,,Liebe ist eine Erfindung der Romantiker``, drangen Pieters Worte
von fern in ihr Bewußtsein. Sie drehte sich zur Seite und blinzelte ins
Zimmer. Pieter hatte bereits den Tisch gedeckt. Erwartungsvoll schaute er
sie an. ,,Bist Du schon lange hier?`` fragte sie mit gespielter
Empörung.
,,Nein, nein``, erwiderte er verlegen. ,,Du lagst so friedlich
und anmutig im Kissen und redetest von der Flucht vor der Liebe ... Am liebsten
hätte ich Dich wachgeküßt.`` Seine Kühnheit verblüffte ihn selbst.
,,Märchen sind `was für Romantiker``, entgegnete Sofie ironisch.
Mit listigem Lächeln sah sie ihn an. Das erste Mal mit Niels kam ihr in den
Sinn. Sie erhob sich, rieb ihre Augen, gähnte gedehnt und reckte sich mit
Behagen. Aus dem Bad zurück, setzte sie sich, nur mit ihrem Nacht-T-Shirt
bekleidet, zu ihm an den Tisch. Wieder mußte sie an das Frühstück bei
DESY denken. Die kühle Morgenfrische vor dem weitgeöffneten Fenster
ließ sie leicht frösteln. Provozierend sah sie Pieter an. ,,Du warst
wohl noch nie auf der Flucht vor der Liebe?`` Sie schüttete sich
Müsli auf den Teller und goß Milch hinzu.
Pieter wußte nicht, was er sagen sollte. Er schaute sie an. Wie süß sie
doch war! Warum hatte er nur mit diesem unpassenden Satz begonnen? Er
seufzte und sagte langsam, indem er Juans Betonung nachahmte:
,,Mich treibt die Sehnsucht um.``
,,Sehnsucht``, wiederholte Sofie gedehnt. ,,Wonach sehnst Du Dich
denn?``
Schon wieder geriet er in Zugzwang. Er konnte ihr doch nicht sagen, daß er
sie am liebsten aufs Bett werfen und über sie herfallen wollte. Amüsiert
schaute sie ihn an. Bestimmt hatte sie ihn durchschaut. Während er nach
einem passenden Gedanken fahndete, erhob sie sich, um eine CD einzulegen.
Um den Blicken unter ihr Hemdchen zu entgehen, zwang er sich, aus dem Fenster
über die Bucht zu schauen. Dennoch wurde ihm heiß, seine Hose gespannt ...
Der sanfte Rhythmus und das verhaltene Saxophon aus
Visible World erfüllte den Raum ... Ein Satz aus dem
kleinen Prinzen fiel ihm ein:
Das Wesentliche ist unsichtbar.``
Sofie hatte sich wieder hingesetzt und schaute ihn geradewegs an. ,,So, so,
der Philosoph sehnt sich nach dem Unsichtbaren. Mir gefällt, was ich
sehe.``
Fast hätte er sich verschluckt. Sie hatte ihm offensichtlich ein Kompliment
gemacht. Über Trommelschlägen perrlten Klavierakkorde und Saxophonphrasen.
Er tat einfach so, als ob er zuhörte ...
Sofie griff zum Buch Sade's: Jede moralische Wirkung entspringt
physischen Ursachen, so wie der Trommelton dem Wirbelschlag ... Die Trommel
muß einen Ton von sich geben, wenn sie geschlagen wird. Es ist eine Torheit,
nicht das zu tun, was gut dünkt, und das zu bereuen, was wir getan
haben.``
Sie hatte ihm wieder eine Brücke gebaut. Er sah sie an. Unterdessen hatte sie
eine Orange geschält und schmatzend an ihr zu saugen begonnen. ,,Wenn
ich nicht frei wäre``, begann er achtsam, ,,selbst zu entscheiden,
wäre ich schon längst über Dich hergefallen.`` Jetzt war es `raus.
Noch kauend, lachte Sofie hell auf. ,,Rotkäppchen und der böse Wolf:
Indem der Mann das Mädchen zur Frau macht, wird er zum Menschen, hat mir ein
Freund `mal das Märchen erläutert.``
,,Nachdem er Dich vergewaltigt hatte?`` entfuhr es Pieter.
Sofie blickte ihn fröhlich an und griff zum Buch: Die Ursache davon,
daß man Reue nach einer schlechten Handlung empfindet, liegt darin, meine
teure Juliette, daß wir glauben, frei zu handeln ... Die Freihet des Handelns
ist aber ein Wahn!``
,,Das ist doch finsterster Mechanizismus des 18. Jahrhunderts``,
widersprach Pieter und griff zur Dialektik der Aufklärung: Juliette
verkörpert die Lust, Zivilisation mit ihren eigenen Waffen zu
schlagen ... Sie hat die Wissenschaft zum Credo. Scheußlich ist ihr jede
Verehrung, deren Rationalität nicht zu erweisen ist ...``
Und Sofie zitierte ergänzend Sade: Einen Augenblick, sagte sie ganz
erhitzt, einen Augenblick meine Freundinnen, bringen wir eine wenig
Ordnung in unsere Vergnügungen.
Man genießt nur, wenn alles geregelt ist.``
,,Da haben wir einen wesentlichen Punkt getroffen``, ereiferte sich
Pieter, froh darüber, der schlüpfrigen Situation entronnen zu sein.
,,Du hältst Dich also im Gegensatz zu Sade für frei``, begann Sofie harmlos. Sie nahm ihn unverwandt ins Visier. Indianische Rhythmen unterlegten ihren Vorstoß. ,,Vielleicht bist Du einfach nur schüchtern und kannst gar nicht anders.`` Sie fischte einen kleinen Zettel aus dem Buch. ,,Bei Odysseus gerät Mythologie zur Aufklärung. Juliette legt in der Aufklärung wieder die Mythologie frei. Odysseus verweigert sich den Verlockungen der Sirenen, Juliette gibt sich ihnen hin.''
Eine weiche Frauenstimme flüsterte indianische Worte. Und wieder setzte der
Trommelrhythmus ein. Die Spannung entludt sich in einem Schrei ...
Nachdem die beiden ihr Selbststudium beendet hatten, machten sie sich auf
den Weg ins Filmtheater.
Das studenlange Sitzen motivierte Sofie und Pieter zu einem Spaziergang
über den Campus. ,,Wie schön sich Kunst und Leben verbinden
lassen``, begann Sofie. ,,Hermann vertonte ein Gedicht Helgas und
Evelyne trug es vor. Der Musikerin Clarissa komponierte Hermann seine
Zuneigung ... `` Sie dachte eine Weile nach. Pieter legte ihr sanft
seinen Arm um die Schulter. ,,Was kam denn nach der Rationalisierung der
Musik durch die Zwölftontechnik?`` fragte sie drängend.
,,Die serielle Musik
``,
erwiderte Pieter. Nicht mehr nur die Tonhöhe, sondern auch Rhythmus, Stärke,
Klang und Dauer wurden dem Reihenprinzip
unterworfen. In
Analogie zur Physik wurden die Elemente einer Komposition als Parameter
bezeichnet. Adorno begrüßte in seiner Philosophie der neuen Musik
die weitergehende rationale Durchorganisation der Werke. Er hob
hervor, daß die neue Musik lediglich ihrem eigenen Anspruch verpflichtet
bleibe, ohne auf die Wirkung zu achten.``
,,Das ist ja interessant``, warf Sofie ein. ,,Damit wird Musik
genauso selbstgenügsam, nur noch internen intellektuellen Kriterien
verhaftet, wie die analytische Philosophie. Den Dialektikern sollte es
aber auch um die Praxis gehen, um die Veränderung der Gesellschaft zum
Richtigen.``
,,Der Immanenz ist die Transzendenz immanent``, zitierte Pieter.
,,Gerade indem sich Kunst und Wissenschaft nur ihren inneren Standards
verpflichten, sind sie der Schönheit und Wahrheit auf der Spur, um der
Gesellschaft Kriterien zur Veränderung zu liefern.``
,,Du meinst, die Kritik an der Tradition richtet sich gleichermaßen
gegen klassische Kunst und Wissenschaft?``
,,Jedenfalls geht es den Dialektikern nicht bloß um
Nützlichkeitserwägungen wie im Pragmatismus oder um das bloße Tilgen
von Scheinproblemen wie im Positivismus. Ihr Praxisbezug richtet sich auf
die vernünftige Gestaltung des Ganzen.``
Die beiden gingen noch eine Weile sinnend ihres Weges. Vor dem Schlafengehen begnügte Sofie sich mit einem Kuß und zog sich auf ihr Zimmer zurück. Die vernünftige Gestaltung des Ganzen, wiederholte sie vor dem Einschlafen. Wie sollte das denn möglich sein? Die Kapitalisierung der Gesellschaft ist doch bereits total! Was keinen Marktwert hat, geht unter. Lediglich im Bildungsbereich bleiben Nischen für Kunst und Wissenschaft. Aus ihnen müßten am ehesten Impulse zur Gesellschaftsveränderung zu erwarten sein. Aber wie sollten die sich gegen die Übermacht technischer Innovationen behaupten können? Indem sie sich ebenfalls der Technik bedienten? Aber zu was ist Musik im Techno degeneriert? Und die Redlichkeit wissenschaftlicher Diskussion ist bei den auf Ruhm und Macht versessenen Politikern noch längst nicht angekommen. Kunst und Philosophie statt Technik und Politik! Das Motto im Sinn glitt sie in einen unruhigen Schlaf.
Während Hilde sich bereits hingelegt hatte, hielt es Niels noch am Rechner.
Er hatte eine Mail aus Paris bekommen.
Darin berichtete ein Kommilitone, daß Experimente
zur Klärung des Schrödinger-Paradoxons bei der Überlagerung
mikro- und makrophysikalischer Zustände in Vorbereitung seien. In
Abhängigkeit eines steuerbaren Parameters sollten die Mikrozustände
bis hin zu Makroeffekten vervielfältigt werden können. Was bei Licht seit
langem bekannt war, mußte sich doch auch mit Materiewellen bewerkstelligen
lassen.
Unterdessen gewahrte Sofie sich auf den Wogen einer
Führungswelle. Ihr
Zustand schien sich zahlreich zu verschränken ...
Das behagliche Seufzen Hildes ließ Niels aufmerken. Er schaltete den
Rechner aus und kuschelte sich an sie.
Nachdem Chris sein Girlie genossen hatte, sann er über ihren Zauber nach.
Wenn sie sich mit schweren Stiefeln, Minirock und engem Unterhemd vor ihm
auf dem Bett drapierte, geriet er außer sich. Es war, als ob er in einen
dualen Zustand umschaltete. Janet schien es ähnlich zu erleben. Sie mochte
es besonders, in seiner geschlitzten Jeans zu nesteln und ihm
Gänsehaut-Schauer über die Haut zu jagen. Das Bild vor Augen, wie er
ihr behutsam den Rock hochschiebend den Po freilegte und in die
umwachsene Feuchte tauchte, erregte ihn aufs Neue ...
Und wie erging es Pieter? Er lag noch wach und spielte mit dem Gedanken ... Aber
das kam für ihn nicht in Frage. Nach Mitternacht fiel er unvermittelt in
Tiefschlaf.
Vor Sofies innerem Auge tanzte ein Sextett unscharfer Figuren. Angestrengt bemühte sie sich um Klarheit der Formen. Waren es die Quarks bei ihrem Materiespiel? Oder der Benzolring im Spiel der Aromaten? Das konnte doch nicht sein ... es handelte sich um einen Reigen dreier Paare, verschränkt in einem Liebesspiel ...
Die nächste Sitzung leitete Niels mit der Rückkehr des Instituts nach Frankfurt ein: ,,Adorno kam Ende 1949 nach Europa; Horkheimer weilte seit 1950 wieder in Deutschland. Gefördert vom American Jewish Committee hatten die beiden mehrere Studien über Vorurteile ausgearbeitet. Ihre ersten Bände waren 1950 bereits erschienen. In der Untersuchung zur Authoritarian Personality ging es ihnen um die Entwicklung verschiedener Skalen zur Beurteilung des faschistischen Charakters. Im einzelnen um eine
,,Wenn Technik allein durch Geld und Macht bestimmt und nicht als Mittel auf
dem Weg zu einer besseren Gesellschaft eingesetzt wird``, ergänzte Pieter,
,,droht Faschismus.``
,,Der Werteverfall ist das Problem``, wandte Franz ein.
,,Orientierungslosigkeit oder Zwangsherrschaft. Eine Rückbindung an die
humanistische Tradition ist herzustellen.``
,,Schauen wir zu, wie es mit den Frankfurtern weiterging``, fuhr Niels fort. ,,Im Zuge des Wiederaufbaus waren die bürgerlich-reaktionären Eliten der Vorkriegszeit in Deutschland wieder fest im Sattel. Trotz aller Entnazifizierung setzte sich unter dem Einfluß der Amerikaner der Antikommunismus als die herrschende Ideologie der 50er Jahre durch. Die Sozialdemokraten wandelten sich mit ihrem Godesberger Programm von der Arbeiterpartei zur bürgerlichen Reformpartei. Marshallplan und Soziale Marktwirtschaft bescherten den Westdeutschen einen ungeahnten wirtschaftlichen Aufschwung. Faschismus und Holocaust schienen vergessen. Linke Politik und kritische Theorie hatten es schwer, unter den Bedingungen der Restauration Fuß zu fassen. So nimmt es nicht wunder, daß in den 60ern die Auseinandersetzung zwischen kritischer und traditioneller Theorie wieder auflebte. Im Positivismusstreit standen sich philosophische Dialektiker und wissenschaftliche Positivisten gegenüber. Hauptpunkte des Streits waren die von Adorno sogenannte Spielmarkenlogik und subjektlose Erfahrung der Positivisten sowie deren Kritik an der Totalität, auf die Gesellschaftstheorie zielen müsse. Sozialtechnologie oder Gesellschaftsveränderung standen zur Debatte.
In den 60ern lüfteten die
Studenten
unter den Talaren den Muff von Tausend Jahren. Anfang der 70er gewann
Willy Brandt die Wahlen sogar mit dem Slogan
mehr Demokratie wagen
. Der Club of Rome veröffentlichte 1972 seine viel beachtete Studie
zu den Grenzen des Wachstums
. Gesellschaftlicher
Aufbruch und naturphilosophische Reflexion fanden zusammen im
Max Planck Institut zur Erforschung der Lebensbedingungen in der
wissenschaftlich-technischen Welt. Das Institut wurde geleitet von dem Naturphilosophen
Carl Friedrich von Weiszäcker und dem Sozialphilosophen
Jürgen Habermas. Damit waren Kopenhagener und Frankfurter Schule unter
einem Dach vereint.
Welche Anknüpfungspunkte könnte es zwischen
beiden Schulen geben? Ich möchte
stichwortartig die wichtigsten in Erinnerung rufen:
,,Bevor wir uns der Kopenhagener Schule zuwenden, fasse ich noch `mal die Hauptpunkte der Frankfurter Kritik an Neopositivismus und Sprachphilosophie zusammen:
,,Das sind ja hehre Ziele``, begann Franz, ,,aber wie lassen sie sich
denn mit den demokratischen Prinzipien des bürgerlichen Rechtsstaates
vereinbaren?``
,,Um deren Wandel geht es doch gerade``, warf Nell ein. ,,Eine Politik der kleinen Schritte, die zum bloßen Durchwursteln degeneriert, führt uns unweigerlich ins sozialökologische Chaos.``
,,Nahmen wir die Zukunftsfähigkeit der Autogesellschaft als Beispiel``,
vermittelte Niels. ,,Daß sechs Milliarden Menschen weltweit nicht in gleicher
Weise Auto fahren können wie Europäer und Nordamerikaner ist wohl offensichtlich.
Schon gegenwärtig haben wir jährlich weltweit über 800000 Verkehrstote zu
beklagen. Eingedenk der Dunkelziffer dürften es über eine Million sein. Dazu kommt
noch die mindestens zehnfache Zahl mehr oder minder schwer Verletzter. Und das sind
nur die direkten Folgen des Autowahns. Zu den vielen mittelbaren Auswirkungen zählt
auch das Waldsterben und der Treibhauseffekt. Der automobile Individualverkehr ist die
mit Abstand gefährlichste Ziviltechnik. Weitaus schlimmer als z.B. die Kernkrafttechnik.
Ich denke, die Unvernunft des Autowahns ist offensichtlich. Wie konnte es dazu kommen
und warum tut niemand etwas dagegen? Die sogenannten Entwicklungsländer eifern den
Industrienationen bloß nach und werden das Problem zukünftig wesentlich
verschärfen.``
,,Die Dialektik der Aufklärung trifft wohl eher auf die kritische Theorie
denn auf die moderne Physik zu``, gab Franz zu bedenken.
,,Bevor wir uns der Kopenhagener Schule zuwenden, fasse ich noch `mal die Hauptpunkte der Frankfurter Kritik an Neopositivismus und Sprachphilosophie zusammen:
,,Das sind ja hehre Ziele``, begann Franz, ,,aber wie lassen sie sich
denn mit den demokratischen Prinzipien des bürgerlichen Rechtsstaates
vereinbaren?``
,,Um deren Wandel geht es doch gerade``, warf Nell ein. ,,Eine Politik der kleinen Schritte, die zum bloßen Durchwursteln degeneriert, führt uns unweigerlich ins sozialökologische Chaos.``
,,Nehmen wir die Zukunftsfähigkeit der Autogesellschaft als Beispiel``,
vermittelte Niels. ,,Daß sechs Milliarden Menschen weltweit nicht in gleicher
Weise Auto fahren können wie Europäer und Nordamerikaner ist wohl offensichtlich.
Schon gegenwärtig haben wir jährlich weltweit über 800000 Verkehrstote zu
beklagen. Eingedenk der Dunkelziffer dürften es über eine Million sein. Dazu kommt
noch die mindestens zehnfache Zahl mehr oder minder schwer Verletzter. Und das sind
nur die direkten Folgen des Autowahns. Zu den vielen mittelbaren Auswirkungen zählt
auch das Waldsterben und der Treibhauseffekt. Der automobile Individualverkehr ist die
mit Abstand gefährlichste Ziviltechnik. Weitaus schlimmer als z.B. die Kernkrafttechnik.
Ich denke, die Unvernunft des Autowahns ist offensichtlich. Wie konnte es dazu kommen
und warum tut niemand etwas dagegen? Die sogenannten Entwicklungsländer eifern den
Industrienationen bloß nach und werden das Problem zukünftig wesentlich
verschärfen.``
,,Die Unvernunft der Autogesellschaft sei `mal dahingestellt``, wandte Franz
ein. ,,Das Auto ist die rationalste Lösung eines objektiven Verkehrsproblems. Dem
Einzelnen befriedigt es das Bedürfnis, jederzeit an jeden Ort gelangen zu können; sei
es zum Vergnügen oder bloßem Transport.``
,,Du hast sehr schön zugespitzt, worum es den kritischen Theoretikern
geht``, hob Niels an. ,,Das Verkehrsproblem ist weder objektiv, noch ist
eine Lösung ausschließlich individuell möglich. Damit wird Deine Rationalität zur
Ideologie. Am Anfang der Automobiltechnik stand in der Tat das von Dir hervorgehobene
individuelle Bedürfnis. Aber warum sollte man es zur gesellschaftlichen Maxime
erheben? Ins Grüne oder zur Arbeit komme ich auch mit der Bahn. Und im Nahbereich
kann ich Radfahren oder zu Fuß gehen. Unter den gegebenen technischen Bedingungen
halte ich eine vernünftig organisierte Gesellschaft für möglich, die ohne
automobilen Individualverkehr auskommt ... ``
,,Das ist doch technisch verbrämter Kollektivismus! Wenn ich Lust aufs
Autofahren habe, will ich losfahren; wann und wohin auch immer!`` ereiferte sich
Franz.
,,Also Willkür statt Vernunft?`` fragte Niels ironisch. ,,Deine
Haltung ist nicht wissenschaftlich, sondern bloß kindisch. Wie drückte es
Postman in einem Buchtitel aus: Wir amüsieren uns zu Tode.``
,,Warum sollen Wissenschaft und Technik nicht auch Spaß machen können?``
wandte Franz ein.
,,Weil sie inzwischen zu einer globalen Bedrohung geworden sind. Sie stellen uns
zunehmend vor Probleme, die wir ohne sie gar nicht hätten``, spitzte Niels zu.
,,Wie sich Freiheit und Vernunft in Einklang bringen lassen``, meldete sich ein Schüler zu Wort, ,,zeigt doch sehr schön das Internet. Mein Motto lautet: Informationsgesellschaft statt Autogesellschaft !``
,,Wie sich Positivismus und Willkür paaren``, begann Pieter,
,,hat Franz uns in entlarvender
Offenheit vorgeführt. Die aufs Ganze zielende, an vernünftige Zwecke orientierte
Kritik bleibt Aufgabe der Sozialphilosophie. Nur in Teilbereichen nützliche Mittel
können verabsolutiert ins Chaos führen. Wenngleich ich die Informationsgesellschaft
für zukunftsfähiger als die Autogesellschaft halte, hat sie sich dennoch der
dialektischen Kritik zu stellen. Auch beim Informationismus könnte es sich um eine
neue Ideologie handeln.``
,,Daran werden wir in Verbindung mit der naturphilosopischen Kritik an der
klassischen Physik anzuknüpfen haben. Mehr darüber später. Jetzt wünsche ich
guten Appetit.`` Mit diesen Worten löste Niels die Sitzung auf.
Am Nachmittag begann er mit der Behandlung der Kopenhagener Schule. ,,Kommen wir zu den Gemeinsamkeiten und Unterschieden der Frankfurter und Kopenhagener Kritik an der traditionellen Theorie bzw. klassischen Physik. Nach dem Erfolg des Bohr'schen Atommodells entstand in Kopenhagen die Initiative zur Gründung eines neuen physikalischen Instituts an der Universität. Bohr war 1916 auf den neu geschaffenen Lehrstuhl für theoretische Physik berufen worden. Mit der Einweihung des Instituts für theoretische Physik im März 1921 wurde er dessen Direktor. Er blieb es bis zu seinem Tod im November 1962. Das später sogenannte Niels Bohr Institut (NBI) wurde schnell zum internationalen Zentrum für Quantenforschungen.
Nach der Erklärung des periodischen Systems der Elemente aus den Bohr'schen Quantenpostulaten und der Entwicklung der Quantenmechanik wurde mit der sogenannten Kopenhagener Interpretation ein erster theoretischer Abschluß der Quantentheorie erreicht. Die aus intensiven Diskussionen, insbesondere zwischen Bohr und Heisenberg, hervorgegangene Kopenhagener Interpretation (KI) kann in fünf Hauptpunkte zusammengefaßt werden:
,,Frei nach Horkheimer ließe sich ergänzen``, knüpfte Hilde an: ,,Es gibt nun ein menschliches Verhalten, das die Natur selbst zu seinem Gegenstand hat. Dieses Verhalten wird im folgenden als das ,,kritische`` bezeichnet. Das Wort wird hier weniger im Sinn der idealistischen Kritik der reinen Vernunft als in dem der komplementären Kritik der Quantentheorie verstanden. Es bezeichnet eine wesentliche Eigenschaft der komplementären Theorie der Natur. Folgende Besonderheiten sind hervorzuheben:
,,Das sind doch bloß Analogien``, unterbrach Franz Hilde in ihrem Eifer. ,,Genauso gut könnte ich die Quantenmechanik mit traditioneller Theorie identifizieren.``
,,Wenn Du den Quantenformalismus meinst``, vermittelte Niels, ,,magst Du
recht haben. Die kritische Theorie der Kopenhagener aber ist sehr viel mehr. Sehen wir
zu, wie weit die Analogien reichen ... ``
,,Bei der Positivismus-Kritik der Frankfurter hörte die Gemeinsamkeit mit den
Kopenhagenern bereits auf``, warf eine Schülerin ein.
,,Ist denn mit Positivismus bei Frankfurtern und Kopenhagenern überhaupt dasselbe
gemeint?`` fragte Sofie.
,,Wohl kaum``, nahm Hilde die Frage auf. ,,KI1 richtet sich gegen den
naiven Abbild-Realismus der klassischen Physik. Geht es den Kopenhagenern um die
Durchdringung von Naturphilosophie und Physik; kommt es den Frankfurtern auf die
Durchdringung von Sozialphilosophie und Soziologie an. FI1 könnte lauten: Die
Gesellschaftstheorie bezieht sich auf das individuelle Gesellschaftsgeschehen, wie es
sich zeigt, wenn es mit realisierbaren Erhebungsverfahren untersucht wird ... ``
,,Kann man denn einfach lebende Organismen und bewegte Atome
vergleichen?`` zweifelte Sofie.
,,In der Naturgeschichte haben sich Selbstreproduktion und Stoffwechsel auf vielen Ebenen ausdifferenziert. Atome und Individuen bilden Ganzheiten. Je genauer man sie untersucht, desto mehr verändert man sie. Objektivität ist nur mit Unbestimmtheit erkaufbar. Insofern könnte aus KI3 zwanglos FI3 werden.`` Hilde dachte einen Moment nach. ,,Auch KI4 könnte als FI4 übernommen werden: Persönlichkeitszustände individueller Organismen müssen mit Begriffen und Verfahren des Alltags ausdrückbar und erhebbar sein. Die Individualität und Totalität der Persönlichkeitszustände haben eine Dialektik und Unbestimmtheit in den Begriffen und Verfahren des Alltags zur Folge.``
Ganz in ihrem Element fuhr sie fort: ,,Die Übertragbarkeit von KI5 halte ich für
offensichtlich. Unklar bleibt mir lediglich KI2 in der Bedeutung für eine kritische
Theorie der Gesellschaft.``
,,Damit hast Du die kritischen Theorien der Frankfurter und Kopenhagener sehr
schön verglichen``, begann Pieter. ,,Als wesentlicher Unterschied bleibt aber
die Erlebnisfähigkeit der Persönlichkeitszustände. In Mitmenschen können wir uns
einfühlen, sprachlich können wir ihre Handlungsperspektiven übernehmen ... ``
,,In Atome können wir uns hinein denken. Physikalisch können wir ihre
Wechselwirkungsmöglichkeiten in Erfahrung bringen``, drängte es Hilde zur Antwort.
Sie hielt kurz inne. ,,Können wir wirklich fühlen wie ein anderer Mensch? Oder
erinnern wir lediglich unser Gefühl in einer ähnlichen Situation? Erinnerte Gefühle
sind aber bloß noch Gedanken. Und liefert nicht die Einnahme einer Handlungsperspektive
auch die Abschätzung von Handlungsmöglichkeiten?``
,,Die Ähnlichkeit des Fühlens folgt aus der Ähnlichkeit der menschlichen
Organismen``, fuhr Pieter fort. ,,Simultangefühle der Furcht oder Freude bei
gemeinsamen Erlebnissen ... ``
,,... wie die Freude von Fußballfans beim Sieg ihrer Mannschaft oder der Haß von
Religionsverrückten während der Propaganda gegen Andersgläubige``, warf Sofie ein
und ergänzte: ,,Zwischen den Geschlechtern gibt es aber im Fühlen mehr Unterschiede
als im Denken ... ``
,,Wir kommen vom Thema ab``, unterbrach Niels. ,,Tatsache ist, daß wir in
der Soziologie über keinen Formalismus verfügen und die Natur nicht als
Ganzes zum Richtigen hin entwickeln können.``
,,Also diese Unterschiede``, begann Franz, ,,daß Gesellschaft nicht
formalisierbar sei und Natur nicht vernünftig, scheinen mir nicht so gravierend wie Du
sie darstellst. Solange wir den Menschen Freiraum lassen, folgen sie ihrer inneren
Natur und die Gesellschaft bleibt roh und naturwüchsig. Bringen wir die Natur
andererseits unter Zwangsbedingungen physikalischer Experimente, äußert sie sich
lediglich im Rahmen unserer Formalismen.``
Verblüfft sah Niels Franz an: ,,Ich wußte gar nicht, daß in Dir ein Dialektiker
schlummert. Über die Rolle der Technik als Zwangsbedingung in Natur und Gesellschaft
werden wir noch zu sprechen haben. Ebenso über Wertfreiheit und Normativität.``
,,Wie könnte denn eine vereinigte Natur- und Sozialphilosophie
aussehen?`` fragte Sofie und versuchte sich sogleich selbst an einer
Antwort: ,,Atome und Organismen haben keine festen Eigenschaften, sondern
nehmen je nach den Zwangsbedingungen verschiedene Zustände ein. Mal zeigen sich
die Atome als Ladungswolke, mal als Welle, mal als Teilchen. Bei den Menschen ist
es ähnlich. Meist passen sie sich ihrer Umgebung an. In der Bahn sind sie
Fahrgäste, in der Uni Studierende, in der Firma Angestellte. Werden sie erschreckt,
bekommen sie es mit der Angst zu tun, schenkt man ihnen was Schönes, freuen sie sich.
Alle Zustände können sich überlagern und unterliegen einer
Wahrscheinlichkeitsverteilung ... ``
,,Das sind doch kategoriale Mißgriffe``, empörte sich Pieter
erwartungsgemäß. ,,Du wirfst Rollenhandeln, Affektverhalten und physikalische
Bewegungen durcheinander.``
,,Und wie lautet die Schrödingergleichung der Soziologie?`` fragte ein
Schüler ironisch.
,,Die Frage hat Franz gerade beantwortet``, meldete Hilde sich zu Wort.
,,Warum sollen die verschiedenen Entwicklungsniveaus keine Gemeisamkeiten
haben? Schließlich sind sie auseinander hervorgegangen. Unsere Gefühle stellen
z.B. eine Gewichtsfunktion dar für unser Denken unter Unsicherheit. Das habe ich
in einem Buch über Descartes Irrtum
gelesen. Dort stand auch, daß
Menschen zu Sozialfällen wurden, bei denen durch eine Hirnerkrankung oder
Verletzung keine Gefühlsgewichtung mehr möglich war. Da sie kaum noch
Entscheidungen treffen konnten, vielmehr ewig zauderten, kamen sie mit den
alltäglichsten Verrichtungen nicht mehr zurande. Könnten nicht sogar auf der
molekularen Ebene der Hirnphysiologie Quantenkohärenzen für eine direkte Kopplung
von Mikro- und Makroniveau sorgen?``
,,Roger Penrose gibt in seinem Buch Schatten des Geistes Hinweise darauf``, entgegnete Niels und ließ die Sitzung ausklingen. ,,Am Montag wird Alberto aus Sofies Welt einen Übersichtsvortrag zu den philosophischen Perspektiven der Sozial- und Naturphilosophie halten. Zur Vorbereitung solltet ihr euch morgen weitere Gedanken zur Fortführung der Sprach-, Gesellschafts- und Naturkritik in Philosophie, Soziologie und Physik machen. Ich verweise auf unsere Anknüpfungspunkte. Insbesondere solltet ihr folgenden Fragen nachgehen:
Sofie, Hilde, Niels, Pieter und Nell verabredeten sich für den nächsten Tag, um mit der Ausarbeitung ihrer Perspektiven beginnen zu können. Am Abend stand eine weitere Folge der zweiten Heimat auf dem Programm.