Alberto hob an: ,,Mit den Perspektiven einer kritischen Theorie endet der Weg durch die Gedanken zur Situation der Zeit . Sie begannen mit der Grundlagenkrise in Mathematik und Physik, zu deren Bewältigung die Analytische Philosophie ins Leben gerufen wurde. Die Grundlagenprobleme in der Physik motivierten eine komplementäre Naturphilosophie, in der die Einheit der Natur in den Blick kam. Die sozialen Probleme und die politischen Wirren der Weimarer Republik gaben Anlaß zu einer dialektischen Sozialphilosophie, in der die Totalität der Gesellschaft ausdrückbar sein sollte und ihre Entwicklung zum Besseren erstrebt wurde. Wie lassen sich nun Natur- und Sozialphilosophie verbinden? In unserem Erleben gehen Natur und Gesellschaft ja immer zusammen. Gibt es Gemeinsamkeiten komplementären und dialektischen Denkens? Da allen Wissenschaften der Lebensalltag vorangeht, sollte die Lebenspraxis die gemeinsame Basis für Naturalismus und Kulturalismus sein können. Ich werde die Ansätze dreier Philosophen vorstellen und einen Ausblick auf eine einheitliche Philosophie geben. Dem Sozialphilosophen und Soziologen Jürgen Habermas (geb. 1929) geht es in seiner Theorie des kommunikativen Handelns um den Anfang einer Gesellschaftstheorie. Der Naturphilosoph und Physiker Carl Friedrich von Weizsäcker (geb. 1912) bemüht sich in seiner Urtheorie um eine allgemeine Theorie der Erfahrung. Und der Wissenschaftsphilosoph und Mathematiker Paul Lorenzen (1915-1994) suchte Technik- und Sozialwissenschaften streng methodisch aus den Alltagspraxen des Umgangs mit den Dingen und des Miteinanderredens zu rekonstruieren. Bevor ich auf die genannten Philosophen eingehe, habe ich noch die beiden Kulturen zu erläutern. Wie die Namen bereits andeuten, dominiert der Naturalismus die Ingenieur- und Naturwissenschaften; der Kulturalismus dagegen bestimmt Sozial- und Geisteswissenschaften. Das naturalistische System der Wissenschaften beginnt mit Logik und Mathematik und führt über die Natur- zu den Kulturwissenschaften. Das kulturalistische System wird aus der Sprache entwickelt und führt über die Kultur- zu den Naturwissenschaften. Beide Ansätze lassen sich in zwei Thesen zusammenfassen:
Die Kritische Theorie Horkheimer/Adornos ist vor allem von Jürgen Habermas weitergeführt worden, indem er sich der Methoden der Analytischen Philosophie bediente. Habermas studierte in Göttingen, Zürich und Bonn Philosophie, Geschichte, Psychologie, Deutsche Literatur und Ökonomie. 1956 wurde er Assistent von Adorno in Frankfurt. Da Habermas dem Institutsleiter Horkheimer zu links war, habilitierte er sich bei Wolfgang Abendroth in Marburg. 1961 übernahm er eine Professur für Philsophie in Heidelberg und 1964 wurde er Nachfolger von Horkheimer in Frankfurt. Zwischen 1971 und 1981 leitete er mit Carl Friedrich von Weizsäcker das Max Planck Institut zur Erforschung der Lebensbedingungen in der wissenschaflich-technischen Welt.
Habermas gilt als der herausragendste deutsche Intellektuelle der Gegenwart. Hauptanliegen seiner Philosophie ist die Ausgestaltung des öffentlichen Raumes. In einer kommunikativ erzeugten Öffentlichkeit versammeln sich Privatleute und bilden ein Publikum, das zu Themen von gemeinsamem Interesse Stellung nimmt. Wann immer Individuen einander kommunikativ begegnen, teilen sie die Gemeinsamkeit einer Sprache. Vernunft ist nach Habermas primär kommunikative Vernunft, die sich in der Praxis des Begründens zu bewähren hat. Die Probleme, die in der politischen Öffentlichkeit zur Sprache kommen, spiegeln den gesellschaftlichen Leidensdruck persönlicher Lebenserfahrungen. Den gegenwärtigen Streit zwischen Liberalen und Kommunitaristen um die Ausgestaltung einer multikulturellen Gesellschaft, sieht er nur in der politischen Kultur des demokratischen Rechtsstaates auflösbar. Weder das freie Spiel der Kräfte, noch die von den Kommunitaristen geforderten Sonderregelungen führten zum Ziel. Es gehe vielmehr darum, alle betroffenen Kulturen an der politischen Willensbildung zu beteiligen.
Sehen wir zu wie Habermas den philosophischen Diskurs der Moderne vorangebracht hat. In seiner Arbeit Erkenntnis und Interesse knüpft er an die Horkheimer'sche Scheidung zwischen Theorie im Sinne der Tradition und Theorie im Sinne der Kritik an. Für drei Kategorien von Forschungsprozessen läßt sich nach Habermas ein spezifischer Zusammenhang von logisch-methodologischen Regeln und erkenntnisleitenden Interessen nachweisen:
Seine umfassende
Theorie des kommunikativen Handelns
erschien 1981. In ihr
sucht er die Analytische Philosophie mit dem historischen Materialismus zu verbinden.
Sprachphilosophisch knüpft er an die Umgangssprachler Austin und Searle an.
Die beiden hatten eine Theorie der Sprechakte
entwickelt. Nach ihnen wird Sprache als Handeln aufgefaßt und nicht auf ein Zeichensystem
reduziert. Es wird klar zwischen Inhalt (propositionaler Gehalt) und Gebrauch
(illokutionärer Akt) einer Äußerung unterschieden. In seiner Universalpragmatik
entwickelt Habermas die weitergehende These, daß jeder kommunikativ Handelnde
im Vollzug einer beliebigen Sprechhandlung universelle Geltungsansprüche erheben
und ihre Einlösbarkeit unterstellen muß. Sofern er überhaupt an einen
Verständigungsprozeß teilnehmen will, kann er nicht umhin, die folgenden, und
zwar genau diese universalen Geltungsansprüche zu erheben:
Ziel der Verständigung ist die Herbeiführung eines Einverständnisses, welches
in der intersubjektiven Gemeinsamkeit des wechselseitigen Verstehens, des geteilten
Wissens, des gegenseitigen Vertrauens und des miteinander Übereinstimmens terminiert.
Einverständnis ruht auf der Basis der Anerkennung der vier korrespondierenden
Geltungsanspüche: Verständlichkeit, Wahrheit, Wahrhaftigkeit und Richtigkeit.
Mit den Geltungsansprüchen der Rede sind Realitätsbezüge verbunden auf eine:
Erste Ausarbeitungen des Versuchs, die Wissenschaften konsequent aus den Lebenspraxen heraus zu entwickeln, gehen auf Hugo Dingler zurück. Seine Methodische Philosophie folgt dem schlichten Prinzip der pragmatischen Ordnung. Danach sind die Handlungschritte in einer linearen Folge so anzuordnen, daß sie auch tatsächlich ausgeführt werden können. Dieses einfache und für den Lebensalltag selbstverständliche Prinzip hat für die Wissenschaften allerdings weitreichende Konsequenzen. Jeder Koch hält sich stets an die Reihenfolge der im Rezept angegebenen Zutaten seiner Speise. In der wissenschaftlichen Literatur dagegen ist viel von der wissenschaftlichen Methodik die Rede, vom Aufbau komplizierter Experimente. Eine dem Prinzip der pragmatischen Ordnung genügende Handlungsfolge aber nie zu finden. Wer die Wissenschaften erlernen möchte, habe mitzumachen und die Experimentierhandlungen nachzuahmen. Anders ginge es nicht, wird gesagt. Ähnlich verhalte es sich mit der Sprache. Wer verstehen wolle, muß am Sprachspiel teilnehmen, wird gesagt. Die Situation sei ähnlich der, eine fremde Kultur kennenzulernen. Das könne man nicht durch zuschauen, sondern nur im Zusammenleben.
Da nun aber die Wissenschaften lehrbar und nachvollziehbar sein sollten, müßten sie einen (zumindest im Prinzip) geordnenten Aufbau erkennen lassen. D.h. schrittweise und zirkelfrei vorgehen, damit die Theorie experimentell begründet werden kann. Nach Ansicht der an Dingler anknüpfenden Methodischen Konstruktivisten der Erlanger Schule um Paul Lorenzen (1915-1994) zieht die pragmatische Ordnung eine methodische Ordnung der Wissenschaften nach sich. Lorenzen hatte Mathematik, Physik, Philosophie und Chemie studiert. Ab 1952 war er Professor für Mathematik in Bonn. 1962 ging er nach Erlangen, um mit Wilhelm Kamlah die Arbeit am Konstruktivismus in Angriff zu nehmen. Ihr methodischer Aufbau der Wissenschaften beginnt mit einer Vorschule des vernünftigen Redens. D.h. im Medium der Umgangssprache werden elementare Sprachhandlungen rekapituliert und Normierungen zum Identifizieren und Charakterisieren der Dinge vorgenommen. Die Logik folgt dabei der Alltagspraxis des Gesprächs und wird als Dialogische Logik konstruiert. Es werden also nicht von vornherein die Beschränkungen der klassischen zweiwertigen Logik übernommen. Aus der Alltagspraxis des Zählens wird die Arithmetik konstruiert. Nicht die Peano-Axiome stehen am Anfang, sondern Strichlisten mit Zählzeichen, wie sie schon seit der Steinzeit überliefert sind. Die Geometrie als zweite Grundlagendisziplin der Mathematik wird aus der Handwerkspraxis konstruiert. D.h. die Punkte, Geraden und Ebenen werden aus den Ecken, Kanten und Seiten bearbeiteter Gegenstände gewonnen, indem von den Herstellungsmängeln abgesehen wird.
Es dürfte das prinzipielle Vorgehen der methodischen Konstruktivisten
klar geworden sein. Zentral sind ihnen die Herstellungsregeln, die praktisch
durchführbar sein müssen. Daher der Name Konstruktivismus. Aber lassen
wir Lorenzen selbst zu Wort kommen: Für alle konstruktiven Wissenschaften
gilt, daß sie den Ausgangspunkt aller Begründungen in den vorwissenschaftlichen
Praxen der Menschen suchen. Vor den Hochkulturen des Altertums gab es nur
vorwissenschaftliche Praxen. Aus ihnen haben sich, insbesondere seit den
Griechen, alle Wissenschaften entwickelt. Der Konstruktivismus versucht,
kritisch diese Entwicklungen nachzuvollziehen, indem als konstruktive
Wissenschaft nur das anerkannt wird, was methodisch, also schrittweise ohne
Sprünge und Zirkel, aus einer auch für uns wichtigen Praxis begründet wird.
Wir können uns auf zwei Praxen beschränken:
In Unterscheidung der üblichen Machtpolitik möchte ich eine Politik, die am
friedlichen Konsens orientiert ist, eine ethische Politik nennen. Gegenüber der
technischen Praxis zur Wahl der Mittel, geht es in der politischen Praxis um das
Setzen der Zwecke. Nach dem Prinzip der methodischen Ordnung sind natürlich erst
die Zwecke zu setzen und dann die Mittel zu wählen. Die Praxis des Miteinanderredens
unterliegt dem Vernunftprinzip der Transsubjektivität. Die Forderung, seine
eigene Subjektivität zu überwinden, ist nur eine andere Formulierung des
Kant'schen kategorischen Imperativs: Handle so, daß die Norm deines Handelns
gegenüber jedem verteidigt werden kann. Nun hat aber bereits Hegel dieses Prinzip
als bloß formal kritisiert. Es ist durch die dialektische Methode der
sogenannten normativ-faktischen Genese zu ergänzen. D.h. in einer Art von
Spiralbewegung sind die Handlungsnormen in einer konkreten Situation zu rechtfertigen.
Die aus der unmittelbaren Lebenspraxis gewonnenen Redenormen z.B. werden eingesetzt,
um ein Stück Geschichte zu verstehen. Das Geschichtsverständnis wiederum modifiziert
die Redenormen, mit denen dann weitere Genesen erschlossen werden können. Ein nie
endendes Kulturverstehen.
Euch ist sicher nicht entgangen, daß es zwischen Frankfurtern und Erlangern einige Gemeinsamkeiten gibt. Deshalb neige ich dazu, den methodischen Konstruktivismus als Präzisierung und Ergänzung der Theorie kommunikativen Handelns anzusehen. Eine vergleichende Zusammenstellung wird Niels euch in der Übungsgruppe vorstellen. So weit ich sehe, ist aus der Dialektik bei Habermas eine Komplementarität zwischen System und Lebenswelt einerseits sowie zwischen Lebenswelt und Kommunikation andererseits geworden. Sehen wir zu, was dieses Verständnis von Komplementarität mit demjenigen Bohrs gemeinsam hat. Für Bohr waren Begriffe komplementär, die sich wechselseitig ergänzten und ausschlossen. Z.B. Welle und Teilchen, Kausalität und Raum-Zeit-Beschreibung, Reflexion und Bewußtseinsstrom. Zum komplementären Verhältnis von Instinkt und Vernunft sagte er einmal scherzhaft: Instinkt haben wir überall dort, wo wir es nicht merken. Versuchen wir, unser instinktives Verhalten zu bedenken, verschwindet es. Auch die Reflexion unterbricht den Bewußtseinsstrom. Und auf Quantenniveau zerstört eine Messung die Eigengesetzlichkeit der Bewegung. Die von Adorno und Bohr gleichermaßen gesehene Individualität und Totalität atomarer und gesellschaftlicher Vorgänge ist meiner Ansicht nach Ausdruck eines universalen Zusammenhangs aller Dinge im Kosmos. Aufgrund der auseinander hervorgehenden physikalischen, biologischen und sozialen Evolution ist das auch nicht verwunderlich.
Sehen wir zu wie sich die Komplementarität in Natur und Gesellschaft aus der Struktur von Zeit und Kommunikation verstehen läßt. Der Physiker und Philosoph Carl Friedrich von Weizsäcker hat 1985 und 1992 zwei umfassendende, aber auch fragmentarische Werke zum Aufbau der Physik und zur Struktur von Zeit und Wissen vorgelegt. Weizsäcker studierte bei Heisenberg Physik und wurde von Bohr im Philosophieren bestärkt. Bis 1956 war Weizsäcker Professor für Physik in Straßburg und Göttingen. Danach übernahm er eine Professur für Philosophie in Hamburg. Ab 1970 leitete er das Max Planck Institut zur Erforschung der Lebensbedingungen in der wissenschaftlich-technischen Welt. In ihren theoretischen Untersuchungen arbeiteten Habermas und Weizsäcker zumeist nebeneinander her. Ging es dem einen um den Anfang einer Gesellschaftstheorie auf der Grundlage des kommunikativen Handelns, suchte der andere den Aufbau der Physik aus der Struktur von Zeit und Wissen zu verstehen. Leider kam es zwischen den beiden zu keiner Zusammenarbeit an einer gemeinsamen Theorie von Natur und Gesellschaft. Sie diskutierten ihre Ansätze lediglich in den regelmäßig stattfindenden philosophischen Kolloquien des Instituts. Nehmen wir die Gedanken Weizsäckers aus seiner Frage an Habermas auf: Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalpragmatik?
Die Universalpragmatik schließt mit der These von der Doppelstruktur der Rede an die Sprechakttheorie an: Jeder vollständig formulierte Satz kann in einen illokutiven und einen propositionalen Bestandteil zerlegt werden. Für Habermas dient die Illokution der Metakommunikation über den Verwendungssinn des kommunikativen Inhalts, der Proposition. Die Doppelstruktur der Rede mache lediglich eine Selbstbezüglichkeit explizit, die in jedem Sprechakt bereits enthalten sei. Weizsäcker dagegen interpretiert im Rahmen seiner zeitlichen Logik die Doppelstruktur der Rede als eine Verbindung von Vergangenheit und Zukunft: Ich behaupte das formal mögliche Faktum, daß p, als wirkliches Faktum. Propositionen sind mögliche Fakten. Sie können nicht nur behauptet, sondern z.B. auch befohlen werden. Faktizität ist die Präsenz der Vergangenheit; denn das Vergangene vergeht nicht. Die Illokution bezieht sich auf etwas in Zukunft Mögliches, das man als Möglichkeit wird nachweisen können, wenn es etwas Vergangenes sein wird.
Für Habermas folgt der Unterschied zwischen Urteilen und Normen aus den verschiedenen Geltungsansprüchen. Der kognitive Sprachgebrauch erhebt den Geltungsanspruch der Wahrheit von Urteilen. Der interaktive Sprachgebrauch erhebt den Geltungsanspruch der Richtigkeit von Normen. Erhebung und Einlösung der Geltungsansprüche folgen der kognitiven- bzw. der interaktiven Kompetenz der Sprecher. Die Vermögen der kognitiven Kompetenz sind nicht das Thema Habermasens. Hier sind die Rekonstruktionen der Erlanger und Kopenhagener einzubeziehen. Weizsäcker interpretiert die Universalpragmatik mit Begriffen der zeitlichen Logik. Eine Proposition (assertorisches Urteil) ist als ausgesprochenes Faktum immer perfektisch. Eine Illokution dagegen enthält ein in Zukunft einzulösendes Angebot, verweist als verabredete Handlungsmöglichkeit auf einen Handlungsspielraum. Kurz: Die Illokution ist futuristisch, die Proposition perfektisch.
Wie fügt sich nun die Doppelstruktur der Rede in die zeitliche Logik ein? Für Weizsäcker ist zeitliche Logik die Theorie über zeitliche Verhältnisse. Präsentische Rede ist Sprachhandlung, ist Handlungsschema, ist Verhaltensschema, ist Vorgangsschema. D.h. präsentischer Rede liegen Vorgänge zugrunde. Nicht Ereignisse sind primär, sondern Vorgänge. Wiederholbare Vorgänge bilden ein Schema. Weizsäcker hebt drei Prinzipien für Vorgänge hervor: Sie unterfallen einem Schema oder nicht (Ja-Nein-Prinzip). Verneinte Vorgänge sind keine Vorgänge (Prävalenz des Positiven). Vorgänge können zueinander passen (Anpassungsprinzip).
Aller Erfahrung liegen zeitliche Urteile zugrunde, auch der Erfahrungswissenschaft Physik. Erfahrung machen heißt, aus der Vergangenheit für die Zukunft lernen. Die Vergangenheit ist faktisch, die Zukunft möglich. Der Wahrscheinlichkeit geht die Unterscheidung von Faktizität und Möglichkeit voran. Fakten sind diskret, Möglichkeiten kontinuierlich. Wahrscheinlichkeit ist erwartete relative Häufigkeit. Weizsäcker rekonstruiert die Physik als allgemeine Erfahrungswissenschaft. Zentral ist ihm die Quantentheorie. Die allgemeine Quantentheorie ist eine Vorhersagetheorie über empirisch entscheidbare Alternativen: Die binären Alternativen, aus denen die Zustandsräume der Quantentheorie aufgebaut werden können, nennen wir Ur-Alternativen . Das einer Ur-Alternative zugeordnete Subobjekt nennen wir ein Ur. Wenn wir uns an Russell erinnern, können wir Weizsäckers Ansatz als einen logischen Atomismus der Ur-Alternativen bezeichnen. Dieser Ansatz ist fruchtbarer als es zunächst scheinen mag; denn er verzichtet auf Räumlichkeit. Damit entgeht er der Frage nach dem kleinsten Objekt. Die kleinste Alternative dagegen ist trivialerweise eine binäre Alternative. Wer die Hilbertraumstruktur kennt, weiß auch, daß ein Hilbertraum trivialerweise in zweidimensionale Unterräume zerlegbar ist. Der Ansatz ist also mathematisch denkbar einfach. Was bringt er philosophisch und physikalisch?
Weizsäcker folgt einer realistischen Hypothese und nimmt für die Ure die
Geltung der gleichen Invarianzen an, die sich bereits in der Physik bewährt
haben. Aus der Reflexion der Physik kommt er so auf dem Weg eines Kreisgangs
von der Zeit über die Ure zum Raum. Denn die sogenannten
unitären Transformationen eines zweidimensionalen komplexen Zustandsraumes
lassen sich mathematisch auf einen dreidimensionalen reellen Raum abbilden.
Alle Dynamik ist Wechselwirkung. D.h. physikalisch interpretiert stellt der Raum
die Wechselwirkung zwischen den Uren her. Damit folgt ur-theoretisch die
spezielle Relativitätstheorie aus der Quantentheorie. Philosophisch gesehen
hat Weizsäcker den Positivismus der Kopenhagener Interpretation auf die Spitze
getrieben, indem er die Ja-Nein-Entscheidungen beim Messen zur Grundlage seiner
Theorie gemacht hat. Wie sagte bereits Einstein zu Heisenberg: Die Theorie
entscheidet, was beobachtbar ist.
In der Übungsgruppe werdet ihr Gelegenheit haben, die wohl etwas abgehoben
geratenen Ausführungen zu den Philosophien Habermasens, Lorenzens und Weizsäckers
an einfachen Beispielen noch `mal nachzuvollziehen.``
Auf dem Weg in die Mensa wurde Sofie im Nachwirken des Vortrags bewußt, wie weit
sie bereits gekommen war. Zusammenhänge konnte sie sich selber erschließen. Auch
Beispiele fielen ihr ein. Der Zustandsraum der Ure entsprach schlicht dem Raum
eines Zwei-Zustands-Systems. Allerdings dienten die Ure nur der Rekonstruktion.
Es handelte sich nicht um materielle Dinge, sondern lediglich um logische Atome.
An Russell erinnerten sie auch die drei Welten: Sein Verlangen nach Liebe, der Drang
nach Erkenntnis, sein Mitgefühl für die Leiden der Menschheit ...
,,Was machst Du denn nach der Sommerschule?`` hörte sie Alberto fragen.
,,Am liebsten bliebe ich hier``, vernahm sie ihre Antwort.
,,Willst Du Dich als fresh man einschreiben?`` wollte Alberto wissen und
fuhr sogleich fort: ,,Dann hättest Du noch etwas Zeit, um mit nach
New York City
zu kommen. Phaidros und ich sind von der Columbia University
zu einem Workshop über die
Postmoderne eingeladen worden.``
New York City, dachte Sofie, ist bestimmt eine faszinierende Stadt. Warum micht?
Und für alle hörbar, rief sie aus: ,,Wer kommt nächste Woche mit nach
New York?`` Craig wollte `eh wieder an die CU. Für Pieter lag es auf
dem Weg nach Amsterdam. Auch Anja und Ulrich hatten nichts gegen einen
Zwischenstop auf dem Weg nach Europa einzuwenden. Niels und Hilde sagten
ebenfalls zu.
Für den Nachmittag hatten sich Sofie, Hilde und Nell mit Pieter und Niels zur
Vorbereitung ihrer Hausarbeit verabredet.
,,Universalpragmatik, Konstruktivismus und Urtheorie``, begann Pieter
vorwurfsvoll. ,,Mir ist nicht klar geworden, wie die drei Ansätze zu
einer kritischen Theorie verschmelzen sollten. Alberto hat das zwar in Aussicht
gestellt, aber nicht durchgeführt.``
Vielleicht wollte er das Euch überlassen``, erwiderte Niels lächelnd.
,,Dann fangen wir doch gleich damit an``, drängte Nell. ,,Die mit
der Universalpragmatik gesetzten Bezüge scheinen mir jedenfalls reichhaltig
genug, das kommunikative Handeln nicht von vornherein auf Spielmarkenlogik
und subjektlose Erfahrung zu beschränken, sondern die Totalität
der Gesellschaft in den Blick zu bekommen.
,,Mich interessieren besonders die aus Politik und Technik hervorgehenden
Konstruktionen der Wissenschaften``, hob Hilde an. ,,Wie gelangen wir
aus der Rede- und Handwerkspraxis in die Formal- und Realwissenschaften?``
,,Was mir an der Universalpragmatik noch unklar geblieben ist``, begann
Sofie, ,,ist folgendes. In welchem Verhältnis steht das sprachliche Handeln
zum teleologischen, dramaturgischen und normenregulierten Handeln? Beziehen wir
uns nicht beim Sprechen auf eine Welt der Symbole, an die wir den Geltungsanspruch
der Verständlichkeit knüpfen?``
,,Und ist nicht das teleologische Handeln Rahmen allen Handelns?`` fragte
Hilde weiter. ,,Arbeit und Interaktion bzw. Zweckrationalität und
Kommunikation sind doch immer interessengeleitet.``
,,Mir ist zu vage geblieben, was Alberto zu Dialektik und Komplementarität
angedeutet hat``, setzte Pieter an. ,,Im Marxismus bezieht sich Dialektik
zugleich auf Entwicklung und Systematik. In der Entwicklungsperspektive trifft sich
Habermas mit Lorenzen, d.h. mit Hilfe der historisch-faktischen Genese gilt es,
aus den geschichtlichen Spuren des unterdrückten Dialogs das Unterdrückte zu
rekonstruieren. Der systematische Aspekt der Dialektik aber scheint im
Komplementarismus aufzugehen: Wellen und Teilchen, Sensorik und Motorik,
Erleben und Verhalten, Denken und Handeln, Kausalität und
Raum-Zeit-Beschreibung; kurz: Innen- und Außenperspektive sind jeweils
komplementär. Ließe sich vielleicht der Weizsäcker'sche Kreisgang zwischen
der Zeitlogik der Kommunikation und der Kausalität des physikalischen Systems
verbinden mit der Reproduktion der Lebenswelt und der Funktionalität des
sozialen Systems?``
Niels hatte sich eifrig Notizen gemacht. ,,Da haben wir ja reichlich Stoff
für die Diskussion morgen.`` Nach einer Pause legte er eine CD ein. Die
Klänge von Radiohead wirkten sehr entspannend.
Am Abend ging es wieder ins Kino. Der siebte Teil
der zweiten Heimat war an der Reihe.
Beeindruckt machten sich die Schüler auf den Heimweg. ,,Hermann frönt der Kunst, während Clarissa in der Klinik darbt, dazu noch in einer katholischen``, empörte sich Sofie. ,,Diese Frömmelei ist unerträglich! Und dann muß sie sich auch noch als Mörderin beschimpfen lassen! Dabei kommt es bei etwa 40% aller Schwangerschaften zu einem unbemerkten Abort'', meinte Sofie sich zu erinnern. ,,Die Entscheidung, ein Kind zu bekommen, sollte man schon den Frauen überlassen. Ich werde auf jeden Fall weiter die Pille nehmen``, beschloß sie bestimmt ihren Unmut.