,,Soviel zu Bohr. Es wäre schön, wenn ihr euch im Laufe der
Sommerschule für eine Hausarbeit aus einer der drei genannten Schulen
entscheiden könntet.`` Unverwandt schaute Niels auf Hilde und
Sofie. ,,Ich hatte Literatur zum Studium der
Kopenhagener Schule
Bohrs, der Frankfurter Schule
Horkheimers sowie des Wiener Kreises
um Moritz Schlick vorgestellt. Heute nachmittag werde ich
zur Orientierung die Forschungsprogramme der drei Schulen vorstellen.
In der nächsten Woche sollten wir dann die Kritische Theorie der
Frankfurter zum Schwerpunkt unserer Arbeit machen.``
,,Können wir auch eine Hausarbeit zum Vergleich der drei Schulen
versuchen?`` fragte ein Schüler.
,,Natürlich, wenn Du den Aufwand nicht scheust``, entgegnete
Niels und ergänzte: ,,Zudem könnt ihr euch auch in die Schattenseiten
der Aufklärung einarbeiten. Über Nietzsches Willen zur Macht
schreiben oder de' Sades Leiden der Tugend und Wonnen des
Lasters folgen.``
Niels griff nach einer dicken Schwarte. ,,In der Dialektik der
Aufklärung würdigen Horkheimer und Adorno de' Sades Beitrag zur
schwarzen Aufklärung mit dem Hinweis: Daß Sades es nicht den
Gegnern überließ, die Aufklärung sich über sich selbst entsetzen
zu lassen, macht sein Werk zu einem Hebel ihrer Rettung.``
Sofie beschlich ein seltsames Gefühl aus Neugier und Widerwille. Es
drängte sie zur Äußerung: ,,Mich interessiert de' Sade``, meldete
sie sich.
Verwundert blickte Niels sie an. ,,Genug der Einleitung. Wir sehen uns
am Nachmittag wieder.`` Er stand auf und trat mit der Schwarte in der
Hand auf Sofie zu. ,,Willst Du nachlesen, wie Du's Chris heimzahlen
kannst?`` fragte er lächelnd.
,,Vielleicht ... Wer weiß?`` Sofie blickte ihn verschmitzt an.
,,Hi, ich interessiere mich auch für de'Sade.``
Sofie wandte sich zur Seite und schaute in ein gepflegtes Männergesicht.
Schütteres, nach hinten gekämmtes Haar. Glatt rasierter Bart. Der Duft
seines Rasierwassers irritierte sie leicht. Aber seine grünen Augen
schauten sie offen an. ,,Ich heiße Ulrich und komme aus Wien.
Vielleicht können wir eine de' Sade-AG gründen.``
Das ist ein Mann mit gepflegtem Äusseren in mittleren Jahren, dachte
Sofie. Was macht so einer in der Sommerschule? Gesammelt antwortete sie:
,,Sofie. Ich entstamme einem Philosophiekurs.`` Sie wandte sich
auf den Weg zur Mensa.
,,Ich bin ein Mann ohne Eigenschaften. Womöglich entdecke ich bei
de' Sade eigene Leichen im Keller...``
,,Hi, wollt ihr auch in die Mensa?`` Sofie war froh, auf Anja
zu treffen. Die konnte sicher die Situation retten. Und so stellte sie ihr
etwas übereilt Ulrich vor. Unvermittelt kam sie zur Sache. ,,Wir sind
im Begriff eine de' Sade-AG zu gründen. Hast Du nicht Lust
mitzumachen?`` Sofies hilfloser Blick ließ Anja keine Wahl.
,,Klar hätt' ich mal wieder Lust, fies und gemein zu sein. Es macht
mir immer einen Heidenspaß, so wie ein Schwein zu sein ... ``, löste
sie scherzend die Anspannung und setzte noch einen drauf: ,,Gehst
Du zum Manne, vergiß die Peitsche nicht!`` Unverhohlen sah sie
Ulrich an.
,,Aber vergiß nicht, daß der Köper eines Menschen seine Seele
ist``, erwiderte Ulrich trocken.
,,Den Zustand werden Männer auf dem Weg zum Menschsein hoffentlich
auch noch erreichen.``
,,Sofern die Moral zuvor nicht die Seele gänzlich durch Logik
ersetzt hat``, merkte Ulrich ungerührt an. ,,Ich bevorzuge
jedenfalls nicht das Fühlen vor dem Gefühl.``
In Sofies bis Stanford ausgedehntem Körper brauchte jeder Reiz wunderbar
lange, bis er ihr Gehirn erreichte. Einer Eingebung folgend sagte sie leise:
,,Wenn der Mensch frei ist, ist er unglücklich.``
,,Dein Gefühl hat noch nicht gelernt, sich Deines Verstandes zu bedienen``, flüsterte Ulrich ihr zu. Und angesichts der Mensa sagte er laut: ,,Die Triebkräfte der Persönlichkeit sind nicht dem sogenannten Herzen verbunden, sondern mit dem tractus abdominalis, den Eßvorgängen.``
Beim Essen mußte Sofie ständig daran denken, warum ihr Ulrich bisher nicht
aufgefallen war. Wie selektiv doch unsere Wahrnehmung ist. Verstohlen schaute
sie ihm zu. Mit Anja schien er sich prächtig zu verstehen. Jedenfalls
begleitete häufiges Lachen ihr Gespräch. Ulrich war zwar recht alt,
aber nicht ohne Charme und Humor. Was ihn wohl am Sadismus interessierte?
Oder sollte er sich nur an sie heranmachen wollen? War sie momentan besonders
anfällig für Verführungen?
,,Das Leben bildet eine Oberfläche, die so tut, als ob sie so sein
müßte, wie sie ist, aber unter der Haut treiben und drängen die
Dinge.`` Ulrichs Stimme hatte
Sofie aufmerken lassen. Munter sah er sie an: ,,Wohin drängt es
Dich denn gerade?`` fragte er frei heraus.
,,Nach Stanford``, hörte sie sich anworten.
,,Dann laßt uns doch am Wochenende einen kleinen Ausflug machen``,
schlug Anja vor und lächelte Sofie wissend zu.
Am Nachmittag fanden sie sich wieder auf der Terrasse ihrer Akademie zusammen. Niels begann: ,,Aus den Umwälzungen in Kultur, Gesellschaft und Technik gingen um die letzte Jahrhundertwende neue Wissenschaften, Künste und eine Vielzahl technischer Erfindungen hervor. Nach dem Untergang der Monarchien in Deutschland, Österreich und Rußland begann insbesondere in Deutschland mit der Weimarer Republik eine kurze Zeit der Hochstimmung. Aber es war ein Tanz auf dem Vulkan. Das Entsetzen über die millionenfachen Massaker des 1. Weltkrieges hinterließ eine verlorene Generation. Desillusioniert gab man sich dem Vergnügen einer FIESTA hin. Alle benehmen sich schlecht. Man muß ihnen nur die Gelegenheit bieten, schreibt Hemingway 1926. Gelegenheiten für schlechtes Benehmen sollte es noch viele geben.
Die Absurdität der Materialschlachten zwischen zivilisierten Nationen gebar eine absurde Kunst: Schluß mit den Träumen einer imperialistischen allmächtigen deutschen Vorherrschaft. Spartakus war auf allen Straßen, an allen Orten, und im erschütterten Berlin erregte sich DADA. Die Dadaisten suchten sich mit Collagen und Aktionen aller Formen und Gebräuche zu bedienen, um die Kategorien des Guten, Wahren und Schönen der bürgerlichen Kultur als hohl und pharisäerhaft zu entlarven. Wozu Geist haben in einer Welt, die mechanisch weiterläuft? fragten sie ironisch. Ein Dadaist ist ein Mensch, der das Leben in allen seinen unübersehbaren Gestalten liebt und der weiß und sagt: Nicht allein hier, sondern auch da, da, da ist das Leben!
Der feinsinnige Bürger und Liebhaber der Dichtung, Musik und Philosophie geht ins Magische Theater, um als Steppenwolf den Verstand zu verlieren. Im Rausch der Drogen, des Tanzes und der Wollust sucht er sich in der unio mystica der Freude zu verzehren. Der grobsinnliche Prolet endet in Berlin Alexanderplatz auf der Jagd nach dem Guten im Irrenhaus. Der Moloch der Stadt hat lautlos an ihm das Opfer vollzogen. Im Variete frönt man den Tänzen des Lasters. Nach dem Jugenstil der Jahrhundertwende begeistern sich Jugendliche der 20ger Jahre für afroamerikanische Rhythmen im Jazz. Ihren Stil finden sie nunmehr im Charleston und Tango. In ihnen werden Lebensfreude und Erotik gleichermaßen ausgedrückt.
Aber nicht nur die populären Künste und Jugendstile werden umgewälzt.
Auch die subtileren Künste und abstrakteren Wissenschaften wandeln sich
mit den Modernen Zeiten.
Arnold Schönberg ruft in Wien die
Zwölfton-Musik ins Leben. Robert Musil beschreibt mit seinem
Mann ohne Eigenschaften die Geschichte eines Möglichkeitsmenschen.
Ludwig Wittgenstein
unterzieht die Philosophie einer radikalen Sprachkritik.
Kurt Gödel
weist in seinem berühmten Unvollständigkeitssatz nach, daß formale Systeme,
wie Russells Principia Mathematica, prinzipiell
unvollständig seien.
Neben den politischen Wirren, Morden und Umsturzversuchen in den 20gern ist es ein belebendes und aufrührerisches künstlerisches Milieu, daß auch auf die Wissenschaft und Philosophie nicht ohne Einfluß geblieben sein dürfte. In einem Aufsatz unter dem Titel Ist die Naturwissenschaft milieubedingt? nennt Schrödinger 1932 summarisch folgende milieubedingte Züge der Modernen Physik:
Marx hatte aus der Philosophie ein Instrument gesellschaftlichen Umsturzes
machen wollen. Ontologie wurde zur politischen Ökonomie, Erkenntnistheorie
zur Gesellschaftstheorie. Aus Hegels Phänomenologie des Geistes ging der
historische Materialismus hervor. Im Anschluß an Marx knüpften die
Kritischen Theoretiker der Frankfurter Schule an das Umsturzbedürfnis
und die Massenbeherrschung an. Dem Wiener Kreis ging es um eine
wissenschaftliche Weltanschauung auf der Grundlage des Logischen
Empirismus. In ihr gingen der Positivismus der reinen Sachlichkeit, die
Invariantentheorien und die Statistik ein.``
,,Moment mal``, schaltete Ulrich sich ein. ,,Relativitätsgedanke
und Invariantentheorie sind umgangssprachlich nicht dasselbe. Daß Albert
Einstein mit seiner kulturinvarianten Persönlichkeit nach Invarianten
physikalischer Theorien fahndete, leuchtet ein. Der politische
Relativitätsgedanke in den 20gern meint aber wohl eher den
Parteienpluralismus und die Meinungsvielfalt. Im Gegensatz zum
untergegangenen Obrigkeitsstaat, sollte die Gesellschaft aus dem
freien Spiel der Kräfte vorangebracht werden. Liberalismus und
Sozialdarwinismus gingen eine unheilige Allianz ein. Denn Kommunismus und
Faschismus waren natürlich nicht mit den republikanischen Strömungen
der Konservativen, Sozialdemokraten und Liberalen vereinbar. Der Terror
von links und vor allem von rechts zielte auf die Abschaffung der Republik!
Relativistische Toleranz endet im Angesicht der Gewalt. Was sich in Kunst
und Wissenschaft bewährt, kann nicht unbesehen auf die Politik übertragen
werden. Das ist eine Lehre, die wir aus dem Scheitern der
Weimarer Republik
ziehen können.``
,,Zur Beziehung zwischen Politik und Wissenschaft denke ich an einen
anderen Aspekt``, begann Hilde. ,,Wie ist denn die Abhängigkeit
zwischen beiden anzunehmen? Das gesellschaftliche Milieu, dem natürlich
auch die Wissenschaftler ausgesetzt sind, beeinflußt in welcher Weise die
Wissenschaft? Ist nicht der umgekehrte Einfluß viel größer?``
,,Das sind im Detail sehr schwer zu beantwortende Fragen``, begann Niels. ,,Bei Einstein und Bohr hatten die Erfahrungen ihres jeweiligen gesellschaftlichen Umfeldes einen offensichtlichen Einfluß auf die Richtung ihres Denkens. Einsteins Suche nach einer nichtmißtrauenswürdigen Ordnung in den Naturerscheinungen war auch ein Reflex auf die Verlogenheit des Obrigkeitsstaates. Und Bohrs Toleranz gegenüber unvereinbaren Gegensätzen, die seinem Komplementaritätsdenken vorangeht, ist sicher durch die liberale Atmosphäre Dänemarks befördert worden.
Andererseits paßte der popularisierte Relativitätsgedanke, wie er sich
nach der Messung der Lichtablenkung des Sternenlichtes durch die Sonne ab
1919 verbreitete, natürlich ideal in die politische Aufbruchstimmung nach dem
Zerfall der Monarchie. Hier hat die Wissenschaft eher auf die
Gesellschaft eingewirkt. Wie es sich im Falle der Entwicklung der
Quantenmechanik zwischen 1924 und `26 verhalten haben mag, könnt ihr
folgendem Buch entnehmen: Karl von Meyenn (Hrsg.), Quantenmechanik
und Weimarer Republik. Bei der Behandlung der Kopenhagener Schule
werde ich darauf zurückkommen.
Kehren wir aber nach Wien zurück und beginnen mit dem Wiener Kreis. In den 20er Jahren sammelte sich um Moritz Schlick eine Gruppe von Mathematikern und Physikern, die sich gleichermaßen für Frege, Russell und Wittgenstein begeisterte sowie fasziniert die Fortschritte in der Physik Einsteins und Bohrs verfolgte. Moritz Schlick war 1922 auf den Lehrstuhl für Philosophie der exakten Wissenschaften berufen worden. Diesen Lehrstuhl gab es bereits seit 1895. Sein erster Inhaber war Ernst Mach gewesen. Machs Positivismus hatte schon Einstein beeinflußt. Mit dem Wiener Kreis begann nun der Neopositivismus. Die auch Logischer Empirismus genannte Wissenschaftstheorie läßt sich charakterisieren durch ein Interesse und zwei Grundannahmen:
Aus den beiden Grundannahmen folgern die Neopositivisten drei Konsequenzen. Danach ist Philosophie:
Sofie hatte verblüfft Nielsens Ausführungen gelauscht. Sie konnte es
kaum abwarten, ihre Einwände vorzubringen: ,,Die Neopositivisten
schütten das Kind mit dem Bade aus! Sie fallen auf den Stand der
experimentellen Philosophie im 17. Jahrhundert zurück! Im 20. Jahrhundert
hat sich die Philosophie doch nicht mehr von der Theologie zu befreien!
Kant hatte sich um ein Verständnis von Epistemik, Ethik und Ästhetik
bemüht. Den Neopositivisten galten Reflexionen über Politik und Kultur
wohl nicht mehr als wissenschaftsfähig? Eine gemeinsame Basissprache
wäre doch nur interessant, wenn sie unser Reden über Natur, Moral und
Kunst gleichermaßen fundierte! Und wie wird die Entwicklung der
Wissenschaften gesehen? Die Wissenschaften haben doch nicht nur interne
Erkenntnisziele, sondern wälzen auch die Gesellschaft um! In der
Einleitung hattest Du gesagt: ,,Durch Positivismus und Pragmatismus
wurde die Wissenschaft in den Dienst des Kapitals genommen.`` Um mit
Russell zu sprechen: Auch der Positivismus ist doch schlechte Metaphysik,
da er Mißbrauch und Willkür Tür und Tor öffnet!``
Sofie hatte sich sichtlich in Rage geredet und war immer lauter geworden.
Ulrich schaute sie lächelnd an: ,,Du wirst den Neopositivisten mit Deinem
Unmut nicht ganz gerecht. Einigen von ihnen ging es auch um das Eintreten für
eine sozialistische Gesellschaft. Sie wollten dem Sozialismus sogar eine
wissenschaftliche Grundlage geben. Was die Theologie betrifft: In den Augen
der Neopositivisten hatte sich die Philosophie im deutschen Idealismus mit
Hegel in der Tat der Theologie genährt. Mit Scheinproblemen einer spekulativen
Geistesphilosophie wollten sie nicht mehr ihre Zeit vertun. Die Beschränkung
auf Erfahrungswissen und logische Analyse zeitigte mehrere wesentliche
Einsichten. So konnten die Vereinseitigungen von Idealismus, Rationalismus,
Empirismus und anderer Ideologien wissenschaftlich widerlegt werden. Denke
nur an die Tragweite des Gödelschen Unvollständigkeitssatzes: Danach werden
alle idealistischen oder rationalistischen Positionen prinzipiell unvollständig
bleiben.``
,,Die Demontage der reinen Vernunft begann bereits mit Kant.``
Sofie blätterte in ihrem Notizblock: ,,Die Antinomie des Unendlichen
nahm in genialer Weise den Widerspruch in der Cantor'schen Mengenlehre
vorweg.``
,,Wie sich reines Denken in einem Widerspruch verstrickt, zeigt die Russellmenge sehr schön``, ergänzte Niels und ging zur Stelltafel. ,,Für alle, die sich noch an die Logik erinnern, möchte ich Russells Argument formalisieren: Nach dem Mengenbildungsschema
gibt es zu einem Prädikator P stets eine Menge M, die alle Gegenstände x der Prädikation als Element enthält. Statt x ist rot kann ich also auch sagen: x ist Element der Menge roter Gegenstände:
Russell brauchte in das Mengenbildungsschema lediglich die Prädikation P(x) durch ersetzen und schon kam es zur Katastrophe, wenn in:
y durch x ersetzt wird: .
Aber auch der reine Empirismus läßt sich widerlegen. Denn z.B. sogenannte Dispositionsbegriffe D sind nicht auf einzelne Beobachtungssätze reduzierbar. Nehmen wir als Beispiel die Löslichkeit. Sie werde definiert unter der Bedingung, daß Wasser vorhanden sei und sich z.B. Salz darin auflöse:
In der klassischen Logik ist nun aber D(s) wahr für jedes s, für
das die Bedingung nicht gilt: !``
,,Das Problem müßte sich doch mit einer anderen Logik erledigen``,
warf Hilde ein.
,,Traditionellen Philosophen fällt das natürlich sehr schwer. Was könnte das für Folgen haben? So wählten sie lieber eine alternative Formulierung:
Womit D aber lediglich partiell definiert wäre. Ein empirischer
Gehalt käme nur noch mehreren solcher Reduktionssätze zu. Folglich
sind nicht alle empirischen Begriffe auf einzelne Beobachtungssätze
reduzierbar. Empirischen Gehalt haben nur Satzsysteme. Dieser Satz ist
zur These von der Theoriebeladenheit aller Erfahrung verallgemeinert
worden.``
,,Die Theorie entscheidet, was beobachtbar ist``, gab Sofie Einsteins
Ansicht zum besten.`` Und Ulrich ergänzte: ,,Das Höchste zu
begreifen wäre, daß alles Faktische schon Theorie ist, wie sich Goethe
ausdrückte.``
,,Ja, Erkenntnis gewinnen wir nur durch logisch strukturierte Erfahrung.
Das ist auch das Credo der Neopositivisten. Danach ist klar zwischen
Sachverhalten des Beobachtens (p=B(a,p)) und beobachteten
Sachverhalten (B(a,p)) zu unterscheiden. Ein vereinseitigender
Phänomenalismus also leicht widerlegt. Aber nicht nur das.
Betrachten wir einige weitere idealistische Positionen:
Epistemologischer Idealismus
Ontologischer Idealismus
Es gibt keine realen Objekte und objektiven Tatsachen. Die Wirklichkeit besteht nur aus mentalen Subjekten und ihren Ideen:
Was ersehen wir daraus?`` Niels blickte in die Runde.
,,Wie I1 und I3 zeigen, können sich idealistische Positionen
widersprechen``, begann Hilde. ,,Zudem kann es Abhängigkeiten
zwischen Idealismus und Realismus geben. Mich beruhigt,
daß womöglich kein ismus eine haltbare Position darstellt ... ``
,,Was bleibt ist der Metaismus des Relativismus``, warf eine
Schülerin ein.
,,Ich ersehe aus den Thesen logische Abhängigkeiten``, meldete sich ein Schüler zu Wort und ging zur Stelltafel. ,,I3 folgt aus I4 und I2 folgt aus I3. D.h. durch Kontraposition sind mit I2 auch I3 und I4 widerlegt:
Eine Regel, die auch in der konstruktiven Logik gilt.``
,,Als Fazit lernen wir daraus``, faßte Niels zusammen, ,,daß
in Sätzen formulierte Erkenntnisse Existenzannahmen beinhalten und
von sprachlichen Regeln abhängen.``
,,In der Tat``, bestätigte Pieter; gab aber zu bedenken: ,,Wenn
ich mir die obige Formalisierung des Beobachtens vergegenwärtige, so
könnte ein aufgeschlossener Phänomenalist dem zustimmen, ohne seine
Position gänzlich aufgeben zu müssen. Anja beobachtet eine
Mondfinsternis ist natürlich nicht gleichbedeutend mit: Eine
Mondfinsternis besteht darin, daß Anja eine Mondfinsternis beobachtet.
Da Sprachregeln nicht mit psychischen Phänomenen vergleichbar sind,
könnte der Phänomenalist zum Realisten werden.``
,,Gehörte Wittgenstein eigentlich auch zum Wiener Kreis?`` wollte
Sofie wissen.
,,Die Neopositivisten hatten begeistert den
Tractatus gelesen. Zu einer Mitarbeit
konnten sie Wittgenstein allerdings nicht überreden. Er nahm zwar an
einigen ihrer Treffen teil, distanzierte sich aber bald von ihrem
Vorhaben``, erläuterte Niels.
,,Das hätte mich auch gewundert``, fuhr Sofie fort. ,,Schließlich
ging es Wittgenstein ja eigentlich um Ethik. Und die blendeten die Wiener ja
einfach aus. Und für die ausgetretenen Pfade der Wissenschaft hatte er
ebenfalls nicht viel übrig.``
,,Auf das mit dem Ausblenden von Ethik und Ästhetik verbundene Wertfreiheitspostulat werde ich zurückkommen``, entgegnete Niels. ,,Kritik am Wiener Kreis wurde aber auch von Analytischen Philosophen geübt und von Wissenschaflern selbst hervorgebracht. Also schauen wir `mal, wie's weiterging!`` Niels hatte unterdessen die Tafel gewischt und schrieb einige Stichworte an:
,,Morgen habt ihr Zeit zum Selbststudium. Am Montag werden wir die
Einwände der genannten Disziplinen am Neopositivismus behandeln.
Ein schönes Wochenende!``
Sofie war schnell auf ihr Zimmer gegangen und hatte sich aufs Bett gelegt. Ulrichs Blick war entlarvend gewesen. Hatte sie ihren Ärger über Chris einfach auf die Neopositivisten projiziert? Sie atmete tief aus. Das mußte sie sich wohl eingestehen.
Beim Abendessen verabredete sie sich mit Anja und Ulrich zum ersten
AG-Treffen am nächsten Nachmittag. Samstag sollte es mit einer
UCB-Gruppe im Minibus nach Stanford gehen. Und am Montag abend begann
die Vorführung der Zweiten Heimat; in 13 Teilen jeweils an den
Wochentagen.
Im Gemeinschaftsraum begann eine Diskussion über Ethik und Ästhetik.
Der wahre Künstler gehe über Leichen, hatte ein Schüler behauptet
und von Bullets over Broadway gesprochen. In diesem Film von
Woody Allen rette
ausgerechnet ein Gangster die Kunst, indem er eine unfähige Schauspielerin
einfach erschieße. Was hindere uns in einer Welt ohne Gott, einen Mord
zu begehen?
,,Die Frage lautet wohl eher, wie wir dem Morden im Namen Gottes
Einhalt gebieten können. Um es mit Voltaire zu sagen: Die Menschen
wenden die Worte nur an, um ihre Gedanken zu verbergen, und der Gedanken
bedienen sie sich nur, um ihre Ungerechtigkeiten zu begründen``, warf
Nell ein.
,,Und heute hat die Verantwortung ihren Schwerpunkt nicht mehr im
Menschen, sondern in den Sachzusammenhängen``, sagte Ulrich bestimmt.
,,Hat denn keiner bemerkt, daß sich die Erlebnisse vom Menschen
unabhängig gemacht haben?``
,,Einen Bezug zur Ethik finden wir wohl nur noch in der
Evolutionstheorie``, merkte eine Schülerin an und ergänzte:
,,Wie du mir, so ich dir , könnte eine entwicklungsstabile
Strategie sozialer Evolution sein ... ``
Hilde mußte an die vom Menschen unabhängigen Erlebnisse denken. Wie er das
wohl gemeint hatte? Sie erinnerte die Gefühlsduselei in Hollywood-Filmen,
oder in Groschenromanen, Fernsehserien ... Die Menschen erlebten sich
womöglich gar nicht mehr selber ... Ein beunruhigender Gedanke.
,,Entwicklungsstabilität in der sozialen Evolution erinnert mich an
Sozialdarwinismus``, merkte Nell an und fragte: ,,Wie lassen sich
denn biologische Variation und Selektion von Populationen auf soziale
Gruppen übertragen?``
,,Im Modell der Ebenen und Krisen ist auf jeder Entwicklungsstufe zu
fragen, was variiert und bzgl. welcher Umwelt selektiert wird``, begann
Niels. ,,Wenn ein Löwe als der Stärkere einen Rivalen aus dem Feld
geschlagen hat, wird er die Jungen seines unterlegenen Rivalen töten, um
seine eigenen Anlagen vermehren zu können. Diese Verhaltensweise ermöglicht
offensichtlich die Selektion des Stärkeren und seiner Nachkommen.``
,,Und was heißt das für Menschen? Daß die Väter ihre Stiefkinder
umbringen sollen?`` fragte Nell mit sarkastischem Unterton.
,,Natürlich nicht! Wir können nicht von tierischem Verhalten auf
menschliches Handeln schließen. Das sind verschiedene Ebenen. Zudem
folgt aus dem Sein kein Sollen. Das wäre ein naturalistischer
Fehlschluß. Ich wollte nur ein Beispiel für eine auf den ersten Blick
grausame, evolutionsbiologisch aber plausible Verhaltensweise geben.``
Niels dachte einen Moment nach. ,,Im Bereich menschlichen Handelns gibt
es keine derart fixierten Schemata. Der Mensch ist von Natur aus
Kulturwesen, sagen die Verhaltensforscher. Zwischen Handlungsalternativen
können wir wählen. Gleichwohl nehme ich an, daß auch wir Neigungen
verspüren, die tierischen Verhaltensweisen entspringen. Nur sind wir
darauf normalerweise nicht festgelegt. Unsere Natur zeigt sich in
Extremsituationen, wie Kriegen, Seuchen, Hungersnöten ... ``
,,Bleiben wir doch beim Normalfall``, meldete sich ein Schüler zu
Wort. Sofie bemerkte, daß es derselbe war, der am Nachmittag auf die
Transposition hingewiesen hatte. ,,Bei der Nahrung und Paarung ist
die Dominanz unserer Triebe doch offensichtlich. Als Handlungsweise
verfeinert fallen wir allerdings nicht übereinander her, sondern kochen
gemeinsam, setzen uns bei Kerzenlicht und einem Glas Wein zum Essen. Und
wenn die Liebe durch den Magen gegangen ist, werden die Blicke tiefer, wir
beginnen einander auszuziehen ... Äh, nun ja, was ich sagen wollte, ist:
Neben Geld, Macht und Ruhm setzen wir offensichtlich passende Handlungsweisen
ein, um einander zu verführen.``
,,Du meinst also, auch Handlungsweisen werden variiert und im
gesellschaftlichen Kontext selektiert?`` versuchte Nell sich
Klarheit zu verschaffen.
,,Bei einer Punkerin wärst Du mit Deiner bürgerlich-romantischen
Masche nicht zum Zuge gekommen``, warf Anja heiter ein.
,,Die ganze Liebe wird überschätzt! Der Wahnsinnige, der in seiner
Sinnestäuschung ein Messer zückt und damit einen Unschuldigen durchbohrt,
der gerade an der Stelle seiner Halluzinationen steht -: in der Liebe ist er
der Normale!`` bestimmte Ulrich und lachte.
,,So sieht es auch Mephist``,
pflichtete Anja ihm bei: So ein verliebter Tor verpufft.
Euch Sonne, Mond und alle Sterne. Zum Zeitvertreib dem Liebchen
in die Luft.
,,Im Überschwang der Gefühle sind Menschen zu allem fähig``, knüpfte
Niels den Gedanken fort. ,,Jetzt verstehen wir eher wie es dem Löwen
ergeht; denn das Fühlen kennt keine Moral! Wie heißt es so treffend
bei Goethe:
Nenn's Glück! Herz! Liebe! Gott! Ich habe keinen Namen.
Dafür! Gefühl ist alles. Name ist Schall und Rauch.
Umnebelnd Himmelsglut.``
,,Vielleicht darf gesagt werden``, hob Ulrich an, ,,in Veränderung
eines Sprichworts, daß ein schlechtes Gewissen beinahe ein noch besseres
Ruhekissen darbietet als ein gutes, wenn es nur schlecht genug ist: Die
unablässige Nebentätigkeit des Geistes in der Absicht, aus allem Unrecht,
in das er verwickelt ist, ein gutes persönliches Gewissen als Abschluß
zu gewinnen, ist dann eingestellt und läßt dem Gemüt eine ungemessene
Unabhängigkeit zurück.``
Was für lange Sätze der zuwege bringt, dachte Sofie. Da kann es einem
passieren, am Ende der Äußerung den Anfang vergessen zu haben.
,,Und was geschieht, wenn Gefühle da sind, die den Verstand warnen
möchten und keine Worte finden?`` fragte Anja listig.
,,Ich kannte eine Frau, der war die Ahnung voll Gewißheit, es stehe
alles, was ihr begegne, in märchenhafter Verbindung mit etwas Verborgenem,
aus allen erregten Zeiten ihres Lebens bekannt; sie spürte es als eine
Nähe, fühlte es hinter sich und hatte die Neigung, auf die Stunde des
Wunders zu warten, wo sie nichts zu tun hätte, als die Augen zu schließen
und sich zurückzulehnen.``
,,Mit Deinen barocken Sätzen bist Du meistens davon in Anspruch
genommen, den überirdischen Inhalt weiblicher Träumereien behutsam
in einen irdischen zu verwandeln.``
,,Du scheinst empfindlich für die Schranken zu sein, die dem Gefühl
von der Wirklichkeit gesetzt werden, und nun zuhauf die eigentümlich
zweiseitige Beschaffenheit des Lebens gewahren, das jede große Bestrebung
durch eine niedrige dämpft. Diese zweiseitige Beschaffenheit bindet an
jeden Fortschritt einen Rückschritt, an jede Kraft eine Schwäche ...
``
Einer Eingebung folgend dachte Sofie, Ulrich sei ein Mann, der schlicht dem
Menschen in der Frau begegne. Benommen schaute sie in die Runde. Sie waren
nur noch zu dritt hier. Wenn Gefühle da sind, die keine Worte finden,
äußern sie sich in Bewegung. Sofie erhob sich und schlich zur Tür ...
Du haßt die Menschen, die nicht nach dem Nietzsche-Wort um der
Wahrheit willen an der Seele Hunger leiden können; die Umkehrenden,
Verzagten, Weichlichen ... , die wie in Milch aufgelöste Semmeln
sind``, hörte Sofie Anja im Hinausgehen sagen.