Subject: [PhilWeb] Abstraktion/abstraktive Prozesse
   Date: Sun, 4 Feb 2001 16:07

Ingo Tessmann schrieb:

> Ein Abstaktionsverfahren durch Invariantenbildung, wie es Mathematiker und
> Physiker verwenden, ist ja auch fuer die Philosophie vorgeschlagen worden
> (vgl.: http://www.ingo-tessmann.de/sofie/Abstraktion.html). Worin
> unterscheiden sich Deine "abstraktiven Prozesse" davon?

Über den Abstraktionsbegriff gibt es recht unterschiedliche Auffassungen,
die ich für hochredundant, ziemlich verworren und gelegentlich auch für
widersprüchlich halte. Das nach meinem Kenntnisstand jüngste Buch über
Abstraktionstheorie (s.u.) gibt dafür ein beredtes Zeugnis.

Ich halte dafür, daß mit dem Namen 'Abstraktion' mindestens drei
verschiedene Begriffe/Vorstellungen bezeichnet werden; ich nenne sie
im folgenden A1, A2 und A3.

Unter A1 verstehe ich das, was die abstraktiven Prozesse ausführen. Sie sind
gekennzeichnet dadurch, daß sie aus einer Folge von ähnlichen Nachrichten
(im Sinne der Nachrichtentechnik) eine neue Nachricht erzeugen, die dann
selbst wieder, zusammen mit anderen, in einen weiteren abstraktiven Prozeß
Eingang finden können. "Paradigma" hierfür ist: aus einer Folge von
verstümmelten Sätzen, die alle aus dem gleichen Originalsatz hervorgegangen
sind, diesen Originalsatz wiederzugewinnen. Bei der Sinneswahrnehmung werden
nach diesem Prinzip die Sinneseindrücke erzeugt; es sind diejenigen
Eindrücke, die es ermöglichen, eine Stimme, ein Gesicht, ein Geruch
wiederzuerkennen; Voraussetzung ist natürlich, daß sie im Gedächtnis
vorliegen. Je nach dem, was man unter einem Begriff versteht, kann man auch
sagen: die abstraktiven Prozesse liefern die Begriffe, z.B. den Begriff
'Haus'. Wichtig: A1 liegt auf der untersten Stufe der kognitiven Vorgänge in
dem Sinn, daß alle "höheren" kognitiven Vorgänge auf den Produkten von A1
aufsetzen. A1 erscheint demnach auf allen "Abstraktionsniveaus"; das Niveau
wird bestimmt durch den Abstraktionsgrad der in einen abstraktiven Prozeß
eingehen Nachrichten. A1 ist - im Gegensatz zu A2 und A3 - unabhängig von
Sprache und kommt bei allen Lebewesen vor, die in irgendeiner Form
Sinneswahrnehmung betreiben, und das dürften wohl bei allen Lebewesen der
Fall sein.

Wenn eine Sprache verfügbar ist, dann kann man dazu übergehen, die
Sinneseindrücke von Objekten bzw. Begriffen im obigen Sinn durch bekannte
Merkmale zu beschreiben. Allein solch eine Beschreibung setzt voraus, daß
von "unwichtigen" Merkmalen abgesehen wird, bzw. "wichtige" Merkmale
herausgehoben werden; diesen Vorgang bezeichne ich mit A2. Hierher gehören
auch die Begriffe 'Differentia specifica', 'abstrakt', 'konkret' etc. und
überhaupt die klassische Definitionslehre.

A3 geht über A2 hinaus, indem hier versucht wird, was in A2 geschieht
formal, d.h. über logische Operationen, zu erfassen und den Vorgang damit
beweis- bzw. schlußfolgerungstauglich zu machen. Man hebt also über A2 ein
oder mehrere  Merkmale heraus, durch die eine Äquivalenzklasse
charakterisiert ist und führt dann dieses Merkmal oder diese Merkmale formal
ein. Das Axiomensystem von Peano wird hier immer gern als Beispiel genannt;
der Orginaltitel seiner Arbeit von 1915 heißt ja auch: "Le definizioni per
astrazioni". Voraussetzung von A3: Sprache plus logische/mathematische
Theorien.

Was Du in Deinem Beitrag

http://www.ingo-tessmann.de/sofie/Abstraktion.html

"Woher kommen die Zahlen?" beschreibst, ist eine Mischung dieser drei Arten
mit Schwerpunkt auf A3. Zunächst führst Du 'abstrahieren' im Sinne
von A3 ein, behauptest dann, A3 gehöre zu den Grundvermögen aller
Lebewesen - was ich bestreite (s. hierzu die Voraussetzungen für A3).
Begründen tust Du Deine Behauptung mit Argumenten, die auf A1 passen
(Stoffwechsel, Sinneswahrnehmung). Es folgt ein weiterer Sprung mit der
Behauptung, die Erfolge in der Vereinheitlichung der physikalischen Theorien
beruhten ebenfalls auf Abstraktion ... Die physikalische Basis des
Abstrahierens liege im Bosonen-Austausch zwischen Fermionen. Das ist mir aus
zu großer philosophischer Höhe betrachtet. Was Du dann unter
'Zahlabstraktion' beschreibst, würde ich teils unter A1, teils unter A2,
später dann, bei den Äquivalenzrelationen, unter A3 einordnen.

Die Entwicklung der Zahlbegriffe und der Rechenoperationen ist historisch
nicht so gradlinig verlaufen wie bei Dir angegeben. Falls Du es noch nicht
kennst, solltest Du einmal den Gericke in die Hand nehmen. Es ist ein
Standardbuch auf seinem Gebiet. Ich glaube auch, daß Zahlen aus dem
Anzahlbegriff hervorgegangen sind: es gibt viele Beispiele, wo Anzahl und
Gegenstand durch ein Wort ausgedrückt werden, also z.B. fünf Kähne und zehn
Kähne zwei verschiedene Wörter darstellen; auch im Deutschen gibt es hiervon
Reste, z.B. Schock, Mandel. Den Übergang zu Strichlisten halte ich für einen
weiteren A1-Schritt: Trennung von Gegenstand und Anzahl. Informativ hierzu
ist Klix: Kap. 6.1.2. Von der anschaulichen Mengencharakteristik zum
Zahlbegriff.

Bei Dir kommen auch einige Behauptungen vor, die ich für bedenklich halte;
Beispiele:

"Auch die sogenannte Überabzählbarkeit der reellen Zahlen ist bloß eine
Stilblüte des Mengenplatonismus." Da solltest Du Dich einmal über die
Mächtigkeiten der Zahlenmengen sachkundig machen.

"Wir sollten im Auge behalten, daß das Abstrahieren letztlich immer von
konkreten Gegenständen ausgeht [nein, nur auf der untersten Stufe] und daß
mit dem Abstrahieren keine neuen Dinge erzeugt werden, sondern lediglich
metasprachlich in neuer Weise über Dinge gesprochen wird." Schon die
Beispiele, die Du dann aufzählst, widerlegen diese Behauptung. Ferner: Wenn
ich über die reellen Zahlen rede, rede ich dann wirklich bloß über die
natürlichen Zahlen in neuer Weise?

"Die Umkehrung des Potenzierens motiviert die Abstraktion irrationaler und
imaginärer Zahlen." Motiviert, nun gut; aber wie kommt man denn von den
rationalen Zahlen zu den irrationalen? Es gibt, wenn ich mich recht
erinnere, so etwa fünf verschiedene gleichwertige Verfahren, eines davon ist
der Dedekindsche Schnitt in der Menge der rationalen Zahlen. Der
Zusammenhang zwischen solch einem Verfahren und Deinen Äquivalenzklassen ist
mir nicht so recht klar.

--

Das oben Skizzierte verdiente sorgfältig ausgearbeitet zu werden. Das wäre
doch einmal eine andere Sache als das ewige "Identität und Indifferenz mit
Blick auf Schelling", "Selbstverständnis und Lebenswelt im Ausgang von
Husserl und Heidegger" und wieder anderes aus Sicht einer wieder anderen
Autorität.


LITERATUR:

Aspekte der Abstraktionstheorie. Ein interdisziplinäres Kolloquium.
Redaktion Klaus Prätor. Aachener Schriften zur Wissenschaftstheorie, Logik
und Sprachphilosophie hg. v. Matthias Gatzemeier, Bd. 2. Rader Verlag Aachen
1988.

Helmut Gericke: Mathematik in Antike und Orient/Mathematik im Abendland,
Fourier Verlag Wiesbaden 1992.

Friedhart Klix: Erwachendes Denken. Eine Entwicklungsgeschichte der
menschlichen Intelligenz. VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften Berlin
1985 (3. Aufl.). [Es gibt m.W. inzwischen auch eine neuere "gesamtdeutsche"
Auflage.]

Grüße Peter