Zur Arbeitsgruppe hatten sich noch Chris, Janet und Craig gesellt. Alle waren
früh aufgestanden, um einen Ausflug nach San Francisco
zu machen. Heute sollte es nach Fort Point gehen.
Übernachten konnten sie in der Jugendherberge Fort Mason. Nell hatte ein
Mehrbettzimmer reserviert und Chris vorsorglich zwei weitere Folgen der Zweiten
Heimat dabei. Sonntag abend trat
Dylan
auch in der Music Hall auf. Da Alberto
seinen Vortrag im WWW abgelegt hatte, war die Rückkehr nach Berkeley erst am
Montag vorgesehen.
Wie schön, wenn man Arbeit und Freizeit verbinden kann, dachte Sofie. Da der
Minibus dies'mal einer anderen Gruppe zustand, fuhren alle mit BART
in die Market St. Mit der Cable Car
ging es weiter nach Fisherman's Wharf. Die
Bucht lag noch im fahlen Dunst dünnen Nebels. Erste Strahlen der Morgensonne
legten einen Lichtfächer um Alcatraz. An der Küste entlang machten sich die
Schüler auf nach Westen zum Goldenen Tor. Als sie am Jachthafen entlang schlenderten,
mußte Sofie an ihre Bootsfahrten denken. Wie sie zur Akademie gelangten,
im Sogne-Fjord ins Unwetter gerieten, auf Sylt in den Dünen tollten, die Elbe
heraufschipperten und über die Havel segelten. Sie freute sich darauf, am
Montag Alberto wiederzusehen.
,,Vielleicht sollten wir `mal wieder `ne Bootsfahrt machen``, erriet Hilde
ihre Gedanken. Schmunzelnd sahen sie sich an. Wohin sie uns wohl führen würde,
dachte Sofie. Eine Akademie gab es auch hier. Im Park des
Palace of Fine Arts
wollten sie ihre erste Rast einlegen.
Beschattet von antiken Säulen ließen sich die Schüler nieder. Sofie legte
sich flach auf den Rücken und schaute in die Weite des blauen Himmels.
Im hellen Licht des Tages sind die Sterne unsichtbar, dachte sie. Es
bedarf der Dunkelheit, um sie hervorleuchten zu sehen. So ist es auch
mit der Aufklärung. In ihrem Licht verschwinden die verborgenen Dinge.
,,Das ist es!`` rief sie aus und setzte sich auf. Alle schauten
sie erwartungsvoll an. ,,Bohrs und Horkheimers Sprachkritik zielte auf
das Freilegen des Verborgenen. Sie suchten nach einer Sprache des
Einzelnen, Individuellen; seien es nun Atome oder Menschen, die
wechselwirken bzw. arbeiten oder kommunizieren.`` ,,Damit sind wir bereits bei der zweiten Frage``, knüpfte Nell an.
,,Wittgenstein suchte die Grenzen der Sprache auszuloten, Horkheimer, Adorno
wollten sie auf Arbeit zurückführen und Bohr bemühte sich um eine
Beschreibung der Atome. Steckt aber in den Sprachspielen nicht sehr viel
mehr als in den Arbeitsprozessen und Wechselwirkungen?`` ,,In der Arbeit geht es um die Herstellung von Produkten nach
technischen Regeln``, begann Pieter. ,,Sprache dagegen stellt
Verständigung her nach kommunikativen Regeln. An diesen Unterschied
zwischen Arbeit und Interaktion knüpft Habermas an in seiner Kritik der
Frankfurter Schule.`` ,,Nach dem Modell der Ebenen und Krisen``, schaltete Hilde sich
ein, ,,muß die Komplementarität der Wechselwirkungen, die
Dialektik der Arbeitsprozesse und die Interaktion der Kommunikation aber
Gemeinsamkeiten aufweisen. Und die sehe ich in der Technik.`` ,,Ein interessanter Gedanke``, fuhr Pieter fort. ,,Atomare
Wechselwirkungen und menschliche Kommunikationen werden durch Technik
kompatibel gemacht.`` ,,Aber Technik instrumentalisiert doch die Vernunft``, wandte
Nell ein. ,,In die Vernunft geht demgegenüber die Reichhaltigkeit der
Sprache ein.`` ,,Genau das kritisieren die Frankfurter an den Neopositivisten. Die
Reduktion der kommunikativen Vernunft auf den bloß instrumentellen
Verstand.`` Niels machte eine kurze Pause. ,,Sprache ist
sehr viel mehr als natürliche Tatsachen-Behauptungen oder technisches
Bewirkungswissen. Wir reden immer in einem gesellschaftlichen Kontext,
verfolgen Absichten und stellen uns selbst dar.`` ,,Aber können wir all das auch wirklich gleichzeitig?`` warf
Sofie ein und versuchte sich sogleich selbst an einer Antwort.
,,War es nicht Bohrs Anliegen, mit seinem Konzept der Komplementarität
hierbei zu vermitteln? Wenn ihr herausbekommen wollt, ob ich mich gerade
selbst darstelle, geht euch `was vom Inhalt verloren. Achtet ihr aber auf
den Gehalt meiner Rede, entgeht euch meine Inszenierung ... `` ,,Inhalt und Gebrauch der Rede sind also nur um den Preis einer
Unschärfe zu haben``, setzte Hilde den Gedanken fort. Sie schaute
in die Runde. ,,Das ist doch ein schönes Schlußwort. Wir sollten
aufbrechen.``
Mit Blick auf die Brücke
ging es weiter am Strand
entlang. Janet lief großen Schrittes voran. Ihre derben Stiefel hinterließen
tiefe Eindrücke; ihr Minirock auch. Da denke ich an die im Tageslicht
verborgenen Sterne, ging es Sofie durch den Kopf, rede aber nicht `mal mit
Janet. Auch in Menschen ist vieles verborgen. Sie begann schneller zu gehen.
Mit klopfendem Herzen schloß sie auf. ,,Hi``, begann Sofie betont
locker. Leicht überrascht wandte Janet sich zur Seite. Unvermittelt
sprudelte es aus ihr heraus. ,,Ich habe mich zwar in Deine Welt eingelesen,
die Sprachphilosophie ist mir aber nach wie vor ein Rätsel. Bestimmt denn
nicht immer der Inhalt den Gebrauch einer Äußerung?``
Janet hatte offenbar weiter über die Diskussion nachgedacht. Da Sofie nicht
sogleich antwortete, fuhr sie fort: ,,Wenn ich z.B. einen mathematischen
Beweis führen will, suche ich mir die passenden Voraussetzungen und stelle sie
in einen logischen Zusammenhang. Oder wenn ich die Schönheit der Bucht
beschreiben möchte, wähle ich geeignete Schönheitskriterien
... `` ,,Und was machst Du, wenn Du einen Typen anmachen willst?`` fragte
Sofie provozierend. ,,Wenn Du auf Chris anspielst``, begann Janet leicht säuerlich,
,,so sagte ich gar nichts. Er war mir einfach vor die Füße
gefallen.`` Sie dachte einen Moment nach. ,,Das ist genau der
Punkt. Primär ist das Tat- und nicht das Sprachhandeln! Die
Sprachphilosophen zäumen das Pferd doch von hinten auf.`` ,,Und den Taten gehen Sinne und Motorik voran``, knüpfte Sofie den
Gedanken weiter. ,,Oder hatte Chris sich Dir absichtlich vor die
Füße geworfen?`` ,,Das habe ich nicht mitbekommen``, entgegnete Janet. ,,Er
sagte mir, daß Björk ihn von sich gestoßen habe ... Wohl aus einer
Laune heraus oder spontan``, nehme ich an. ,,Welches Lied sang sie denn gerade?`` ließ Sofie nicht locker. ,,Du willst es aber genau wissen``, wunderte sich Janet. ,,... there's definitely no logic to human behaviour``, hörten sie
Chris' Stimme. Er hatte sich ihnen unbemerkt genähert, trat zwischen sie
und nahm die beiden in den Arm. ,,Wie hattet ihr euch denn kennengelernt?`` wollte Janet wissen. ,,Im Pergamon Museum, Berlin``, begann Sofie zögernd. ,,Mich
faszinierte der Schwarz-Weiß-Kontrast zwischen Chrisens Lederkluft und
Phaidrosens Toga ... `` ,,War es nicht eher mein knackiger Arsch?`` scherzte Chris und
erinnerte seine Anmache: ,,Welch' Geschick vergönnt mir die Sinnenfreude
deiner Wohlgestalt?`` sagte ich zu Sofie und weidete mich an ihrem
Erröten.`` ,,Auch hier bestimmt doch der Inhalt den Gebrauch der Äußerung``,
nahm Janet den sprachphilosophischen Faden wieder auf. ,,Sofie konnte
Deine romantische Rede gar nicht anders verstehen, als daß Du sie anbackern
wolltest.`` ,,Der Kontext bestimmt den Zusammenhang``, erwiderte Sofie.
,,Auch sein Blick und der Tonfall trugen zur Wirkung bei ... Zudem
nahm Chris meine Bemerkung über das Passen von äußerer Erscheinung und
innerer Form der Plastiken auf.`` Sie machte eine Pause.
,,Das ist vielleicht der springende Punkt. Nur wenn die Erscheinung
dem Wesen entspricht, ist der Inhalt für den Gebrauch entscheidend.
Chris hatte Erfolg bei mir, weil er auch an mein Denken anknüpfte und
nicht nur auf mein Aussehen abfuhr ... `` ,,... Und auf mich fährt er nur meines Körpers wegen ab? Wolltest
Du das damit sagen?`` fragte Janet aufgebracht.
Sofie genoß ihre Überlegenheit. ,,Wenn Du im Zweifel darüber bist,
ist der Inhalt wohl nicht allein bestimmend für den Gebrauch einer
Äußerung, oder?``
Das saß. Janet spürte die Erregung in sich aufwallen. ,,Du bist doch
bloß eifersüchtig und ärgerst Dich darüber, daß Chris mit mir
mehr Spaß hat.`` ,,Worum geht es hier eigentlich?`` suchte Chris zu vermitteln.
,,Warum kann es denn nur eine geben?``
Verwirrt schaute Janet ihn an. Davon hatte auch Niels seinerzeit gesprochen,
dachte Sofie. Aber das war anders ... ,,Träumer!`` schrie Janet
Chris an. ,,Mich kriegst Du ganz oder gar nicht!`` ,,Leben Frauen nach der zweiwertigen Logik?`` fragte er ironisch.
Sofie bemühte sich, cool zu bleiben. ,,Auch die Gefühlsweisen erwachsen
aus vielfachen Zustandsüberlagerungen.`` ,,Am Morgen ein joint und der Tag ist dein Freund``, gab Chris
zum besten. ,,Sehr komisch``, knurrte Janet und schmollte. ,,Ich meinte das ganz ernst``, fuhr Chris fort. ,,Vielleicht sollten
wir `mal zusammen ins Magische Theater
gehen?`` ,,Und uns bei Sex and Drugs and Rock 'n' Roll vergnügen?``
fragte Sofie ironisch. ,,Mir reichen schon Wein, Weib und Gesang``, witzelte
Chris und tanzte mit
BREAK ON THROUGH
auf den Lippen davon ...
Gegen mittag ließen sich die Schüler an der Pazifikküste nahe der
Golden Gate Bridge nieder. Hier war es wieder leicht neblich. Gleichwohl
suchten sie den Schatten einiger Felsblöcke auf. Die Brandung lud zum
Baden ein. Das kühle Naß setzte allerdings einige Überwindung voraus.
Nicht nur die Schülerinnen fanden Gefallen an den Gays, die sich nackt
in den Schaumkronen tummelten. Während Brot, Käse und Wein ausgepackt
wurden, gesellte sich Craig ungezwungen zu den Badenden. Chris hatte magic
cockies dabei und Nell servierte einen Kuchen. Die Strandatmosphäre beförderte
die Stimmung. Sofies Blick pendelte zwischen den Ozeanriesen und Seglern, die
das goldene Tor passierten, der endlosen Weite des Meeres, aus der in
rhythmischer Folge die Wellen heranbrandeten und den feucht glänzenden
Männerkörpern, die sich der Sommerfrische hingaben. Enthemmt streifte auch
sie ihre Wäsche ab und streckte sich lang im weichen, warmen Sand aus. Durch
den zarten Schleier leuchtete das helle Blau des Himmels. ,,Ach, ist es
schön hier``, rief sie begeistert und setzte sich auf. Pieter reichte
ihr ein Glas Rotwein. ,,Auf die Sommerschule!`` Hell klingend stießen
sie miteinander an. ,,Auf daß wir uns Gedanken zu einer philosophischen
Perspektive machen.`` Sofie nahm einen weiteren Schluck. Sie spürte es
warm in sich aufsteigen. Mit leichtem Schwindel griff sie zu Brot und Käse.
,,Auf die Naturschönheit``, rief sie aus und hob erneut das Glas. ,,Warum können wir die Natur eigentlich als schön erleben?`` fragte
Pieter wie beiläufig. ,,Wenn wir eine Umgebung aufsuchen, die unser Wohlergehen
befördert``, begann Hilde eine Antwort, ,,könnten wir sie
als schön erleben, weil es sich evolutionär als vorteilhaft erwiesen
hat.`` ,,Dann gründet für Dich Ästhetik in der Evolutionstheorie?`` wollte
Nell wissen. ,,Nicht nur Ästhetik, sondern auch Logik und Ethik sind nur im Einklang mit
der Evolutionstheorie sinnvoll formulierbar``, fuhr Hilde fort.
,,Nichtevolutionsstabile Kriterien der Wahrheit, Güte und Schönheit
hätten doch gar keine Zukunft.`` ,,Wie die Formenvielfalt in der Natur zeigt``, merkte Niels an,
,,bleibt für die Geltungsansprüche in Logik, Ethik und Ästhetik
genügend Spielraum.`` ,,Verstehe ich das richtig``, fragte Nell weiter,
,,Eure Perspektive bestünde darin, philosophische Prinzipien nach
Maßgabe der Natur zu formulieren?`` ,,Nicht nach Maßgabe von, sondern im Einklang mit der Natur``,
entgegnete Niels. ,,Andernfalls verstrickten wir uns ja in einen
Begründungszirkel.`` ,,Um der Selbsterhaltung willen ist Kultur im Einklang mit der Natur zu
entwickeln``, ergänzte Hilde. ,,Das sind ja hehre Prinzipien``, schaltete Pieter sich ein,
,,aber in der Industriegesellschaft geht es anders herum: Die Natur wird
im Einklang mit der Kultur umgestaltet.`` ,,Ihr seid mir zu abgehoben``, ließ Nell nicht locker.
,,Warum kann ich beim Philosophieren nicht einfach an mein Erleben
anknüpfen?`` ,,Weil persönliche Erlebnisse im Gegensatz zu natürlichen Ereignissen
nicht nachvollziehbar sind. Du kämst in die Religion, aber nicht in die
Philosophie``, wandte Hilde ein. ,,Bleiben wir konkret``, fuhr Nell fort, ,,die Schönheit der
Buchteinfahrt hier wird doch von allen ähnlich empfunden, nehme ich an.
Und wenn nicht so viele Autos über die Brücke führen, täte ihre
Hängekonstruktion der Naturschönheit überhaupt keinen Abbruch, im
Gegenteil.`` ,,Willst Du ernsthaft Philosophie auf Gefühle gründen?`` wunderte
sich Niels. ,,Nicht gründen, aber im Einklang mit ihnen betreiben ... `` ,,Kunst ist Wahrnehmung durch Gestaltung``, merkte Sofie an. ,,Dann wäre Naturschönheit wahrgenommene Naturgestaltung``, ergänzte
Nell. ,,Wahrnehmung und Erleben sind aber Leistungen unserer inneren Natur.
Ich halte Erlebnisse und Ereignisse deshalb lediglich für soweit trennbar wie
innere und äußere Natur.`` ,,Erlebnisse sind erlebte Ereignisse``, vermittelte Hilde.
,,Damit sind sie zugleich subjektiv und objektiv. Als Erlebnis sind
sie fühlbar, als bloßes Ereignis auch mitteilbar.`` ,,Nun haben wir ganz im Sinne Bohr'scher Komplementarität unser
Erleben zerredet und fast zerstört``, warf Sofie ein und hob das
nächste Glas: ,,Auf die Komplementarität.`` Im Rausch des
wiederbelebten Gruppengefühls stießen sie erneut an.
Janet und Chris, Nell und Pieter sprangen auf zum Volleyballspiel. Hilde
und Niels sanken zum Schmusen in den Sand. Craig hatte sich mit den Gays
hinter Felsblöcken zurückgezogen. Sofie löste einen Keks im Wein und
gab sich dem Naturerleben hin. Im hell erstrahlenden Licht begab sie sich
zum Spiel mit der Freiheit.
,,Anfang der 60er begannen in den USA
die Studentenproteste. Das war auch ein Aufbegehren junger Menschen
gegen die Obrigkeit``, begann Nell nach dem Abspann der Zweiten
Heimat. ,,Der Protest entstand im Rahmen der Bürgerrechtsbewegung
zur Gleichberechtigung der Schwarzen
. Er entwickelte sich
zum weltumspannenden Aufruhr gegen den Vietnamkrieg und die kapitalistische
Ausbeutung der Dritten Welt.``
,,Der erste Ausbruch ereignete sich Ende 1964 in Berkeley``,
ergänzte Chris. ,,Von da ab rissen die Protestmärsche,
Vorlesungsstreiks, Sit-ins und Teach-ins nicht mehr ab. Sie wurden
organisiert von den Students for a Democratic Society (SDS) und
der radikalen Weatherman
-Gruppe. 1970
wurden im Verlauf einer Anti-Vietnamkriegs-Demo an der Kent State
University in Ohio durch die Nationalgarde vier Studenten
erschossen. Die erste anti-imperialistische Demo des Sozialistischen
Deutschen Studentenbundes (SDS) fand im
Dezember 1964 statt. Neben Berliner Studenten der Subversiven Aktion hatten sich auch
Dadaisten aus München beteiligt, die bereits zwei Jahre zuvor aus nichtigem
Anlaß mit der Polizei in Konflikt geraten waren.
Die Berliner Demo richtete sich gegen den Staatsbesuch Tschombes. Der Diktator des Kongo hatte
den demokratisch gewählten Präsidenten Lumumba ermorden lassen und wurde
dennoch als Staatsgast empfangen. Denn er galt als Garant der kapitalistischen
Ausbeutungsinteressen der Bodenschätze in seinem Land.
Eine Demo gegen die amerikanische Machtpolitik wurde am 5. Februar 1966
vor dem Amerika Haus organisiert. Am 2. Juni 1967
wurde am Rande einer Anti-Schah-Demo gegen die Gewaltherrschaft im
Iran der Student Benno Ohnesorg
von einem Polizisten
erschossen. 1968 verübte ein aufgehetzter Arbeiter ein Attentat
auf den Studentenführer Rudi Dutschke
, an dessen Spätfolgen er
1979 starb.``
,,In den USA fielen John und Robert Kennedy sowie Martin Luther
King Attentaten zum Opfer``, warf Nell ein. ,,Die Handlanger
des militärisch-industriellen Komplexes schlugen mit allen Mitteln
zurück.``
,,In den 70ern
fächerte sich die Protestbewegung in Westdeutschland in drei Richtungen
auf``, erläuterte Niels. ``Die Freaks, Hippies und Spiritualisten
suchten ihr Heil im Gemeinschaftsleben von Landkommunen und Wohngemeinschaften.
Politische Aktivisten des vormaligen SDS wählten eine
Doppelstrategie außerparlamentarischer Opposition und administrieller Unterwanderung.
Eine gewaltbereite Minderheit ging als Terroristen in den Untergrund.
Der Baader-Meinhoff-Bande und der Bewegung 2. Juni fielen mehrere
Wirtschaftsführer und leitende Staatsbeamte zum Opfer.`` ,,Wenn ich die gegenwärtige Weltpolitik bedenke``, meldete
Pieter sich zu Wort``, dann ist doch von all dem wenig geblieben.
Die Macht des militärisch-industriellen Komplexes unter der Vorherrschaft
der USA war noch nie so groß wie heute. Im Zuge der Globalisierung
der Märkte treiben die Amerikaner weltweit eine gigantische
Umverteilung von unten nach oben voran. Und die weltökologischen
Probleme lassen im nächsten Jahrhundert einen Kollaps der Biosphäre
erwarten.`` ,,Im nachhinein läßt sich leicht urteilen``, entgegnete Chris.
,,Ähnlich wie die bürgerliche 48er
Revolution
des 19. Jahrhunderts hat auch die 68er
Revolte des 20. Jahrhunderts viele
nachhaltige Auswirkungen gehabt: Die Demokratisierung wurde vorangebracht,
die Bildungschancen verbessert, Toleranz und Freiheitsspielräume
erweitert ... `` ,,... die Frauenbewegung
wiederbelebt``, warf
Nell ein. ,,... sowie Ökologiebewegungen und Bürgerinitiativen ins Leben
gerufen``, endete Chris. Er schaute in die Runde. ,,Zur
Ausgestaltung unserer Freiheitsspielräume schlage ich ein
love-in vor.`` ,,Ein bett-in ist mir lieber``, relativierte Nell
Chrisens Gelüste. ,,Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment``,
scherzte Niels. ,,Ich hab' noch ein paar cockies``, warf Chris ein und reichte sie
herum. ``Mal sehen, was von den Spielräumen wirklich übrig geblieben
ist. Äußere Freiheit setzt auch innere Befreiung voraus.``
Unterdessen waren die Schüler im Schlafraum angekommen und suchten sich
Betten aus. Nach einigem Hin und Her trat Ruhe ein. Lakenreibung und
Lustgestöhne verrieten das Wirken der Natur ... Wie Nell war auch Sofie
nicht in der Stimmung auf bloßen Sex gewesen. Sie hatte noch eine Weile
den Film nachwirken lassen. Er hatte nicht nur einen politischen, sondern
auch einen persönlichen Aspekt. Hermann gab sich der Kunst hin, weil er
sich vor der Liebe fürchtete. Die Erotik einer reifen Frau kam ihm da
gerade recht ...
Am nächsten Tag ging es in den Golden Gate Park. Als sie durch Haigh
Ashbury kamen, vergaß Chris natürlich nicht, darauf hinzuweisen, daß es
sich für Hippies um einen heiligen Stadtteil handelte. Zu Diskussionen kam
es nur in den gelegentlichen Spielpausen. Ball- und Kartenspiele wechselten
einander ab. Pieter verwahrte sich dagegen, Philosophie auf Natur gründen
zu wollen, sei es nun die innere oder die äußere. Philosophie sei
Gesellschaftskritik mit den Mitteln der Kommunikationstheorie, beharrte er.
Für Craig war Philosophie eigentlicht ganz überflüssig. Ontologen seien
heute die Physiker, Erkenntistheoretiker die Biologen und Sprachforscher die
Informatiker. So wie die Philosophie Mythologie und Religion untergraben
hatte, waren die Themen der Philosophie längst in den Wissenschaften
aufgegangen. Hinweise auf Zirkularitätsprobleme in den Begründungen der
Wissenschaften konterte er mit der Angabe von Selbstkonsistenzverfahren ...
Selbstkonsistenz oder mit sich im Einklang sein. Hilde erinnerte die
Beispiele: In der Logik geht es um Widerspruchsfreiheit. Physikalische
Wechselwirkungen sind selbstbezüglich, ebenso das kommunikative Handeln.
Die Widerspruchsfreiheit hat in Verbindung mit der Selbstbezüglichkeit
die Unvollständigkeit der Sprache und die Offenheit des Kosmos zur Folge.
Weil es im explodierenden Kosmos stabile Nischen gibt, wie das Sonnensystem,
können widerspruchsfreie Theorien der Natur formuliert werden. Denn in den
ökologischen Nischen entwickelten sich in Anpassung an die jeweilige Umwelt
viele je verschiedene Arten und Organismen. Gingen die ursprünglichen
Organismen noch fast ganz im Wasser auf, schlossen sich nach und nach
ausdifferenzierte Lebensformen zu komplexeren Organismen zusammen. Innere und
äußere Natur der Lebewesen sind dabei durch Stoff-, Energie- und
Informationswechsel verbunden. Steht das menschliche Handeln nicht im
Einklang mit diesen biologischen Vorgängen, ist das Überleben gefährdet.
Menschliche Erkenntnis kann demnach nur an unsere Sinnes-, Motorik- und
Denkleistungen anknüpfen. Die Biologie beginnt daher mit der Reflexion auf
die Alltagserfahrungen unserer Lebenserhaltung. Hält man die Sprachebenen
schön auseinander, entstehen keine Begründungszirkel, wenn Biologen
als Erkenntnistheoretiker unseren Erkenntnisapparat untersuchen. Genauso
wenig entsteht ein Zirkel, wenn Physiker metasprachlich den Meßvorgang
interpretieren, schloß Hilde mit Genugtuung ihre Gedanken ab.
Nachdem alle gemeinsam geduscht und zu Abend gegessen hatten, kamen sie
wieder im Fernsehraum
zusammen.
Nun trieb Helgas Verzweiflung sie sogar zum Selbstmordversuch, dachte Sofie.
Erschreckend, wie stark momentane Gefühlsregungen werden können. Wie
kann das von evolutionärem Vorteil gewesen sein? Alles-oder-nichts-Prinzipien
vereinfachen komplexe Zusammenhänge und erleichtern rasche Entscheidungen ...
Und Clarissa wurde natürlich Opfer unbedachter Hingabe ...
Den Sonntag verbrachten die Schüler in den Muir Woods. Die riesigen
Mammutbäume waren beeindruckend und ließen die Menschen zu Puppen
zusammenschrumpfen. Staunend blickten sie an ihnen empor. Auf schmalen
Pfaden und mit ausreichend Proviant durchwanderten sie den Nationalpark.
Am Abend sanken sie ermattet auf den Uferrasen von Sausalito. Ihr Blick
schweifte über die Weite der Bucht. Verträumt hing Sofie ihren Gedanken
nach. Sie hatte sich noch keine klare philosophische Perspektive gebildet.
Natur oder Gesellschaft? Das konnte doch keine unauflösbare Alternative
sein! Ihr Ausgangspunkt blieben die Alltagserfahrungen und die Umgangssprache.
Verständigung mit anderen herstellen, Verständnis aufbringen und den Dingen
auf den Grund gehen. Niels nannte sein Bestreben schlicht, die Welt verstehen
wollen. Darum ging es ihr auch.
Auf der Überfahrt zweifelte Sofie, nach der Tagesmüh' noch am Konzert
teilnehmen zu können. Da sie ihr Versprechen aber halten wollte, raffte sie
sich auf. Die Music Hall war voll besetzt. Bob war ganz in schwarz gekleidet und
trug eine dunkle Sonnenbrille. Er begann mit dem
Subterranean Homesick Blues
. Chris hatte ihr von den
Subterraneans Kerouacs
erzählt. Der
Sprechgesang erinnerte an RAP, war aber aus den 60ern:
Don't follow leaders
Es folgten All Along The Watchtower
,
Like A Rolling Stone
,
Love Minus Zero
,
Lay, Lay, Lady Lay
...
Die Folk-Rock-Stimmung hatte die Schüler von ihrer anfänglichen Müdigkeit
befreit. Beschwingt schlenderten sie nach Fisherman's Wharf und lauschten
den Blues men. ,,Welche Musik gibt denn heute der Stimmung in gleicher Weise Ausdruck,
wie es Blues und Folk-Rock seinerzeit taten?`` fragte Janet. ,,Die Musik gibt es zum Glück noch``, entgegnete Chris.
,,Die Stimmung hat sich allerdings gewandelt. Mainstream ist seichter
Pop und dumpfer Techno. Auch RAP und Punk sind mittlerweile popularisiert.
Die Kids wollen sich heute etablieren und nicht die Gesellschaft verändern.
Im Gegensatz zu damals geht es ihnen zur Zeit schlechter als ihren Eltern,
wenn sie sich verselbständigen. Zudem kann mit immer weniger Menschen immer
mehr produziert werden. Die Konkurrenz um Arbeit wird zunehmend
härter.`` ,,Daraus könnte gleichwohl ein neues Protestpotential erwachsen``,
mutmaßte Nell. ,,Allerdings sehe ich keine intellektuelle Avantgarde,
wie sie seinerzeit den Universitäten entsprang.`` ,,Die Situation ist so kompliziert, weil sich heute die sozialen Probleme
im Weltmaßstab stellen``, setzte Niels hinzu. ,,Und im Gegensatz zu
Wirtschaft und Technik verharren Recht und Politik noch im Nationalismus des
19. Jahrhunderts. Nicht einmal die Mitteleuropäer sind gewillt, ihre
nationalen Souveränitäten zugunsten einer wirklich kompetenten
Europaregierung aufzugeben.`` ,,Daraus müßte sich doch eine Initiative entwickeln lassen``, fiel
Nell ein. ,,Die Begeisterung der Jugend für die Internationalisierung
der Demokratie ... `` ,,Wenn da nicht die religiösen und völkischen Hemmnisse wären``, gab
Sofie zu bedenken. ,,Die 68er hatten die Kritische Theorie aus Marxismus, Psychoanalyse und
Existentialismus als Theorie ihrer Befreiung``, begann Chris und fragte:
,,Was haben wir heute?`` ,,Darüber können wir uns in der nächsten Woche Gedanken machen``,
schloß Pieter. Nachdenklich brachen sie auf in die Herberge.
Philosophische Perspektiven
Ein Kontrast zu den extremen Künstlern war Schnüßchen. Mit ihr hatte
Hermann seinerzeit den ersten Kuß versucht. Und jetzt hatte er sie wie
zufällig in München beim Plakatekleben weidergetroffen. In der Villa
Cerphal bildete sie einen Fremdkörper. Aber gerade ihre Bodenständigkeit und
unkompliziert weibliche Art wirkten auf Hermann anziehend. Wie einfach die
Dinge oft liegen, dachte Sofie noch bevor der Schlaf ihr Bewußtsein
trübte.
To know which way the wind blows
Watch the parkin' meters
When he's standing in front of you
May you grow up to be true,
May you always know the truth
And see the lights surrounding you.