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Niels Bohr

Sofie lag verträumt auf dem Bug und blinzelte ins helle Licht. Lebhaft erinnerte sie die Nächte mit dem Poeten. Was hatte sie so verzaubert? Jedem Fatum sein Datum hörte sie ihn sagen. Was für Gesellschaften und Epochen galt, traf offensichtlich auch auf Einzelne und Gruppen zu. Tiere richten sich in Wechselwirkung mit ihrer Umwelt in ökologischen Nischen ein. Menschen folgen ihren Neigungen und suchen Umgang, der sie fördert. So zog es Einstein früh in die liberale Schweiz. Seiner persönlichen Dezentrierung entsprach diejenige in Wissenschaft und Kunst seiner Zeit. Der Dichter sprach von den Hippies und der Entsprechung von individueller und gesellschaftlicher Pubertät. Wie schön mußte es gewesen sein, das sexuelle Erwachen im Einklang mit dem gesellschaftlichen Aufbruch zu erleben. Er hatte vom Abbruch in den 80ern gesprochen. Nicht mehr das Sein, sondern der Schein bestimme das Bewußtsein. Die Jugendkultur sei zu bloßem Geschäft verkommen und Kunst werde von Technik dominiert. Der Dichter hatte offenbar ein Lebensgefühl wachgerufen, das bereits in ihr angelegt gewesen sein mußte. Sie seufzte tief und drehte den Kopf zum See. Da war wieder das Spiel des Lichtes mit dem Wasser, diese Myriaden von Lichtreflexen ... Wieder hallte die Stimme des Poeten nach:

Die doppelte Natur des wirklichen Lichtes: TEILCHEN und WELLE. So auch unsere Leuchterscheinungen: Ausfällungen und Einfälle - Stoßstellen und Blütenstäube - Niederschläge und bewegte Quanten - Ausschläge und AUSSCHLÄGE, Zwangserscheinungen und ...

Ein Ruck durchfuhr ihren Körper. Beinahe wäre sie vom Boot gerollt. Verstört blickte sie in Hildes lachendes Gesicht. ,,Wir sind da``, hörte sie Alberto rufen. ,,Ihr könnt schon vorgehen und Euch umsehen. Ich mache das Boot fest und takel es ab.``

Die Mädels sprangen auf den Steg und liefen zum Haus. Über ein paar Stufen gelangten sie durch eine große offenstehende Doppeltür ins Wohnzimmer. Es füllte einen geräumigen Vorbau aus, über dem eine Terrasse zum Verweilen einlud. Die beiden suchten aber erstmal das Bad auf. Kurzentschlossen ließen sie Wasser ein, griffen zum Schaumbad, streiften ihre Wäsche ab und glitten ins wohlig warme Naß. Das Bad rötete die Haut, spitzte ihre Zitzen und kitzelte die Rosen. Alles verschwamm in wallendem Dampf. Entspannt schlossen sie die Augen; mußten aber sogleich erfreut losprusten.

Alberto vernahm das fröhliche Gekreische der beiden bereits im Vorgarten. Schmunzelnd durchschritt er den Wohnraum, suchte sich einige Papiere und Bücher zusammen und machte es sich auf der Terrasse bequem. Sein Blick strich über den See. Noch immer waren zahlreiche Boote auszumachen. Zwischen ihnen ein tutender Ausflugsdampfer. Die Sonne näherte sich dem Horizont und warf lange Schatten aufs Wasser. Kichernd trollten die Mädels heran und flenzten sich auf die Liegestühle. Die aufputschende Lust des Bades wich schläfrigem Wohlgefühl. Mit der Dämmerung senkten sich die Augenlider.

Das war vor Tagen vor Zeiten,

und ich wußte nicht mehr, was geschieht, was geschah,

als ich dein Auge sich weiten,

dein Herz sich verflüssigen sah.

Und ich dachte noch, fahren wir lieber

am Himmel vorbei und im Frieden dahin;

weil ich doch nur diese vorüber -

ziehen - dee - he Gewitterfront bin.

Sofie wälzte sich im traumreichen Schlaf.

An springt der Sommer -: mitten durch den Reifen,

- noch einmal trägt mein Glück -

Verweile doch und laß dich auch begreifen,

mein Pfauen-Augen-Blick-

Es ist das Stundenglas nicht umzukehren

und was die Parze spinnt ...

Das Leben, das wir beide so verehren,

es rast - es rinnt.

Es traut kein Bürger, segnet uns kein Paster,

kein Sozi stimmt mit ein.

Es muß, mein Kind, nicht immer gleich das Laster,

es kann auch Liebe sein.

Denn was sich liebt, das spottet der Erfahrung,

und was sich fesselt, gibt sich aus der Hand.

Dein Arsch hängt über mir wie eine Offenbarung:

gesammelt - und entspannt.

Helles Lachen erscholl und schreckte Sofie jäh aus ihrem Traum. Fragend blickte sie erst Alberto, dann Hilde an. Sie mußte die Dichterworte laut gesprochen haben. Leichte Röte stieg ihr ins Gesicht.

,,Du warst wohl auf dem Weg von Waldfeucht nach Lustnau``, scherzte Alberto - und klang wie der Dichter.

Verwundert schaute sie ihn an. War er nur eine Maske, ein Rollenspieler? Wer war er wirklich? War er der Dichter oder sah sie bloß in ihm den Poeten? Auf der Nordsee war er ihr als Einstein erschienen. ,,Nehmen wir die Menschen stets nur nach unserem Bilde war?`` fragte Sofie nachdenklich.

Alberto nahm vom reich gedeckten Tisch und antwortete mit Schiller:

Nur die Fülle führt zur Klarheit,

Und im Abgrund wohnt die Wahrheit.

,,Diesen Zweizeiler zitierte Bohr gerne, wenn man ihm vorwarf, zu unklar, weitschweifig oder tiefsinnig zu sein``, fuhr Alberto fort. ,,Die Frage nach dem Eigenanteil in der Fremdwahrnehmung, vom Subjekt im Objekt, beschäftigte Bohr von Jugend an.``

,,Schließlich handelt es sich ja um eine philosophische Grundfrage. Im Rahmen der Naturgeschichte unterfällt sie dem Prinzip der Entwicklung aus Differenzierung und Zusammenschluß``, erläuterte Hilde und setzte nach einer Pause hinzu: ,,Die Lebewesen verwandelten je nach Entwicklungsstufe mit Molekülen, Organellen, Zellen, Organen und Zwischenzellflüssigkeit Außenwelt in Innenwelt. Das Gehirn setzt diese Tendenz in seiner Mehrebenenstruktur fort. D.h. in den Erinnerungen, Gedanken, Wahrnehmungen und Vorstellungen vermengen wir stets eigenes und fremdes, subjektives und objektives, kurz: unsere Zuständlichkeit mit der Gegenständlichkeit.``

,,Aus dem wechselseitigen Ausschließen und Ergänzen von Bewußtseinsstrom und Reflexion entwickelte Bohr sein Konzept der Komplementarität``, knüpfte Alberto an.

,,Könnt ihr `mal konkreter werden?`` warf Sofie leicht gereizt ein und zerteilte ein Brötchen.

Alberto wischte sich Butterreste von der Hand und griff nach einem Buch: Abenteuer eines dänischen Studenten. ,,In diesem Buch hat Bohr wieder und wieder gelesen, häufig davon gesprochen und es weiter empfohlen``, hob Alberto an und begann vorzulesen:

Obwohl die Erfahrung unzählige Male gelehrt hat, daß es möglich ist, quäle ich mich mit dem unlösbaren Rätsel ab, wie man denken, sprechen oder schreiben kann. Du siehst ein, mein Freund, daß Bewegung eine Richtung voraussetzt. Der Verstand kann nicht weiterkommen, wenn er nicht einer bestimmten Linie folgt, vorher muß er sie aber gedacht haben. Daher hat man bereits jeden Gedanken gehabt, bevor man ihn denkt. Jeder Gedanke - anscheinend das Werk einer Minute - setzt demnach eine Ewigkeit voraus. Das kann mich fast zum Irrsinn treiben.

Wie kann also irgendein Gedanke entspringen, wo er doch schon existiert haben muß, bevor er hervorgebracht wird? Wenn du einen Satz schreibst, mußt du ihn vor dem Aufschreiben im Kopf haben, bevor du ihn aber im Kopf hast, mußt du ihn gedacht haben, wie willst du denn sonst wissen, daß ein Satz formuliert werden kann? Und bevor du daran denkst, mußt du doch eine Idee davon gahabt haben, wie wäre es dir sonst eingefallen, ihn zu denken? Und so geht das bis in alle Ewigkeit weiter, und die Ewigkeit ist in einem Augenblick eingeschlossen.

,,Wenn der Tausendfüßler darüber nachzudenken begänne, wie er zu laufen hätte, käme er mit den Beinen durcheinander``, entgegnete Sofie erheitert. ,,Ich habe verstanden: Man kann offenbar nicht zugleich denken und über das Denken denken. Im Bewußtsein bleiben die Metaebenen hübsch getrennt. Im Traum, beim Sprechen und Schreiben purzeln sie wild durcheinander.``

,,Der Vorgang des Beobachtens ist vom Beobachten des Vorgangs zu unterscheiden``, fiel Hilde ein.

,,Das lehrt die Sprachphilosophie``, fuhr Sofie fort. ,,Wer beides vermengt, wird irrsinnig.``

,,Der Irrsinn des Studenten hat noch einen anderen Aspekt``, hob Hilde an. ,,Der Unmöglichkeit eines fortlaufenden Bewußtseinsstroms entsprechen die antiken Paradoxien der Bewegung. So wie Zeno seine Zeitgenossen zum Reflektieren ihrer Ansichten über die Bewegung anregen wollte, ging es wohl dem Autor des vorgelesenen Textes darum, uns zum Reflektieren unserer Ansichten über das Bewußtsein anzuregen. Aufgrund der parallelen Mehrebenenstruktur unseres Gehirns durchlaufen wir im Bewußtsein ständig die Ebenen verschiedener Hirnregionen. Für den Augenblick gilt unsere Aufmerksamkeit aber jeweils genau einem Bereich. Nur der schnelle Wechsel zwischen den Ebenen und Regionen suggeriert eine scheinbare Gleichzeitigkeit. Ich kann z.B. zugleich ein Buch lesen und Musik hören. Für den Augenblick konzentriere ich mich aber entweder auf die Musik oder das Buch. Das ist wie beim Umschalten zwischen Vordergrund und Hintergrund. Und beim Musik hören kann ich mich wiederum entweder auf die einzelnen Noten oder die Komposition konzentrieren ... ``

Ein Korkenknall lenkte die Aufmerksamkeit der Mädels auf Alberto. Weiß schäumend sprudelte ihm Sekt aus der Flasche. Lächelnd schenkte er ein. ,,Auf die Komplementarität!`` rief er aus und sie ließen die Kelche klingen.

,,Vordergrund und Hintergrund schließen sich aber nie ganz aus``, gab Sofie zu bedenken. ,,Beide bleiben stets wechselseitig aufeinander bezogen. Genau wie Form und Inhalt, Subjekt und Objekt, Reflexion und Bewußtseinsstrom ...``

,,Das Zusammendenken einander ausschließender und ergänzender Begriffe hat Bohr mit dem Wort Komplementarität bezeichnet``, fiel Alberto ihr ins Wort.

,,So wie Komplementärfarben sich zu weiß ergänzen, Vorder- und Hintergrund eines Bildes gemeinsam gerahmt sind?`` fragte Sofie verständig und angelte sich mit der Gabel eine Scheibe zarten Wildlachs.

Auch Hilde kam die Aufgehende Sonne in den Sinn. ,,Beweise und Sätze im Rahmen der Logiken, Materie und Kräfte im Rahmen der Felder, Teilchen und Wellen der Materie und der Kräfte``, sinnierte sie vor sich hin.

,,Bevor wir mit der Entwicklung der Quantentheorie fortfahren, sollten wir uns mit der Persönlichkeit Bohrs beschäftigen. Im Gegensatz zu Einstein, ging es Bohr nicht darum, sich vom Nur-Persönlichen zu befreien. Auch mißtraute er nicht der gesellschaftlichen Ordnung. Und schließlich reformulierte er nicht die physikalischen Theorien nach abstrakten Prinzipien, wie den Invarianzforderungen.``

,,Jedem Fatum sein Datum``, fiel Sofie ein und nachdenklich setzte sie hinzu: ,,Schicksal und Charakter als Ausdruck historischer Komplementarität ... ``

,,Alles hat seine Zeit``, nahm Alberto den Gedanken auf: ,,In der liberalen Atmosphäre Dänemarks bestand kein Anlaß zur Flucht in eine nichtmißtrauenswürdige Ordnung der Naturerscheinungen. Wie Niels euch erzählt hat, gab es dagegen im Deutschen Reich keine republikanische Tradition. Seiner Neigung folgend, in der Fülle nach Klarheit zu fahnden, verleugnete Bohr auch nicht das Persönliche im Forschungsprozeß. Im Gegensatz zum Eigenbrötler Einstein, suchte er stets das Gespräch. So schrieb er seine Arbeiten nicht einfach nieder, sondern diktierte sie in freier Rede. Irrtumsvermeidung statt Wahrheitsfindung wäre eine passende Charakterisierung seiner Haltung. Immer lag er auf der Lauer nach Fehlern in den Äußerungen seiner Gesprächspartner.

Mit Einstein verband ihn die Freigeisterei in der Haltung des Weltbürgers. Religionen blieben ihm fremd. Die im Abgrund vermutete Wahrheit wollte er sich nicht mit religiösen Dogmen verdecken.``

,,Niels erzählte uns auch, daß sich schon die Wikinger vehement gegen die Christianisierung zur Wehr gesetzt hatten``, erinnerte Hilde.

,,Noch heute feiern die Skandinavier die Sommersonnenwende, ein Fest mit langer vorchristlicher Tradition``, ergänzte Alberto. ,,Mit Einstein teilte Bohr zudem die heitere Gelassenheit des Weisen. Glaubensfragen begegnete er mit Humor. Auf die Frage, warum über seiner Haustür ein Hufeisen hänge, er glaube doch gar nicht daran, erwiderte er lächelnd, vielleicht wirke es ja trotzdem ... `` Alle lachten und prosteten sich zu. ,,Gleich Groucho Marx wäre auch Bohr keinem Club beigetreten, der ihn als Mitglied aufgenommen hätte``, ergänzte Alberto betont ernst.

Die Wogen der Heiterkeit glätteten sich nur langsam. Etwas mühsam fuhr Alberto fort: ,,Bohrs aus der Selbstbeobachtung gewonnener Komplementaritätsgedanke war so allgemein, daß er ihn nicht nur auf das Welle-Teilchen-Dilemma anzuwenden suchte. Vielmehr ging es ihm auch um ein Verständnis der Beziehung zwischen Gefühl und Verstand, Instinkt und Vernunft, Subjekt und Objekt.``

,,Erlebnisse sind subjektiv, Ereignisse objektiv. Erlebnisse sind bewußte Ereignisse``, sinnierte Hilde.

Sofie mußte an ihre Selbsterfahrung denken als sie sagte: ,,Wer ihre Gefühle bedenkt, bringt sie zum Verschwinden ... ``

,,Gefühle werden nur erlebt. Sie sind nicht objektivierbar - zum Teil vielleicht in der Massenhysterie``, merkte Hilde an und fragte: ,,Liegt hier nicht eine Asymmetrie? Denn Ereignisse sind subjektivierbar und damit Erlebnisse. Erlebte Ereignisse sind aber nicht mehr objektivierbar.``

,,Die Quantentheorie belehrt uns darüber, daß auch gemessene Ereignisse nicht mehr (gänzlich) objektivierbar sind``, setzte Alberto den Gedanken fort.

,,Das ist ja interessant``, entfuhr es Sofie. ,,Dann sind womöglich auch Kunst und Wissenschaft komplementär ... ``

,,Einstein hat dieser subjektive Zug der Quantentheorie sicher auf die Palme gebracht``, merkte Hilde an.

,,So ist es``, bestätigte Alberto. ,,Bevor wir aber auf die Auseinandersetzungen zwischen Bohr und Einstein zu sprechen kommen, will ich kurz Bohrs Weg in die Physik skizzieren. Niels Bohr wurde am 7. Oktober 1885 in Kopenhagen als mittleres von drei Kindern geboren. Sein Vater war Professor für Physiologie an der Kopenhagener Universität. Bohr verlebte eine sorglose, behütete Kindheit. Sein Vater war gleichermaßen in der englischen und deutschen Tradition verwurzelt. Häufig wurden Shakespeare und Goethe gelesen. Früh beteiligte sich Niels an häuslichen philosophischen Gesprächen. Mit seinem zwei Jahre jüngeren Bruder Harald führte er endlose Diskussionen, die sie im Gesprächskreis der Universität fortsetzten. Harald studierte Mathematik und verbrachte nach der Promotion einige Jahre bei David Hilbert in Göttingen. Da Harald sich für Deutschland entschieden hatte, wählte Niels England zur Fortsetzung seiner Studien. Er hatte sich in die Elektronentheorie der Metalle eingearbeitet. In seiner 1911 vorgelegten und ausgezeichneten Dissertation behandelte er auch das Problem der magnetischen Eigenschaften der Metalle; allerdings ohne durchschlagenden Erfolg. Hatte er doch weder quantentheoretische noch relativistische Überlegungen berücksichtigt. Er sah in seinem Scheitern ein grundsätzliches Problem, das weiterer Untersuchungen harrte. Bevor er im Herbst 1911 nach England ging, heiratete er die Schwester eines Kommilitonen aus dem philosophischen Gepsrächskreis. Ihre Ehe währte lebenslang und wurde durch vier Söhne bereichert. Nach einem Zwischenspiel in Cambridge begann Bohr im März 1912 seine Arbeit bei Rutherford in Manchester.``

,,Das ist der mit dem Planetenmodell des Atoms``, vergewisserte Sofie sich ihres Verständnisses während sie sich ein weiteres Brötchen belegte. Hilde schenkte die Gläser nach.

,,Ganz recht. Beim Beschuß von Goldfolie mit tex2html_wrap_inline2801 - Teilchen (Heliumkernen) hatte er Resultate erhalten, die in einem Planetenmodell gedeutet werden konnten. Elektronen umkreisen darin in weiten Bögen den Atomkern, auf den die eigentliche Masse des Atoms entfällt.``

,,Ich erinnere``, sagte Sofie kauend, ,,daß es im Rahmen der Elektrodynamik ein solches Atom aber nicht geben kann.``

,,Das war das Problem ... ``, setzte Alberto an, wurde aber von Hilde unterbrochen: ,,Worin besteht denn die Unvereinbarkeit? Warum können Elektronen nicht in ähnlicher Weise den Kern umkreisen wie die Planeten die Sonne?``

,,Weil bewegte Ladungen im Gegensatz zu bewegten Massen stets Energie abstrahlen. Die negativen Elektronen würden sofort in den positiven Kern stürzen``, erläuterte Alberto.

,,Ich verstehe``, Elektromagnetismus und Gravitation sind halt nicht dasselbe.`` Hilde dachte eine Weile nach. ,,Und die von bewegten Ladungen abgestrahlte Energie sehen wir im Licht ... ``

,,Oder registrieren sie als elektromagnetische Strahlung beim Rundfunk- und Fernsehempfang``, setzte Alberto den Gedanken fort. ,,Nun war andererseits seit 1885 bekannt, daß Elemente im Feuer eines Bunsenbrenners Licht in Frequenzfolgen tex2html_wrap_inline2803 emittieren, die Balmer für Wasserstoff in einer einfachen Formel ausdrückte:

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n bezeichnet darin eine positive ganze Zahl. Bohr stand vor einem ähnlichen Problem wie Newton als er die Ellipsenbahnen der Planeten erklären wollte. Die Ellipsenbahnen waren bereits durch Kepler bestimmt worden. Newton gelang es mit Hilfe seiner Kraftdefinition, die Gesetze Keplers aus dem Gravitationsgesetz zu folgern. Mit dem Geniestreich seiner Gravitationstheorie hatte er nicht nur die Kepler'schen Gesetze erklärt, sondern ganz allgemein die Bewegung von Massen unter der Wirkung von Kraftgesetzen beschrieben.`` Alberto machte eine bedeutungsvolle Pause und griff zum Glas. Hilde hatte eine Banane im Mund und Sofie blickte ihn erwartungsvoll an. ,,Wie findet man eine neue Theorie?`` fuhr er fort und schaute den Mädels abwechselnd in die Augen.

,,Mach's doch nicht so spannend``, rief Hilde voller Ungeduld. Sofies Blick wurde verträumter.

,,Worauf konnte Bohr denn bauen?`` nervte Alberto weiter.

,,Auf sich, Einstein und Planck``, entgegnete Hilde leicht ungehalten.

Alberto griff zum Zettel mit der Balmerformel. ,,Du sagst es. Planck führte das Wirkungsquantum ein, Einstein formulierte die Photonenhypothese und arbeitete das Welle-Teilchen-Dilemma heraus. Bohr suchte nunmehr Welle und Teilchen als komplementäre Zustände atomarer Vorgänge zu verstehen. In seinen 1913 veröffentlichten Arbeiten zum Aufbau der Atome und Moleküle postulierte er sogenannte stationäre Zustände der Elektronen. Weiter nahm er an, daß Emission und Absorption von Photonen durch sprunghafte Übergänge zwischen solchen Zuständen möglich sein sollten. Er schrieb: Die Energiemenge tex2html_wrap_inline2773 , die ausgestrahlt wird bei dem Übergang des Systems aus einem Zustand, der tex2html_wrap_inline2811 , in einen, der tex2html_wrap_inline2813 entspricht, ist daher unter der Voraussetzung homogener Strahlung mit tex2html_wrap_inline2815

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Wir sehen, daß dieser Ausdruck das Gesetz erklärt, das die Linien in dem Wasserstoffspektrum verbindet. Neben den üblichen Abkürzungen steht m für die Elektronenmasse. Mit dem Geniestreich seiner Quantentheorie hatte Bohr nicht nur die Balmerformel erklärt, sondern den gesamten Aufbau des periodischen Systems der Elemente auf die Beschreibung stationärer Elektronenzustände zurückgeführt. Die Chemie wurde Teilgebiet der Physik!``

,,Sagenhaft!`` staunte Sofie verklärt.

Hilde verschlug es die Sprache. Irgendetwas fehlte ihr. ,,A ... Ab ... Aber``, begann sie stockend. ,,Wie hat er denn die stationären Zustände berechnen können?``

,,Gute Frage``, anwortete Alberto. ,,Dazu griff er auf die Elekrodynamik zurück. Er berechnete die Umlaufbahnen der Elektronen, nannte sie aber stationäre Zustände ... ``

,,Aber das ist doch bloß ein Trick!`` empörte sich Hilde.

,,Um mit Wittgenstein zu sprechen``, sagte Sofie feierlich und hob das Glas: ,,Er kannte sich nicht aus.`` Die Mädels prusteten los.

Alberto mußte mitlachen. Nach einer Weile fuhr er fort. ,,Wie sollte er sich denn mit Atomen auskennen? Schließlich konnte er sie nicht unters Mikroskop legen! So hielt er sich an die Komplemente Welle und Teilchen. Für die Strahlungsübergänge griff er auf Einsteins Photonenhypothese zurück. Die strahlungslosen Zustände entsprechen dann dem Wellenbild. D.h. die der Frequenz des sogenannten Energieniveaus entsprechende Wellenlänge muß ganzzahliger Teil der Umlaufbahn sein.``

Alberto skizzierte die Situation auf dem Schmierzettel.

,,Ahh ... Ich verstehe``, freute sich Hilde. ,,Im stationären Zustand handelt es sich überhaupt nicht um ein umlaufendes Teilchen. Die Elektronenwelle umhüllt vielmehr den ganzen Kern.`` Sie machte eine Denkpause. ,,Und die Strahlungsübergänge erfolgen nach den Einstein'schen Übergangswahrscheinlichkeiten.``

,,Du hast es erfaßt``, entgegnete Alberto. ,,Dieses Zufallsmoment und die Sprunghaftigkeit des Überganges bildete fortan den Stein des Anstoßes.``

,,Handelt es sich bei der stationären Elektronenwelle um so etwas wie eine stehende Welle, zwischen deren räumlich fixierten Knoten und Bäuchen die Amplitude zeitlich schwingt?`` bohrte Hilde weiter. Sofie machte große Augen.

,,Ja, so kannst Du Dir das vorstellen``, bestätigte Alberto und ergänzte: ,,Jetzt läßt sich auch verstehen, was passiert, wenn ich ein Element in die Flamme eines Bunsenbrenners bringe. Die Elektronenzustände werden nach den Einstein'schen Übergangswahrscheinlichkeiten auf höhere Energieniveaus gehoben, von denen sie unter Aussendung von Photonen wieder herunterfallen.``

,,Jetzt verstehe ich endlich die Mail von Sagredo über die Zustände und Übergangswahrscheinlichkeiten``, sagte Hilde gedehnt.

,,Ich denke, es ist Zeit, für heute Schluß zu machen``, schlug Alberto nach einem Blick auf Sofie vor.

,,Ein Bad im See käme mir nicht ungelegen``, sagte sie spitzbübisch zu Hilde gewandt. Mit einem Auf geht's! sprangen sie vom Tisch, hasteten die Treppe hinunter, liefen über den Steg und sprangen mit Juhu! aus ihren Bademänteln in die spritzende Frische. Alberto blickte ihnen versonnen nach und lehnte sich entspannt zurück.