,,So wie die Untersuchungen zur Wärmestrahlung nur im Zusammenhang
eines Forschungsprogramms für die Schwerindustrie gesehen werden kann``,
erinnerte Sofie.
Und Pieter ergnzte: ,,Oder wie die Ermittlung des Wärmeäquivalents
und die Formulierung des Energiesatzes im 19. Jahrhundert nicht von der
Entwicklung und dem Einsatz der Dampfmaschine als Motor der industriellen
Revolution getrennt werden können.``
,,Hier treffen sich Sozial- und Naturphilosophie``, knüpfte Niels den Faden weiter. ,,Horkheimer schrieb: Die Physik ist auch davon abgekommen, die allgemeineren Züge als verborgene Ursachen oder Kräfte in den konkreten Tatsachen aufzufassen und diese logischen Verhältnisse zu hypostasieren, nur in der Soziologie herrscht darüber noch Unklarheit. Diesen Gedanken werden wir später aufzunehmen haben. Betrachten wir jetzt etwas genauer, wie sich traditionelle und kritische Theorie jeweils charakterisieren lassen:
Die kritische Gegenposition zur Tradition beginnt Horkheimer mit existentialistischem Unterton: Es gibt nun ein menschliches Verhalten, das die Gesellschaft selbst zu seinem Gegenstand hat. Dieses Verhalten wird im folgenden als das ,,kritische`` bezeichnet. Das Wort wird hier weniger im Sinn der idealistischen Kritik der reinen Vernunft als in dem der dialektischen Kritik der politischen Ökonomie verstanden. Es bezeichnet eine wesentliche Eigenschaft der dialektischen Theorie der Gesellschaft. Folgende Besonderheiten sind hervorzuheben:
Ich fasse die Unterschiede noch `mal zusammen: Die traditionelle Theorie nimmt die Gesellschaft, wie sie gerade ist und analysiert lediglich ihr Funktionieren. Politik wird damit zur Sozialtechnologie. Komplementär dazu knüpft die kritische Theorie mit ihrer Dialektik an die Konflikte und den Wandel in der Gesellschaft an und sucht sie zum Besseren zu transformieren. Politik wird so zur Gesellschaftsveränderung.
Als Hausaufgabe solltet ihr euch
überlegen, wie ihr als tradioneller oder kritischer Forscher jeweils
gesellschaftliche Probleme untersuchen würdet; z.B. die Drogenkriminalität
oder die Autogesellschaft.``
,,Wenn wir die Entwicklung von Russell über den frühen Wittgenstein und den Wiener Kreis bis hin zu Feyerabends Relativismus Revue passieren lassen``, begann Pieter, ,,wird der Mangel des Szientismus offenbar. Die Selbstbeschränkung der Philosophie auf Logizismus und Empirismus blendet den Wissenschaftsbetrieb als Teil der Gesellschaft einfach aus. Ihrer Zwecke beraubt, werden die Wissenschaften zum Spielball zweifelhafter politischer Interessen.
Demgegenüber nehmen die Dialektiker den Marx'schen Anspruch auf Veränderung
der Gesellschaft zum Richtigen wieder auf. Sie halten eine Gesellschaftstheorie
für wissenschaftsfähig, die sich nicht am Ideal der Physik orientiert. Und
eine Sozialphilosophie, die nicht auf Sprachphilosophie reduziert
wird.``
,,Das ist doch ein ganz wichtiger Punkt``, schaltete Sofie sich
ein. ,,Die philosophische Deutung des Schicksals der Menschen, mit dem
Bestreben zu verbinden, das Schicksal zum Besseren zu wenden. Ohne Vernunft
in die Welt zu bringen, bleiben Wirtschaft und Technik doch ziellos. Wohin
bloßes technisches Funktionieren und Profitdenken führen, sehen wir an der
nahenden ökologischen Katastrophe.``
,,Mir ist allerdings nicht klar, wie eine dialektische Philosophie im
Gegensatz zu einer szientistischen aussehen könnte``, wandte ein
Schüler ein. ,,Wie unterscheidet sich eine dialektische Methodik im
einzelnen von den wissenschaftlichen Verfahren der Logik, Mathematik und
Physik?``
Über Dialektik werden wir in der Dialektik der Aufklärung noch mehr
erfahren``, entgegnete Niels. ,,Ich möchte aber zuvor eine
Andeutung machen und Adorno zitieren mit dem Satz: Das, was ist,
kann nicht wahr sein.``
,,Eine absurde Formulierung``, ereiferte sich der Schüler ... Wie
war noch gleich sein Name, fragte sich Sofie ... Franz, Franz aus München,
fiel ihr wieder ein. ,,Was ist denn hier mit dem Wort wahr
gemeint?``
Denk einmal an den bestürzenden Ausspruch: Das kann doch nicht wahr
sein! Diese Redewendung hört man häufig, wenn Menschen unangenehme
Nachrichten erfahren oder mit erschreckenden Ereignissen konfrontiert
werden. Wer etwas nicht wahr haben will, kann natürlich als Träumer oder
Phantast abgetan werden. Nüchtern betrachtet offenbart sich aber in den
Aussprüchen eine Vorstellung davon, was nicht wahr sein sollte. Wunsch und
Wirklichkeit, Sollen und Sein werden hier konfrontiert. Was Adorno uns mit
seiner provozierenden Äußerung sagen wollte, ist, daß wir die bestehenden
gesellschaftlichen Verhältnisse stets daran zu messen haben, wie sie sein
sollten. Die wahre Gesellschaft ist also erst erreicht, wenn
Zielvorstellungen und Wirklichkeit einander hinreichend nahe gekommen
sind...``
,,Und wer gibt die Ziele vor?`` fragte Franz aufsässig.
,,Im Gegensatz zu Marx sehen die Frankfurter das Heil
der Menschen nicht mehr im Kommunismus. Ihnen ging es vielmehr um den
beharrlichen Versuch, Vernunft in die Welt zu bringen. Die jeweilige
Lage der Menschen ist stets an den objektiven Möglichkeiten zu messen,
die technisch wie politisch realisierbar wären.``
,,Die Untersuchung der objektiven Möglichkeiten gesellschaftlicher
Entwicklungen``, schaltete Pieter sich ein, ,,ist Sache der
empirischen Sozialforschung. Damit wäre der Bezug zur Wissenschaft wieder
hergestellt...``
,,Es bleibt aber das Problem, welche Möglichkeiten realisiert werden
sollten``, unterbrach Franz.
,,Natürlich die ökologisch verträglichsten``, warf Sofie ein.
,,Auch wenn damit Massenarbeitslosigkeit verbunden sein sollte?``
,,Warum sollten sich Beschäftigungs- und Umweltpolitik nicht in
Einklang bringen lassen?`` fragte Hilde vernittelnd.
,,Das scheint mir ein gelungenes Schlußwort zu sein``, nahm Niels
den Gedanken auf. Wir haben eben selbst Beispiele dialektischer Rede
gegeben. Aus These und Gegenthese Synthesen gebildet, um normative
Sozialphilosophie mit empirischer Sozialforschung zu verbinden sowie
Wirtschafts- und Umweltpolitik in Einklang zu bringen. Morgen schauen wir
zu, was es mit der Dialektik der Aufklärung auf sich hat.``
Am Abend stand der Filmroman auf dem Programm.
Danach hatte Sofie sich schnell verabschiedet und war auf ihr Zimmer
gegangen. Sie wollte die Stimmung nachwirken lassen. Welch ein Zauber aus
Bildern, Klängen und Worten!
Die nächste AG-Sitzung begann Niels mit einer Einleitung über den
Fortgang der Institutsarbeit in den USA. Er erläuterte ausführlich einen
Satz Adornos: Der Immanenz ist die Transzendenz immanent. Wie
geschwollen das klang! Dabei war es nur eine andere Formulierung für das
Modell der Ebenen und Krisen. Der Widerspruch zeigt in der Objektsprache
die Metasprache, erinnerte Sofie Russell. Im April 1941 siedelte Horkheimer
nach Los Angeles über. In New York verblieb nur ein Rumpf-Institut. Unter
dem Eindruck des 2. Weltkrieges begann er mit Adorno an dem Dialektik Projekt
zu arbeiten. Nach dem Überfall Hitlers auf die Sowjetunion verschob
sich ihr Interesse endgültig von der Theorie der ausgebliebenen
Revolution auf die Theorie der ausgebliebenen Zivilisation. Es ging
ihnen fortan um eine Dialektik von Kultur und Barbarei.
Niels griff zu einem kleinen Buch. ,,In der Vorrede zur Dialektik
der Aufklärung heißt es: Was wir uns vorgesetzt hatten, war tatsächlich
nicht weniger als die Erkenntnis, warum die Menschheit anstatt in einen
wahrhaft menschlichen Zustand einzutreten, in eine neue Art von Barbarei
versinkt. Die Autoren hatten Mühe, an eine wissenschaftliche Tradition
anzuknüpfen: Bildet die aufmerksame Pflege und Prüfung der
wissenschaftlichen Überlieferung, besonders dort, wo sie von positivistischen
Reinigern als nutzloser Ballast dem Vergessen überantwortet wird, ein Moment
der Erkenntnis, so ist dafür im gegenwärtigen Zusammenbruch bürgerlicher
Zivilisation nicht bloß der Sinn von Wissenschaft fraglich geworden.
Faschisten und Kommunisten hatten sich durch ihre Gewaltherrschaft längst
vom Humanismus verabschiedet. Aber auch in den Demokratien der Alliierten
breiteten sich mehr und mehr Antisemitismus und Rassendiskriminierung aus.
Wir hegen keinen Zweifel, schrieben Horkheimer, Adorno 1944, daß
die Freiheit in der Gesellschaft vom aufklärenden Denken unabtrennbar ist.
Und weiter heißt es: Wir glauben, daß die Ursache des Rückfalls von
Aufklärung in Mythologie nicht so sehr bei
den eigens zum Zwecke des Rückfalls ersonnenen nationalistischen, heidnischen
und sonstigen modernen Mythologien zu suchen ist, sondern bei der in Furcht
vor der Wahrheit erstarrenden
Aufklärung selbst.
Im technischen Fortschritt sahen die Dialektiker zugleich eine
Naturverfallenheit der Menschen, denn die Steigerung der
wirtschaftlichen Produktivität, die einerseits die Bedingungen für eine
gerechtere Welt herstellt, verleiht andererseits dem technischen Apparat und
den sozialen Gruppen, die über sie verfügen, eine unmäßige Überlegenheit
über den Rest der Bevölkerung.
Horkheimer, Adorno untergliederten ihre Arbeit in mehrere philosophische Fragmente:
Die erste Abhandlung, die theoretische Grundlage der folgenden, sucht
die Verflechtung von Rationalität und gesellschaftlicher Wirklichkeit, ebenso
wie die davon untrennbare von Natur und Naturbeherrschung, dem Verständnis
näher zu bringen. Im Zuge der Rationalisierung der Gesellschaft durch
Technik wird nicht nur die äußere Natur, sondern auch die innere Natur
der Menschen beherrscht. Grob ließe die erste Abhandlung in
ihrem kritischen Teil auf zwei Thesen sich bringen: Schon der
Mythos ist Aufklärung, und: Aufklärung schlägt in Mythologie zurück.
In den beiden Exkursen werden die Thesen an spezifischen Gegenständen
durchgeführt. Der Abschnitt Kulturindustrie zeigt die Regression
der Aufklärung an der Ideologie, die in Film und Radio ihren maßgeblichen
Ausdruck findet. Und die thesenhafte Erörterung der Elemente des
Antisemitismus gilt der Rückkehr der aufgeklärten Zivilisation zur
Barbarei in der Wirklichkeit.``
,,Den Rückfall in die Barbarei erleben wir noch immer als ständige
Bedrohung``, meldete Pieter sich zu Wort. ,,Massaker in Afrika,
im Orient, auf dem Balkan, in Nordirland, dem Baskenland, im Tibet gehören
doch zur Tagesordnung. Stammesnationalismus, religiöser Fundamentalismus
und Rassenhaß allerorten``, empörte er sich.
,,Hinzu kommen die zu Millionen in die Industriestaaten drängenden
Asylsuchenden und Armutsflüchtlinge, die den Konflikt um Arbeit und
Wohnung in den Gastländern verschärfen``, ergänzte Franz.
,,Und Naturkatastrophen, wie Lawinen und Überschwemmungen, werden
mehr und mehr als Folgen menschlicher Natureingriffe erkannt``, gab
Sofie zu bedenken. ,,Der schleichend, aber unerbittlich voranschreitende
Treibhauseffekt dürfte bereits
für zusätzliche Orkane, Dürreperioden und extreme Regenfälle
sorgen.``
,,Das sind ja Gründe genug, sich wieder mit der Dialektik der
Aufklärung zu beschäftigen``, knüpfte Niels der Faden weiter.
,,Horkheimer, Adorno beginnen ihre Arbeit am Begriff der
Aufklärung mit den Worten: Seit je hat Aufklärung im umfassendsten
Sinn fortschreitenden Denkens das Ziel verfolgt, von den Menschen die
Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen. Aber die vollends
aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils. Das Programm
der Aufklärung war die Entzauberung der Welt. Sie wollte die Mythen auflösen
und Einbildung durch Wissen stürzen. Bacon, der Vater der experimentellen
Philosophie, hat die Motive schon versammelt. Francis Bacon (1561-1626),
Lord-Kanzler von England, war einer der ersten, der die Bedeutung der
Naturforschung für die Verbesserung des menschlichen Lebens erkannte.
Die glückliche Ehe zwischen dem menschlichen Verstand und der Natur
der Dinge, die er im Sinne hat, ist patriarchal: der Verstand, der den
Aberglauben besiegt, soll über die entzauberte Natur gebieten. Das Wissen,
das Macht ist, kennt keine Schranken, weder in der Versklavung der Kreatur
noch in der Willfährigkeit gegen die Herren der Welt. Und die Autoren
fahren fort: Technik ist das Wesen dieses Wissens.
Es zielt nicht auf Begriffe und Bilder, sondern auf Methode,
Ausnutzung der Arbeit anderer, Kapital. Die Dialektiker sehen in der
Aufklärung nicht nur eine Befreiung von den Zwängen der Natur. Indem der
Mensch dem Naturzusammenhang entrissen wird, dem er entstammt, wird er
aufs neue beherrscht. Und mit der Entzauberung schwinde auch die
Offenbarung. Auf dem Weg zur neuzeitlichen Wissenschaft leisten
die Menschen auf Sinn verzicht. Sie ersetzen den Begriff durch die
Formel, Ursache durch Regel und Wahrscheinlichkeit. Die der bürgerlichen
Gesellschaft erwachsende Aufklärung sei nicht minder totalitär als
der der Stammesgesellschaft entspringende Mythos. Die bürgerliche
Gesellschaft ist beherrscht vom Äquivalent. Sie macht Ungleichnamiges
kompatibel, indem sie es auf abstrakte Größen reduziert. Im
Bildungswesen werde bloß theoretisch gerechtfertigt, was im
Produktionsprozeß längst praktisch vollzogen werde: Die Verweisung
des Denkens aus der Logik ratifiziert im Hörsaal die Versachlichung des
Menschen in Fabrik und Büro``
,,Das sind ja starke Worte``, hob Franz an. ,,Aber wer soll das
verstehen?`` fragte er provozierend. ,,Mit der Logik verschwindet
nicht das Denken. Es kommt vielmehr erst zur Geltung. Und das bürgerliche
Äquivalent des Tauschwertes im warenproduzierenden Kapitalismus ist
Voraussetzung unseres Wohlstandes! Wollt ihr vielleicht wieder in einer
Stammesgesellschaft leben?``
,,Darum geht es doch gar nicht``, meldete Pieter sich zu Wort.
,,Worauf die Dialektiker hinweisen, ist lediglich der Umstand, daß mit
dem Ablösen der Mythologie durch die Aufklärung, der Sinn für die
vernünftige Gestaltung des Ganzen verloren ging. Ebenso die Eingebundenheit
in den Naturzusammenhang. Wir haben auch etwas verloren mit der
Aufklärung.``
Auf dem Weg von der Mythologie zur Logistik hat das Denken das
Element der Reflexion auf sich verloren, und die Maschinerie verstümmelt
die Menschen heute, selbst wenn sie sie ernährt, las Niels vor.
,,Das ist doch Unfug!`` empörte sich Franz. ,,Als ob
Russell und Gödel nicht reflektiert hätten! Sie waren es doch gerade,
die formalen Logiker selbst, die in ihren Formalismen Widersprüche und
Unvollständigkeiten aufdeckten. Die Dialektiker wissen überhaupt nicht
wovon sie reden. Schuster, bleib bei deinem Leisten, kann ich da nur
sagen.``
,,Wenn wir schon bei Volksweisheiten sind``, entgegnete Sofie.
,,Die Aufklärer haben das Kind mit dem Bade ausgeschüttet.``
,,Haben denn die Wissenschaftler irgendwelche Konsequenzen aus den
Untersuchungen Russells und Gödels gezogen?`` fragte Hilde.
,,Machen sie nicht alle weiter wie vorher? So als ob der Rahmen der
Logik nicht längst gesprengt worden wäre?``
,,Die Dialektiker sehen darin die mythische Angst vor dem Tabu.`` Niels nahm wieder das Büchlein zur Hand. Aufklärung ist die radikal gewordene mythische Angst. Die reine Immanenz des Positivismus, ihr letztes Produkt, ist nichts anderes als ein gleichsam universales Tabu. Es darf überhaupt nichts draußen sein, weil die bloße Vorstellung des Draußen die eigentliche Quelle der Angst ist.
In Reaktion auf Russell ist die Mengenlehre axiomatisiert worden. Es gibt
seitdem aber mehrere Mengenlehren, die nach bloßen Nützlichkeitserwägungen
eingesetzt werden. Gesprochen wird über diese Beliebigkeit aber nur ungern.
Der Vergleich mit einem Tabu ist natürlich übertrieben, gleichwohl nicht ganz
von der Hand zu weisen. Gödel ist in der Tat der Durchbruch ins
Draußen gelungen. Und das war eine Folge davon, daß man sich
zuvor ins Drinnen verkrochen hatte. Meiner Ansicht nach bestätigen
Russell und Gödel in der Logik sowie Einstein und Bohr in der Physik, daß
Wissenschaft niemals immanent sein kann. Gegenüber dem Ganzen der
Natur und der Gesellschaft bleiben die Formalismen prinzipiell unvollständig.
Diese Transzendenz der Immanenz, um mit Adorno zu sprechen, ist
aber genau das, was die Dialektiker am Positivismus kritisieren. Wer die
geprägten Münzen der Sprache durch Spielmarken der Logik ersetze,
bringe sich um die Ausdrucksmittel für die Darstellung eines Weges in eine
bessere Gesellschaft. In der Unparteilichkeit der wissenschaftlichen
Sprache hat das Ohnmächtige vollends die Kraft verloren, sich Ausdruck zu
verschaffen, und bloß das Bestehende findet ihr neutrales Zeichen. Das ist
der Grund, weshalb die Dialektiker ihre Untersuchungen in wissenschaftlicher
Prosa verfassen, die sich nicht formalisieren läßt.``
,,Dazu fällt mir eine Parallele zu Wittgenstein ein``, begann Hilde
langsam. ,,Die Dialektiker suchten das Unaussprechliche gleichsam nach
außen hin zu befreien. Wittgenstein dagegen wollte es von innen her
begrenzen. Denn sein Anliegen galt ja eigentlich der Ethik und Mystik.``
,,Deshalb hat er sich entschieden vom Positivismus distanziert``,
entgegnete Niels und leitete über: ,,Kommen wir abschließend zur
Dialektik,
wie Horkheimer, Adorno sie in der Aufklärung am
Werk sehen. Alles ist, was es ist, indem es zu dem wird, was es
nicht ist.``
,,Welch eine erhellende Formulierung``, spöttelte Franz.
,,Gleichwohl solltest Du sie erst `mal sacken lassen, bevor Du Dich darüber lustig machst``, fuhr Niels fort. ,,Ich glaube, jeder kennt das Gefühl, das einem beschleicht, wenn etwas unwiederbringlich verloren gegangen ist. Das Glück der Kindheit versteht man erst als Erwachsener. Die Bedeutung der Schule, wenn man im Berufsleben steht. Den Wert eines guten Freundes, wenn er gestorben ist.`` Niels schaute in die Runde. Auch Franz war nachdenklich geworden. Nach einer Pause spannte er den Bogen zum Thema: ,,Der Animismus hatte die Sache beseelt, der Industrialismus versachlicht die Seelen, schreiben Horkheimer, Adorno. Die Kehrseite einer Entwicklung erkennt man erst, wenn sie vorüber ist. Das von Zivilisation vollends erfaßte Selbst löst sich auf in ein Element jener Unmenschlichkeit, der Zivilisation von Anbeginn zu entrinnen trachtete. Mit der Verdrängung des Mythos wurde die Furcht vor der unerfaßten, drohenden Natur, zum animistischen Aberglauben herabgesetzt und die Beherrschung der Natur drinnen und draußen zum absoluten Lebenszweck gemacht. Erst mit der Vollendung der Aufklärung sehen wir, daß sie in Mythologie umgeschlagen ist und daß die Mythologie schon Aufklärung war.
Heute nachmittag bleibt euch Zeit für die Hausaufgabe. Morgen werden wir mit
den Exkursen fortfahren. Nell wird über Odysseus oder Mythos und
Aufklärung vortragen. Juliette oder Aufklärung und Moral wird
Ulrichs Thema sein.``
Sofie spazierte sinnend über den Campus. Alles ist, was es ist, indem es zu dem wird, was es nicht ist, widerhallte es in ihr. Was man an einem Freund hat, merkt man besonders, wenn er nicht mehr da ist. Das war zweifellos richtig. Sei meinte, dem Verständnis von Dialektik nähergekommen zu sein. Daß ich alle Dinge stillschweigend als Teilchen angesehen habe, merke ich erst, wenn sie als Wellen auftreten, dachte sie in Erinnerung an Bohr. In der Quantentheorie blieben Teilchen- und Wellenbild aufgehoben ... bis auf die Unschärfe. In der kritischen Theorie blieben Mythologie und Aufklärung aufgehoben ... bis auf ...
Sofies Blick fiel auf ein Plakat:
Bob Dylan
on stage ... Am nächsten
Samstag gastierte die Folk-Rock-Legende der 60er hier. Was hatte Chris
ihr nicht alles von ihm vorgeschwärmt. Gedankenversunken bemerkte sie nicht,
daß Pieter hinzugetreten war.
,,Gehst Du auch ins Dylan Konzert``, fragte er leicht unsicher. Mechanisch drehte sie sich zur Seite und schaute ihn an. Langsam verblaßten ihre Erinnerungen ... ,,Wir könnten zusammen gehen``, hörte sie Pieter vorschlagen. Seine Schüchternheit war rührend. ,,Warum nicht``, erwiderte sie knapp. Sollte sie ihm von Chris erzählen? Ihr fiel etwas besseres ein. ,,Hast Du Dich für Homer oder Sade entschieden?`` fragte sie unvermittelt und sah ihn forschend an. Die Frage verfehlte nicht ihre Wirkung. ,,Äh, nun ... , da ich Homer kenne, Sade aber nicht, wollte ich mich mit Sade beschäftigen.`` Er hatte Mühe, seine Stimme nicht zittern zu lassen. Leichte Röte stieg ihm ins Gesicht. Sofie weidete sich an seiner Unsicherheit. Hier war sie die Stärkere. Verschmitzt lächelte sie ihn an und nahm ihn fröhlich bei der Hand. Warum sollte sie nicht auch `mal ein Spielchen wagen? Der Abend war dem Kino vorbehalten.