Das klang aber schwer nach Sozialdarwinismus, dachte Sofie ... Wir werden das Verbrechen so malen wie es ist, das heißt immer triumphierend, immer zufrieden, immer beglückt, und ebenso die Tugend, wie sie wirklich aussieht: immer unglücklich, immer leidend, immer unterliegend. Das müssen ja schlimme Zeiten gewesen sein ... Aber war es heute wirklich so viel besser? Ein furchtbarer Verdacht beschlich sie. Starben nicht Tausende immer noch unter der Knute ihrer Peiniger? Bestand die wahre Klugheit nicht nach wie vor darin, die Zahl seiner Freuden und nicht die seiner Leiden zu vermehren? ... Man liebt nur Leute, von denen man hofft, Annehmlichkeiten zu empfangen. Sofie mußte an Chris denken, der ihr `mal in seiner entwaffenden Offenheit gesagt hatte, daß er sie nur liebe, um Sex zu bekommen und sie ihm wohl nur Sex gebe, um Liebe zu bekommen ... Die tugendhafte Justine war unterdessen in ein Bordell geraten: Fügt sich ein junges Mädchen selbst Schaden an, wenn es der Wollust lebt? Zweifellos nein; denn es folgt nur der Natur ... .
`Mal sehen, wie's Juliette erging, fragte Sofie sich und blätterte weiter
vor: Justine und ich wurden im Panthemont Kloster erzogen. Sie wissen,
daß diese Abtei sehr berühmt ist und daß seit Jahren aus ihr die hübschesten
und liebestollsten Pariserinnen hervorgingen. Welch heitere Ironie, dachte
Sofie. Mephist kam ihr in den Sinn, ein Teil von jener Kraft,
die stets das Böse will, und stets das Gute schafft. Wie schön es
gewesen war, als sie mit Chris zusammen FAUST gelesen hatte und er so
sehr in der Rolle MEPHIST' aufging. Sie ließ seufzend den Kopf ins
Kissen fallen, so daß Sade zuklappte und vom Bett rutschte. Ulrich hatte
von der Zweiseitigkeit des Lebens gesprochen, Niels nannte es
Gegenwirkungsprinzip: FAUST und MEPHIST, Aufklärung und Sadismus ... ,
Licht und ... Schatten ... hüllte sie ein ...
Niels und Hilde saßen aufgeregt vor dem Rechner. Da Niels auf Nachrichten
vom Ausgang der Higgs-Experimente wartete, hatte er noch `mal seine Mailbox
gesichtet. Er hatte zwar keine Mail aus Hamburg bekommen, dafür aber
eine aus München, vom Max Planck Institut für Physik. Ein ehemaliger
Kommilitone berichtete darüber, daß er einen Vorschlag zur experimentellen
Überprüfung der Viele-Welten-Interpretation gemacht habe. ,,Das
wär' ja `n Hammer!`` rief Niels aus. Die beiden schauten sich an.
,,Stell Dir vor, das Experiment verläuft positiv!``
Hilde hatte die Mail zwar auch gelesen, aber kaum `was verstanden.
,,Kannst Du mir nicht vorab `mal das Experiment erläutern?`` drängte
sie.
Ganz aus dem Häuschen, legte er los: ,,Rainer hat einen Vorgang
zum Zwischenwelt-Austausch beschrieben. Ein einzelnes Ion wird
von seiner Umgebung isoliert und in einer Ionenfalle gefangen.
An einem anderen System wird eine Messung mit zwei möglichen Ereignissen
ausgeführt. Daraus ergeben sich zwei parallele Welten. In Abhängigkeit
des Ergebnisses wird das Ion angeregt, und zwar nur aufgrund des Einflusses
aus einer Welt. Die Anregung des Ions erfolgt, bevor es mit seiner Umgebung
wechselwirkt! Eine Registrierung dieser Anregung in der anderen Welt wäre
ein Indiz zur Bestätigung der Viele-Welten-Annahme.`` Niels schaute
Hilde mit großen Augen an.
Sie dachte einen Moment nach und rief sich die
Zustandsreduktion in
Erinnerung. ,,Das heißt aber doch``, begann sie zögernd,
,,daß der Kollaps der Wellenfunktion eine gewisse Zeit
dauert ... ``
,,Du hast es erfaßt!`` rief Niels begeistert. ,,Der
Übergang vom reinen bzw. kohärenten Zustand mit Interferenz in
den dekohärenten Zustand des Gemenges dauert eine Weile, die lang
genug ist, um Messungen auszuführen. Nach der Messung des
Zwei-Zustands-Systems befindet sich das Ion noch in seiner
Dekohärenzzeit; bildet quasi einen gateway state
zwischen den Welten ... ``
,,Da sich die Welten also kurzzeitig überlappen, kann das isolierte
Ion quasi als Schlupfloch in die andere Welt angesehen werden ...
Faszinierend!``
Die Hochstimmung der beiden währte bis tief in die Nacht. Niels
phantasierte von Singularitäten und Wurmlöchern in der
Raumzeit, von schwarzen Löchern ohne Haare ... , von Wegen der
Natur ...
Das Wochenende war für Sofie ereignisreich und unterhaltsam verlaufen. Ob sie sich weiter an der Sade-AG beteiligen sollte, wußte sie noch nicht. Sie meinte, die Kehrseite der Aufklärung verstanden zu haben. Eine Religionskritik darf nicht das Kind mit dem Bade ausschütten und auf jegliche Moral verzichten. Das galt ebenso für die Neopositivisten! Sofie hatte sich darüber gewundert, daß Anja mit Ulrich ihre sado-masochistischen Neigungen ausleben wollte. Mitzumachen hatte sie sich nicht getraut.
Der Besuch in Stanford war großartig! Was für eine schöne Universität. Die Studiengebühren von rund DM 40.000.- pro Jahr, mußte man allerdings erst `mal aufbringen. Die Begegnung mit Chris verlief angespannt. Janet war ein hübsches und vielseitig interessiertes Mädchen. Sie hatte gerade zu studieren begonnen und gehörte noch zu den fresh men. Neben den Grundkursen zu den basic ideas of science and humanities hatte sie als major Mathematik gewählt. Chris hatte sie natürlich für die Jugendbewegungen begeistert.
Auf der saturday night party war Sofie mit dem Logiker ins Gespräch
gekommen. Er hieß Pieter und kam aus Amsterdam. Dort studierte er computer
science und social studies. Nachdem er Willem van Reijens,
Philosophie als Kritik gelesen hatte, wollte er darüber weiter arbeiten.
Er hatte eigentlich wenig gesprochen, aber umso mehr gesagt.
Ihren Vorschlag, Persönlichkeitszustände in Analogie zu quantennechanischen
Zustandsüberlagerungen zu verstehen, hatte er allerdings als kategorialen
Mißgriff abgetan. Auf jeden Fall wollten sie sich gemeinsam alle Folgen der
Zweiten Heimat
ansehen.
Am Montag morgen versammelten sich die Schüler der Kritik-AG in einem
Seminarraum ihrer Akademie. Die Terrasse sollte reihum allen AG's zur
Verfügung stehen. Nachdem fast alle eingetrudelt waren, begann Niels mit
der Weiterführung des Logischen Empirismus. Zunächst wiederholte er die
Hauptpunkte der Diskussion vom letzten Mal ...
Sofie saß mit Hilde und Pieter zusammen. Ulrich fehlte. Vielleicht hatte
Anja ihn ja zu sehr `rangenommen, dachte Sofie in einem Anflug morbider
Schadenfreude. Sade's Grausamkeiten waren schon eine Zumutung. Aber wer
nur in logischen Kategorien denkt ...
,,Im Anschluß an Wittgenstein``, hörte Sofie Niels sagen, ,,teilten
sich Ideal- und Umgangssprachler die Arbeit. Die Neopositivisten wurden
natürlich hauptsächlich von letzteren kritisiert. Aber auch die Logiker
sparten nicht mit Kritik. So wurde eingewandt, daß eine Sprache niemals allein
aus Sinnesdaten bzw. Beobachtungssätzen aufgebaut werden könne.
Die mit der Sprache zu unterstellenden Existenzannahmen seien stets
reichhaltiger als die empirische Basis. Umgekehrt könnten verschiedene
Sprachen grundsätzlich nicht auf eine Basissprache reduziert werden, da es
immer eine Übersetzungsunbestimmtheit
gebe. Wie das Induktionsproblem gezeigt habe, könnten
Theorien nicht allein auf der Grundlage von Beobachtungssätzen nach
logischen Regeln abgeleitet werden. D.h. Theorien
seien niemals verifizierbar. Deshalb gehe der
Falsifikationismus
davon aus, daß Theorien an Hand ihrer Folgerungen
zu widerlegen seien. Widerlegen statt
Beweisen, lautet das Motto. Aber auch das gelänge nicht zwingend, da jeder
Kritik mit ad-hoc Hypothesen begegnet werden könne ... ``
,,Moment mal``, meldete sich ein Schüler zu Wort. ,,Die
Quantentheorie ist doch aus dem beobachteten Frequenzverlauf der Wärmestrahlung
hervorgegangen. Und die Relativitätstheorie folgte aus den gescheiterten
Ätherdrift-Experimenten.``
,,Weit gefehlt``, entgegnete Niels. ,,Durch die ad-hoc Hypothesen einer Verkürzung der Maßstäbe und Verlangsamung der Uhren, konnten Theorie und Experiment durch Lorentz bereits vor Einstein in Einklang gebracht werden. Und die Existenz des Wirkungsquantums ließ sich durch die ad-hoc Hypothese einer Quantenkraft mit der klassischen Theorie vereinbaren. Ganz im Sinne des Newton'schen Programms.
Beide Theorien wurden wesentlich aus theoretischen Erwägungen heraus entwickelt. Einstein hielt sich an abstrakte Prinzipien, wie den Energiesatz oder das Relativitätsprinzip. So konnte er nicht nur theoretisch die Äquivalenz von Masse und Energie herleiten, sondern auch die Proportionalität von Energie und Frequenz eines Lichtkomplexes folgern; das Quantenpostulat also aus der Relativitätstheorie ableiten.
Die mit der täglichen Forschungsarbeit befaßten Wissenschaftler hatten somit wenig Verständnis für die logisch-empiristische Philosophie ihrer Wissenschaft. Der tatsächliche Verlauf der Wissenschaften wurde denn auch von den Historikern gegen die Neopositivisten ins Feld geführt. Die Wissenschaft werde weniger durch methodologische Regeln des Begründens oder Widerlegens vorangebracht; vielmehr seien es die persönlichen Interessen und Überzeugungen der Forscher, die Vorgaben der Institutsdirektoren und Geldgeber aus Staat und Industrie, die fördernd oder behindernd auf die Forschung einwirkten.
Zu den persönlichen Überzeugungen der Wissenschaftler zählen die
Themata, z.B. des
Atomismus, Determinismus oder Realismus. Dazu kommen die
Paradigmen genannten
Grundannahmen wissenschaftlicher Schulen, wie z.B. der klassischen Physik
im Gegensatz zur Modernen Physik. Innerhalb der Modernen Physik wiederum
gibt es das Standardmodell, aber auch abweichende Richtungen.
Die den Paradigmen unterfallenden Forschungsprojekte werden häufig zu
ganzen Forschungsprogrammen zusammengefaßt und organisiert.
Die Untersuchung der Wärmestrahlung gegen Ende des 19. Jahrhunderts erfolgte
z.B. im Rahmen eines Forschungsprogramms zur Entwicklung von
Hochtemperatur-Meßverfahren für die Schwerindustrie. Gegenwärtig gibt
es umfangreiche Forschungsprogramme zur Entwicklung von Therapieverfahren
gegen Krebs und AIDS, BSE und Altzheimer.``
,,Dann scheint es ja im Wissenschaftsbetrieb ähnlich chaotisch zuzugehen,
wie in der Politik``, gab eine Schülerin zu bedenken. ,,Gibt es denn
keine Logik der Forschung?``
,,Die Entstehungs- und Verwertungszusammenhänge der Wissenschaft lassen
in der Tat wenig Rationalität erkennen. Aber auch der
Begründungszusammenhang folgt nicht immer strenger Logik, wie
die Neopositivisten zu rekonstruieren versuchten. Insbesondere beim
Übergang zwischen Themata und Paradigmen zählt mehr die Rhetorik der
Propaganda als die Logik des besseren Arguments. Einstein rückte
z.B. zeitlebens nicht von dem Paradigma der klassischen Physik ab;
ebenso Planck und Schrödinger. Und bei der Beurteilung der Weltsysteme
hatten die Kirchenväter durchaus die besseren Argumente. Galilei war aber
ein geschickter Rhetoriker. Nach dem gesunden Menschenverstand ist es doch
absurd anzunehmen, daß sich die Erde um sich selbst drehen und mit hoher
Geschwindigkeit durchs All rasen solle. Ebenso absurd ist es,
physikalische Bewegungen auf Zufälle gründen und instantane
Fernwirkungen annehmen zu wollen.
Der Wissenschaftsphilosoph Paul K. Feyerabend zog aus der Irrationalität
der Forschungspraxis die Konsequenz des Künstlers und redete einer
dadaistischen Erkenntistheorie das Wort. In seinem Buch
Wider den Methodenzwang kommt er nach detaillierten Fallstudien
zur Wissenschaftsgeschichte zu dem Ergebnis, daß die Forscher am
Kreativsten sind, wenn sie machen, was wollen: anything goes. Eine
interpretierende Philosophie sei überflüssig: Bürgerinitiativen
statt Philosophie! lautet sein Motto.``
,,Wissenschaftsintern sollten die Forscher machen können, was sie
wollen. Über die Entstehung und Verwertung von Froschungsprogrammen
sollte politisch entschieden werden``, begann Pieter. ,,Das
scheint mir sehr vernünftig. Deshalb aber gleich die ganze
Wissenschaftsphilosophie durch Bürgerinitiativen ersetzen zu wollen,
halte ich für übertrieben. Die Neopositivisten hatten mit
Metaphysik-Kritik begonnen; die empirischen Wissenschaften aber
kaum kritisiert, sie lediglich analysiert. Damit trugen sie zu deren
Mißbrauch im militärisch-industriellen Komplex bei. Mein Motto lautet
daher: Kritische Theorie statt Positivismus!``
,,Gut, greifen wir Deinen Vorschlag auf und begeben uns in die Gefilde der Sozialphilosophie!`` entgegnete Niels. ,,Die Kritik der Umgangssprachler am Positivismus können wir auch in Verbindung mit der kritischen Theorie behandeln.
Nach dem Sturz des Kaisers und der Novemberrevolution gab es in Deutschland viele Bestrebungen zum Umsturz und zur Gewinnung der Massen. Aufgrund der wirtschaftlichen Misere hatten die Republikaner in der Auseinandersetzung mit den Kommunisten und Faschisten keine Chance. Die Rechten fanden nicht nur Rückhalt im nach wie vor obrigkeitsstaatlichen Verwaltungs- und Militärapparat. Sie vermochten auch durch Mythen, Legenden und Symbole die dumpfen Gefühle und Leidenschaften der Massen in Wallung zu versetzen. Hitler verstand es in meisterhafter Weise mit Schlagworten und Parolen das Volk in Stimmung zu bringen. So spielte er mit dem Schlagwort von der Zinsknechtschaft auf die Legende von der erstrebten Weltherrschaft des Judentums an. Als Novemberverbrecher beschimpfte er die Friedensstifter von Versaille und knüpfte an die Legende vom Dolchstoß in den Rücken des im Felde unbesiegten Heeres an. Schon in Mein Kampf legte er die Grundlage für den später immer wieder beschworenen Führer- und Heldenmythos. Und mit dem Symbol des Hakenkreuzes als Lichtzeichen aller nordischen Völker konnte er im Gegensatz zu den Parteisymbolen seiner Gegner alte, tiefverwurzelte Mythen in der Volksseele wachrufen. Mit Bedacht wurden dabei die Farbkontraste des schwarzen Hakenkreuzes im weißen Rund auf blutrotem Hintergrund gewählt. Durch das Heilszeichen der Swastika als Sonnensymbol wurde der Sieg des ,,arischen`` Menschen verkündet. Die Licht-Dunkel-Symbolik knüpfte an den Kampf des Lichts, des Lebens, des Guten an gegen die Finsternis, den Tod, das Böse. Die Farben konnten auch kurz und bündig auf den Punkt gebracht werden: Das Rot ist sozial, das Weiß national und das Hakenkreuz antisemitisch.
Den uralten germanischen Mythen und politischen Legenden hatten die
in der Tradition der Aufklärung stehenden Republikaner wenig entgegenzusetzen.
Wer Brot und Arbeit im Heil eines arischen Paradieses verspricht, schürt
eine religiöse Heilserwartung, der mit Argumenten nicht begegnet werden
kann. Einzig die Verbesserung der wirtschaftlichen Misere konnte da weiterhelfen.
So schloß sich z.B. der später im Wiener Kreis mitwirkende Otto Neurath
um die Jahreswende 1918/19 der breiten Massenbewegung zur Schaffung
einer sozialistischen Wirtschaftsordnung an: So wie man die
Volkswirtschaft durch ein Hindenburgprogramm dem Kriege dienstbar machen
konnte, müßte man sie auch dem Glück aller dienstbar manchen können.
In einem Referat vor dem Arbeiterrat führte er aus: Eine
Wirtschaft sozialisieren heißt, sie einer planmäßigen Verwaltung zu
Gunsten der Gesellschaft durch die Gesellschaft zuzuführen. Nebenbeibemerkt:
Vor Arbeitern sprach in den 20ern auch der Gefühlssozialist
Albert Einstein.
Im Berliner Arbeiterrat wirkte 1919 Felix Weil, ein Student der Wirtschafts- und Sozialwissenschaft aus reichem Hause. In einem Vortrag machte er sich Gedanken über Wesen und Wege der Sozialisierung. 1923 erfolgte auf Initiative des Unternehmersohns die ministerielle Genehmigung für die Errichtung eines Instituts für Sozialforschung an der Universität Frankfurt. Am 22. Juni 1924 fand die Einweihungsfeier statt. Es sollte zu einem Institut für Forschungen über die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung, über Wirtschaftsgeschichte und Geschichte und Kritik der politischen Ökonomie werden. Von Anfang an stellte sich damit die Frage nach der Objektivität sozialwissenschaftlicher Erkenntnis. Ab 1930 versuchte Max Horkheimer (1895-1973) die Krise des Marxismus vermittels der Durchdringung von Sozialphilosophie und empirischen Sozialwissenschaften zu überwinden. Ähnlich wie die Wiener übten auch die Frankfurter Metaphysik-Kritik: Das einst religiös verkleidete Ungenügen an der irdischen Ordnung sollte von den neueren mythologischen Verkleidungen der Rechten freigehalten werden, um zu einer wissenschaftlichen Theorie von der Gesellschaft zu kommen. Im Gegensatz zu den Positivisten, forderte Horkheimer aber nicht nur Tatsachenerkenntnis und Klarheit über das Grundsätzliche. Vielmehr ging es ihm darum, aus der Erfahrung der ganzen Unmenschlichkeit des kapitalistischen Arbeitsprozesses die drängende Notwendigkeit der Änderung zu folgern. Leitwissenschaft wurde den Frankfurtern nicht die Physik, sondern die Soziologie. Neben dem Marxismus ging die Theorie aus Psychoanalyse und Existentialismus hervor.
Max Horkheimer übernahm am 24. Januar 1931 den Lehrstuhl für Sozialphilosophie
und die Leitung des Instituts für Sozialforschung. In seiner Antrittsrede
betonte er die Hoffnung, daß wirkliche Erkenntnisse im Unterschied zu
verklärender Ideologie den Menschen als Mittel dienen könnten, Sinn
und Vernunft in die Welt zu bringen. Als Ziel der Sozialphilosophie
galt ihm die philosophische Deutung des Schicksals der Menschen,
insofern sie nicht bloß Individuen, sondern Glieder einer Gemeinschaft
sind.
Etwa ein Vierteljahr nach Horkheimers Arbeitsbeginn in Frankfurt kam Theodor Wiesengrund-Adorno (1903-1969) als Privatdozent nach Frankfurt. Er hatte neben Philosophie auch Musik studiert und ging 1925 nach Wien, um im Schönbergkreis Kompositionsunterricht zu nehmen. Die Ästhetik wurde ihm natürlich wichtigste Disziplin der Philosophie. In der Zwölftontechnik sah er einen wesentlichen Fortschritt im Rationalisierungsprozeß der europäischen Musik sowie im Prozeß der Entmythologisierung der Musik.
In den Jahren 1930 bis `32 kam es als Folge der Weltwirtschaftskrise
zu einem dramatischen Anschwellen des Kommunismus und Faschismus. Ihrer
Zielsetzung folgend, Philosophie mit Sozialforschung zu verbinden, begannen
die Frankfurter mit einem Vorhaben, die tatsächliche Lage der Arbeiter
und Angestellten in Erfahrung zu bringen. Vor Abschluß der Erhebung
mußten sie allerdings die Flucht ergreifen, da Hilter am 30. Januar 1933
Reichskanzler geworden war. Das Institut wurde nach Genf verlegt.
Um empirische Anhaltspunkte für die sozialen Umstände zu erhalten, die
Rechtsradikalismus begünstigten, wurden in mehreren europäischen
Staaten Erhebungen begonnen. Insbesondere in Studien über Autorität
und Familie sollten die Zusammenhänge über Autoritätswandel und
Familienunterhalt untersucht werden. Da sich auch in den USA die soziale
Lage durch Arbeitslosigkeit und Einwanderung zu verschlechtern begann,
ergab sich die Möglichkeit, die Untersuchungen an der
Columbia University
fortzusetzen. 1934 erfolgte in New York die Gründung des
International Institute of Social Research. Im Fortgang der
Erhebungen zeigte sich, daß Arbeitslosigkeit die Autorität des
Familienoberhaupts untergrabe und die Familienmitglieder verstärkt der
Staatsautorität anheim fielen.
In theoretischer Hinsicht begannen Horkheimer und Adorno gegen Ende der
30er Jahre eine Zusammenarbeit an einem Dialektik Projekt. Aus ihm
ging die 1947 in Amsterdam veröffentlichte Dialektik der
Aufklärung hervor. Eine grundsätzliche Kritik am Positivismus schrieb
Horkheimer 1937 unter dem Titel Traditionelle und kritische Theorie.
Sie stand unter dem Motto: Dialektik statt Szientismus! Der Logische
Empirismus hatte sich in den USA schnell verbreitet. Nach der Übernahme
Österreichs ins Deutsche Reich, war auch den Wienern die Emigration nicht
erspart geblieben.`` Niels machte eine Pause und schaute in die
Runde. ,,Ich denke, wir sind reif fürs Mittagessen.
Guten Appetit!``
,,Bürgerinitiativen statt Philosophie! Ein überzogenes Motto,
aber es gefällt mir``,
begann Pieter auf dem Weg zur Mensa. ,,Schade, daß wir Feyerabend
nicht mehr erleben können. Zwischen 1958 und 1990 war er hier als
Wissenschaftsphilosoph tätig. Er kam aus Wien und war berüchtigt für
seinen Scharfsinn und sein großes Maul. Neben Physik und Philosophie
hatte er auch Theater und
Gesang studiert. In Deutschland hätte man ihn einen Till Eulenspiegel
genannt: Der Narr, der der Weisheit den Spiegel vorhält. So hielt er
einmal einen Vortrag mit dem Titel: Die Wissenschaftstheorie - eine
bisher unbekannte Form des Irrsinns?``
,,Wieso es übehaupt eine Wissenschaftstheorie geben muß, ist mir
auch nicht klar``, erwiderte Sofie. ,,Einstein und Bohr verstanden
ihre Physik doch wohl am besten und stritten sich zudem ihr Leben lang über
Metaphysik; waren also Wissenschaftler und Philosophen in einem.``
,,Feyerabend redete einem radikalen Relativismus das Wort. So wie
in den westlichen Demokratien Kirche und Staat getrennt seien, solle man
auch Wissenschaft und Staat auseinanderhalten und allen
Erkenntnisformen im freien Spiel der Kräfte gleiche Chancen
einräumen.``
,,Also Astronomie und Astrologie, Meteorologie und Regentänze,
Medizin und Wunderheiler auf eine Stufe stellen?`` fragte Hilde
verblüfft. ,,Das ist doch absurd!``
Am Nachmittag fanden sich die Sommerschüler wieder im Seminarraum
zusammen und begannen mit einer Diskussion der dadaistischen
Erkenntnistheorie. Die Radikalität und der Witz
Feyerabends
hatten Sofie sichtlich verwirrt. Jedenfalls waren die meisten
Philosophen viel zu ernst ...