Die Zweite Heimat
WEIHNACHTSWÖLFE. Clarissa, 1963.
Clarissa kämpft mit den Herbstböhen um ihren Cellokasten. Auf der Treppe
zur Musikhochschule sind aus dem Off ihre Gedanken zu hören:
Drei Jahre und drei Monate waren vergangen, seit ich die bayrische Kreisstadt
verlassen hatte, um in München Musik zu studieren ...
Sofie mußte daran denken, schon ein Jahr nicht mehr in ihrer ersten Heimat
gewesen zu sein ... Nach dem Abort plagte Clarissa das schlechte Gewissen.
Überall vermeinte sie glückliche Mütter mit ihren Kindern zu sehen.
Entschieden ging sie dagegen an:
Ich wollte nicht dieses Frauenleben! Ich wollte selbst etwas bewegen und nicht
immer nur bewegt werden! Ich wollte - ich wollte - ich war ganz voll vor
lauter Wollen!
Als Clarissa in ihrem Zimmer ankommt, plagt sie Schüttelfrost. Sie kann sich
nur noch aufs Bett fallen lassen. Über dem Bett kommt das Plakat von Hermanns
Spuren-Konzert ins Bild. Aus dem Off Hermanns Stimme:
Wochenlang hatte ich mich um Clarissa bemüht. Sie, nur sie allein sollte den
Cellopart in meinem Spuren-Konzert spielen. Ich hatte davon geträumt, mit ihr
gemeinsam auf der Bühne zu stehen.
Hermann dachte stets nur an sich selbst, empörte sich Sofie. Die Kunst war
ihm näher als die Liebe. Zumindest wollte er seine Gefühle in Musik
kleiden.
... So blieb das Streichquartett für ein abwesendes Cello bewußt
unfertig und bösartig im Klang.
Clarissa ist unterdessen in ein katholisches Krankenhaus eingeliefert worden.
Diagnose: septischer abortus criminalis. Ihre Liebhaber, Volker und Jean-Marie,
haben Angst um sie und machen sich Vorwürfe.
Nach dem Konzert wollen sich die Freunde alle in der Villa Cerphal treffen.
Aber keiner kommt. So bleiben Hermann und Schnüßchen, eine alte
Schulfreundin, allein.
Kein Reigen der Paare ... Wenn sie nur weniger redeten ...
Hermann und Schnüßchen haben sich unterdessen geliebt. Nackt und
erschöpft liegt Hermann zwischen ihren Beinen ...
Du ahnst gar nicht, was diese intellektuellen Frauen mit einem anrichten. Ich hasse
sie alle, die ganzen Weiber in der Hochschule.
Clarissa wird von ihrer Mutter besucht und als Mörderin beschimpft. Das
reicht ihr. Kurz entschlossen verläßt sie das Krankenzimmer und
tritt in den heiligen Abend hinaus. Ungewollt gelangt sie in den Garten der
Vorstadt-Villa. Hermann ist allein dort. Nur schwer finden sie zueinander.
Ach Hermann, was ist nur mit uns beiden passiert? Immer sind wir nur gegen alles,
und dann tun wir's trotzdem.
Hermann hat beschlossen, Schnüßchen zu heiraten.
Am nächsten Tag singt Clarissa ein Lied, das Hermann für sie
geschrieben hat, das Wölfelied:
Der eine Wolf
lag neben dem anderen
und sie nagten sich
nicht
und sie wühlten
nicht ineinander
und liebten sich
nicht
und sie hatten sich
nicht
und sie waren zärtlich zueinander,
die Wölfe.
Traurig und bewegt blieben alle noch eine Weile sitzen. Die Intellektuellen
tun sich schwer mit den Wölfen, dachte Hesse in
Sofie.
DIE HOCHZEIT. Schnüßchen, 1964