Woher kommen die Zahlen?

Die Mathematik zählt bekanntlich zu den Formalwissenschaften. In ihr geht es um den Beweis allgemeingültiger Formeln. Formeln stellen Gleichheitsbehauptungen zwischen Termen dar. Terme bestehen aus arithmetischen Verknüpfungen von Zahlen oder Variablen. Verknüpfungen lassen sich durch Rechenregeln definieren. Aber woher kommen die Zahlen?

Zahlen sind Äquivalenzklassen gleichmächtiger Mengen, sagt der Formalist.

Und woher kommen die Mengen? fragt der Konstruktivist.

Mengen sind die Extensionen der Prädikate, antwortet der Formalist.

Damit meint er die Menge der Gegenstände, auf die ein Prädikat zutrifft. Der Konstruktivist gibt zu bedenken, daß die Feststellung gleichmächtiger Mengen den Zahlbegriff bereits voraussetze, die Zahldefinition zirkulär sei.

Als Zahlen bezeichnen wir diejenigen Dinge, die den Peano-Axiomen genügen, meint der Axiomatizist.

Mit Axiomen wird der Begründungsweg willkürlich abgebrochen bzw. begonnen, wendet der Konstruktivist ein. Vielmehr haben wir das Wissen durch die Lebenspraxis zu fundieren. Beginnen wir doch schlicht mit dem Zählen. Strichlisten sind seit der Steinzeit überliefert. Das Zählen gehört zu den originären menschlichen Fähigkeiten und läßt sich nicht auf das logische Schließen zurückführen.

Und wie kommen wir vom Zählen zu den Zahlen? will der Formalist wissen.

Indem wir abstrahieren, erwidert der Konstruktivist. Das Abstrahieren ist ein methodisch nachvollziehbares Verfahren. Es besteht darin, verschiedene Dinge als äquivalent zu betrachten und sich fortan darauf zu beschränken, bezüglich der Äquivalenzrelation invariant zu reden. Das hört sich komplizierter an als es ist. Denn schließlich gehört es zu den Grundvermögen aller Lebewesen.

Immer wenn sich Organismen von ihrer Umwelt abgrenzen, sind sie gezwungen, den für ihr Überleben wichtigen Stoffwechsel mit ihrer Umgebung aufrechtzuerhalten. Damit reduzieren sie aber ihre Umwelt auf einige für sie wesentliche Eigenschaften. Dieses grundlegende biologische Verfahren der Invariantenbildung bzgl. eines Energie- und Stoffaustausches ist auch in der Sinnesphysiologie wirksam. Unsere Sinne abstrahieren ständig aus der Fülle der Sinneseindrücke Gestalten oder Muster, die unter den verschiedendsten Bedingungen als äquivalent erkannt werden müssen. Andernfalls könnten wir keine Gesichter oder Stimmen wiedererkennen. Oder denken wir nur `mal daran, welch ein Verrechnungsaufwand dahintersteckt, unser Gesichtsfeld konstant zu halten, obwohl wir den Kopf bewegen.

Die Erfolge in der Vereinheitlichung der physikalischen Theorien beruhen ebenfalls auf Abstraktion. Einstein führte mit dem Relativitätsprinzip eine Äquivalenzrelation zwischen Bezugssystemen ein, bzgl. der die physikalischen Sätze invariant sein sollten. Die Physiker übertrugen das Prinzip von der Gravitation auf die anderen Wechselwirkungen. Die physikalische Basis des Abstrahierens liegt im Bosonen-Austausch zwischen Fermionen. Auf der Ebene des Sozialsystems wird von der Reichhaltigkeit der Lebenswelt bzgl. der Steuerungsmedien abstrahiert. Aufgrund der Austauschbeziehung kann die Abstraktion auch umgekehrt gesehen werden. Durch die Sozialsysteme werden die Menschen auf wenige Eigenschaften reduziert. Diese durch Geld und Macht vermittelte Invariantenbildung nennen Dialektiker Realabstraktion. Der Ausdruck deutet an, daß es sich um einen realen Vorgang handelt.

Der methodische Konstruktivist rekonstruiert das Abstrahieren als logisches Verfahren. Er beginnt mit der Definition einer Äquivalenzrelation ($\sim $), die (1) reflexiv und (2) komparativ sein muß:

(1)
(2) $x \sim z \land y \sim z \rightarrow x \sim y $
Eine Aussageform A(z) heißt invariant bzgl.  $\sim $, wenn gilt:

\begin{displaymath}
x \sim y \rightarrow (A(x) \leftrightarrow A(y)) \end{displaymath}

Zu den bekannten Äquivalenzrelationen zählt die Gleichheit (=) und die Bijunktion ($\leftrightarrow $). Die Tragweite des Abstraktionsverfahrens werde durch einige Beispiele erläutert:

Die philosophische Bedeutung des konstruktiven Abstraktionsverfahrens liegt in zweierlei. Zunächst ist es wichtig hervorzuheben, daß es beim Abstrahieren nicht um das Absehen-von etwas geht, wie es traditionell so gerne metaphorisch umschrieben wird. Vielmehr kommt es auf das Hinsehen-auf etwas an. Lebewesen abstrahieren aus ihrer Umwelt bzgl. des Stoffwechsels die Nährstoffe, die sie für ihr Überleben brauchen. Würden sie von etwas absehen, kämen sie nie zu einem Ende, da es potentiell unendlich viel wäre. Möglich wäre ein Abstrahieren durch Absehen nur bzgl. endlicher Gegenstandsbereiche. Aber auch dann wäre es noch extrem ineffizient. Zum anderen ist darauf hinzuweisen, daß mit dem Abstrahieren keine realen Objekte erzeugt werden. Es wird lediglich über bereits vorhandene Dinge bzgl. einer Äquivalenzrelation invariant geredet. Abstrakte Gegenstände werden bloß fingiert, sie existieren nur aufgrund ihres Bezuges zu realen Dingen. Natürlich kann man auch Abstraktionshierarchien bilden, z.B. Blut - Rot - Farbe oder Strich - Zählzeichen - Zahl. Analytische Wissenschaftstheoretiker halten Farbe oder Zahl für irreduzibel abstrakt, nur weil es sich um eine Meta-Abstraktion handelt.

Aber betrachten wir die Zahlabstraktion etwas genauer. Unsere Ausgangsfrage lautete: Woher kommen die Zahlen? Jetzt wissen wir: Zahlen werden abstrahiert aus Zählzeichen. Zählzeichen werden abstrahiert aus Strichlisten. Strichlisten werden hingeschrieben oder gelesen. Wie werden sie erzeugt? Vielleicht nach folgenden Regeln ($\Rightarrow $): (1) $\Rightarrow \mid $, (2) n $\Rightarrow n\mid $. D.h. es ist erlaubt, einen Strich hinzuschreiben. Wenn bereits n-Striche hingeschrieben wurden, darf ein weiterer hinzugefügt werden. So weit, so gut. Worin besteht denn dabei der erste Abstraktionsschritt? Die Strichliste $\mid \mid \mid \mid \mid $ z.B. stellt das Ergebnis des Zählens bis fünf dar. Statt Strichlisten könnten wir auch Steine oder Muscheln als Zählzeichen verwenden. Und indem wir Dinge zum Zählen verwenden, abstrahieren wir sie zu Zählzeichen. Der erste Abstraktionsschritt meint also einen Aspekt des jeder Handlung zugrunde liegenden Handlungsschemas. Ein Handlungschema umfaßt Invarianten der Sensorik, der zentralen Verarbeitung und der Motorik. Dem Prinzip methodischer Ordnung folgend, können wir natürlich nicht die Ergebnisse empirischer Wissenschaften, wie der Hirnphysiologie, in Anspruch nehmen. Deshalb beginnt der Konstruktivist seine Rekonstruktion der Zahlabstraktion bei den Zählzeichen und verweist auf das lebenspraktische Faktum, daß schon Kinder mühelos zählen können. Setzen wir also die Abstraktion vom physikalisch-sinnlichen Signal zum philosophisch-sprachlichen Zeichen voraus. Wie kommen wir vom Zählzeichen zur Zahl? Bezüglich der Äquivalenzrelation der Gleichheit verschiedener Zeichen: $\mid \mid \mid \mid \mid = 5 = V = 101 (dual)$. Die Rechenregeln der Arithmetik sind dann invariant bzgl. dieser Gleichheit zu formulieren.

Wir sollten im Auge behalten, daß das Abstrahieren letztlich immer von konkreten Gegenständen ausgeht und daß mit dem Abstrahieren keine neuen Dinge erzeugt werden, sondern lediglich metasprachlich in neuer Weise über die Dinge gesprochen wird. Erst kommen die Zählzeichen, dann die Zahlen; erst die Worte, dann die Begriffe; erst die Elemente, dann die Mengen. In der axiomatischen Mengenlehre wird demgegenüber z.B. ein Auswahlaxiom für plausibel gehalten. D.h. es wird allen Ernstes davon ausgegangen, daß es zulässig sein soll, Elemente aus einer Menge auszuwählen, ohne sicher sein zu können, ob Elemente überhaupt vorhanden sind! Ebenso bleibt schleierhaft, was mit der Leer- und Allmenge gemeint sein mag. Auch die sogenannte Überabzählbarkeit der reellen Zahlen ist bloß eine Stilblüte des Mengenplatonismus ...

Aber kommen wir wieder zu den natürlichen Zahlen zurück. Wie geht es weiter? Über die ursprünglichen Motive des Zählens können wir nur spekulieren. Warum ritzten unsere Vorfahren Strichlisten in Knochen? In den frühen Hochkulturen war das Zählen dann ein etabliertes Handlungsschema der Statistiker und Händler. Es diente dem Eintreiben von Steuern und der Festlegung von Tauschwerten. Was motivierte nun den Übergang zu den ganzen Zahlen? Das Schuldenmachen! Die negativen Zahlen wurden nicht zufällig in Verbindung mit dem aufblühenden Handel in Norditalien der Renaissance eingeführt. Schulden sind quasi negatives Einkommen. Sie erleichern wesentlich die Geldgeschäfte per Kredit oder Wechsel. Es gibt aber auch ein innermathematisches Motiv zur Abstraktion negativer Zahlen. Die Addition natürlicher Zahlen liefert immer wieder eine natürliche Zahl. D.h. hinsichtlich der Addition sind die natürlichen Zahlen abgeschlossen. Aber was passiert, wenn wir die Addition umkehren und subtrahieren? Wie lautet das Ergebnis für m - n, wenn n größer m ist? Die Subtraktion sprengt offensichtlich den Rahmen. Ein Dialektiker würde sagen: Der Immanenz ist die Transzendenz immanent. Im Modell der Ebenen und Krisen handelt es sich um ein mit der Subtraktion eingeführtes Strukturproblem. Wie lösen wir die Subtraktionskrise? Durch Abstraktion! Die mit der Subtraktion weitergeführte Differenzierung des Rechnens motiviert einen erweiterten Zusammenschluß. Wir definieren folgende Äquivalenzrelation ($\sim $) zwischen Paaren natürlicher Zahlen (m,n):

\begin{displaymath}
(m_1,n_1) \sim (m_2,n_2) := (m_2 + n_1 = m_1 + n_2) \end{displaymath}

Damit können z.B. 1, 0 und -1 durch folgende Äquivalenzklassen definiert werden:

1 := $(2,1) \sim (3,2) \sim (4,3) ... $
0 := $(1,1) \sim (2,2) \sim (3,3) ... $
-1 := $(0,1) \sim (1,2) \sim (2,3) ... $

Den aus der Vereinigung positiver und negativer Zahlen hervorgegangenen Zusammenschluß zu den ganzen Zahlen nennen die Mathematiker eine Gruppe. Der Leser wird sich denken können, wie es weitergeht. Das nächste Problem in der algebraischen Struktur tritt auf bei der Umkehrung der Multiplikation: Was ist das Ergebnis einer Division zweier ganzen Zahlen, wenn der Nenner gößer als der Zähler ist? Und was kommt heraus, wenn der Nenner 0 ist? Wir definieren eine Äquivalenzrelation ($\sim $) zwischen Paaren ganzer Zahlen (m,n):

\begin{displaymath}
(m_1/n_1) \sim (m_2/n_2) := (m_1 * n_2 = m_2 * n_1) \end{displaymath}

Die so definierten Äquivalenzklassen von Brüchen heißen rationale Zahlen:

\begin{displaymath}
1/3 \sim 2/6 \sim 4/12 \sim 8/24 ... \end{displaymath}

Das zweite Strukturproblem der Division durch 0 ist schwerwiegender. Denn wir können nicht einfach n/0 unendlich setzen, da unendlich überhaupt nicht existiert und die Division beliebig vieldeutig werden würde. Mathematische Objekte müssen aber kennzeichenbar, d.h. existent und eindeutig sein. Bei Termen n/0 handelt es sich überhaupt nicht um Zahlen, sondern bloß um Pseudokennzeichnungen. Pseudokennzeichnungen sind in der Sprache weit verbreitet und sollten von redlichen Philosophen und Wissenschaftlern gemieden werden.

Die Vereinigung zweier Gruppen nennen Mathematiker einen Körper. Die rationalen Zahlen bilden bzgl. der Addition und Multiplikation also einen Körper. Die nächsten Strukturprobleme seien nur angedeutet. Die Umkehrung des Potenzierens motiviert die Abstraktion irrationaler und imaginärer Zahlen. Bzgl. geeignet definierter Äquivalenzklassen lassen sich die rationalen und irrationalen Zahlen zu den reellen Zahlen und die reellen und imaginären Zahlen zu den komplexen Zahlen vereinigen. Geeignet sind Äquivalenzklassen, die die algebraische Struktur erhalten, so daß weiter mit den gleichen Rechenregeln gearbeitet werden kann.

Abschließend sei darauf hingeweisen, daß wir im Fortgang des Auftretens und Lösens der mathematischen Strukturprobleme eine leicht nachvollziehbare Interpretation von Dialektik im Modell der Ebenen und Krisen erhalten haben. Das Abstrahieren als Lösungsmethode von Strukturproblemen bewährte sich nicht nur in der Mathematik, sondern auch in vielen anderen Wissenschaften, wie der Physik und Informatik sowie der Psychologie und Ökonomie. Das Konzept der Typenlogik Russells zur Unterscheidung unvereinbarer Sprachebenen und die Gruppentheorie zur Auszeichnung abgeschlossener Strukturen übertrug Paul Watzlawick auf die Psychotherapie. Und die Dialektik von Arbeit und Kapital läßt sich im Fortgang des Abstrahierens von Arbeits- und Tauschwerten rekonstruieren. Darüber sollte sich der Leser ein paar eigene Gedanken machen.

Ein Kommentar von Dr. Peter Jaenecke (pjaenecke@gmx.de) und meine Antwort.