies als Systemeigenschaft nachweisen, wie es die Simulationsrechnungen der Replikatorgleichungen prognostiziert hatten. Im Extremfall überlebte kein Biomolekül die Lebensbedingungen im Reaktor und mit entwickelteren Organismen wie Mikroben fielen die Experimente genauso aus. Die Züchtung von Nutzpflanzen aus Wildformen ebenso wie die Abrichtung von Wildtieren zu Haustieren war schon im Altertum eine lange bewährte Praxis beim Ackerbau und der Viehzucht. Damit ahmten die Menschen aber nur die Natur nach und nicht umgekehrt. Allein aus den Voraussetzungen: Stoffwechsel, Selbstreproduktion und Mutation folgt die Selektion als eine Systemeigenschaft aus den Naturgesetzen, ohne dass irgendein Sinn, Endzweck oder Ziel unterstellt werden müsste.

Nietzsche scheint Darwin nie im Original gelesen zu haben, sonst wäre ihm vielleicht die Verwandschaft ihrer Gedanken aufgefallen. Nüchtern betrachtet, lassen sich seine Philosopheme im Sinne des darwinschen Optimierungsalgorithmus' deuten: Der Wille zur Macht ist als Lebensprinzip im Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur wirksam. Die im dionysischen Rausch zwischen den Geschlechtern in der ewigen Wiederkehr des gleichen Rein-Raus-Spiels zur Selbstreproduktion herbeigeführten Varianten der Nachkommen werden im Übermenschen besser angepasste Menschen zur Folge haben bzw. allein auf die Selbstreproduktion der FRAU hinauslaufen. In der science fiction - Perspektive wäre als Übermensch auch eine künstliche Intelligenz denkbar, wie sie Kubrick und Clarke 1968 mit HAL und dem Monolithen oder die Wachowski Brüder 1999 mit der MATRIX in die Kinos brachten. Nicht zufällig hat Kubrick in seinem kinematographischen Meisterwerk 2001 mit der Musik Straussens und der aufgehenden Sonne an Zarathustras Untergang (als Mensch) und Auferstehung (als Übermensch) angeknüpft. Am Schluss nähert sich ein übermenschliches Sternenkind der Erde und es bleibt offen, was es mit ihr machen wird.

Die Geburt des POP aus Mythologie und Mystik, Kosmologie und science fiction? Die psychedelische Fahrt des Astronauten Bowman durchs Sternentor, sein Druchschreiten der Pforten der Wahrnehmung und sein Durchbruch zur anderen Seite, besang auch der Dionysos des POP, Jim Morrison: there are things known and things unknown and in between there are the doors. Der vom Monolithen gewährte Durchgang glich einem bewusstseinserweiternden Weg in eine andere Welt. Aber Drogen, Musik und Filme entgrenzen nicht wirklich das Bewusstsein, das vermag nur die Mathematik, so wie Einstein sie zu nehmen wusste und damit die kosmischen Visionen menschlicher Phantasie auf über 60 Größenordnungen erweiterte. Diese faszinierende Weite hatte auch eine existentielle Verlorenheit zur Folge, die Kubrick virtuos kinematographisch zu gestalten verstand, so dass der Zuschauer ahnungsweise die absolut stille, kalte, dunkle und unermessliche Tiefe des Univesrums spürte, die ihn erschauern ließ - oder zur Heiterkeit reizte: das absolute Nichts ist ok; wenn man entsprechend gekleidet ist, witzelte Woody. Ja, ohne Raumanzug werden Menschen im Vakuum des Alls rasch zerstäubt. Nicht gerade eine Lebensperspektive für einen sensiblen Künstler, der sich immer wieder darüber wundert, dass seine Artgenossen sich nicht klarmachten wie fragil und einsam unser Sonnensystem seiner Bahn um das zentrale schwarze Loch der Milchstraße folgt. Pink Floyd untermalten diese Einsicht mit ihrem elegischen Elektropop: There's a look in your eye like a black hole in the sky. Und wie fühlten sie sich dabei? We're just two lost souls swimming in a fish bowl, year after year. Running over the same old ground. What have we found? The same old fears. Wish you were here. Sartre fühlte sich durch einen Blick Simones unversehens ins All versetzt. Und Allen hatte eine Idee für eine Kurzgeschichte über Leute in Manhattan, die sich ständig diese wirklich überflüssigen, neurotischen Probleme schaffen, weil es sie davon abhält, sich mit den unlösbaren, bedrohlichen Problemen des Universums zu beschäftigen. Aber was schien ihm dabei auf? Traceys Gesicht ...


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Ingo Tessmann 2007-09-15