Date: Sun, 04 Feb 2001 18:50:21 +0100
From: Ingo Tessmann 
Organization: Technische Universitaet Hamburg Harburg

"Dr. Peter Jaenecke" wrote:

> [...] Es folgt ein weiterer Sprung mit der
> Behauptung, die Erfolge in der Vereinheitlichung der physikalischen Theorien
> beruhten ebenfalls auf Abstraktion ... Die physikalische Basis des
> Abstrahierens liege im Bosonen-Austausch zwischen Fermionen. Das ist mir aus
> zu großer philosophischer Höhe betrachtet.  

Hi Peter, 

philosophischer Hoehe? Die Physiker abstrahieren genau nach dem (von Lorenzen) 
rekonstruierten Verfahren. Die Bosonen/Fermionen-Differenzierung "bricht" die 
Supersymmetrie. D.h. umgekehrt koennen "Quantonen" abstrahiert werden bzgl. 
der Supersymmetrie. 

> Die Entwicklung der Zahlbegriffe und der Rechenoperationen ist historisch
> nicht so gradlinig verlaufen wie bei Dir angegeben. Falls Du es noch nicht
> kennst, solltest Du einmal den Gericke in die Hand nehmen. Es ist ein
> Standardbuch auf seinem Gebiet. Ich glaube auch, daß Zahlen aus dem
> Anzahlbegriff hervorgegangen sind: es gibt viele Beispiele, wo Anzahl und
> Gegenstand durch ein Wort ausgedrückt werden, also z.B. fünf Kähne und zehn
> Kähne zwei verschiedene Wörter darstellen; auch im Deutschen gibt es hiervon
> Reste, z.B. Schock, Mandel. Den Übergang zu Strichlisten halte ich für einen
> weiteren A1-Schritt: Trennung von Gegenstand und Anzahl. Informativ hierzu
> ist Klix: Kap. 6.1.2. Von der anschaulichen Mengencharakteristik zum
> Zahlbegriff.  

Die methodische Rekonstruktion kehrt den tatsaechlichen Hergang und die 
Sinnesleistungen gerade um. 

> Bei Dir kommen auch einige Behauptungen vor, die ich für bedenklich halte;
> Beispiele:
> 
> "Auch die sogenannte Überabzählbarkeit der reellen Zahlen ist bloß eine
> Stilblüte des Mengenplatonismus." Da solltest Du Dich einmal über die
> Mächtigkeiten der Zahlenmengen sachkundig machen. 

Also ich halte eher die Annahme des "Aktual-Unendlichen" fuer bedenklich. 
Im "Beweis" der sog. Ueberabzaehlbarkeit wird ja bereits ein "Aktual- 
Unendliches" vorausgesetzt! Eine differenzierte Diskussion findet sich 
in dem Buch "Differential und Integral" von Paul Lorenzen. 

> "Wir sollten im Auge behalten, daß das Abstrahieren letztlich immer von
> konkreten Gegenständen ausgeht [nein, nur auf der untersten Stufe] und daß
> mit dem Abstrahieren keine neuen Dinge erzeugt werden, sondern lediglich
> metasprachlich in neuer Weise über Dinge gesprochen wird." Schon die
> Beispiele, die Du dann aufzählst, widerlegen diese Behauptung. Ferner: Wenn
> ich über die reellen Zahlen rede, rede ich dann wirklich bloß über die
> natürlichen Zahlen in neuer Weise?   

Schon die natuerlichen Zahlen sind abstrahiert. Letztlich reden wir nur ueber 
Strichlisten und die Strukturen, die wir aus ihnen abstrahieren koennen.  
Blosse "Metaabstraktionen" bleiben doch "in der Luft" haengen oder auf 
Sinnesleistungen bezogen. Das wird von meth. Konstr. nicht akzeptiert. 
Mathematiker sehen das in der Regel anders, wie Penrose z.B., der an die 
"platonische" Welt der Mathematik glaubt ... 

> "Die Umkehrung des Potenzierens motiviert die Abstraktion irrationaler und
> imaginärer Zahlen." Motiviert, nun gut; aber wie kommt man denn von den
> rationalen Zahlen zu den irrationalen? Es gibt, wenn ich mich recht
> erinnere, so etwa fünf verschiedene gleichwertige Verfahren, eines davon ist
> der Dedekindsche Schnitt in der Menge der rationalen Zahlen. Der
> Zusammenhang zwischen solch einem Verfahren und Deinen Äquivalenzklassen ist
> mir nicht so recht klar. 

Konvergente Folgen z.B. koennen auch Aequivalenzklassen bilden. Details  
findest Du in dem Buch von Lorenzen. 

LITERATUR 

Vielen Dank fuer die Literaturhinweise. 

Ich erlaube mir, Deinen Beitrag zu verlinken, wenn Du nichts dagegen hast. 

Es gruesst

Ingo