Die Mädchen erreichten die Hütte nach kurzem, aber schweißtreibendem Aufstieg.
Als sie von oben nach ihrem Boot Ausschau hielten, hatten sie das beunruhigende Gefühl,
nie wieder herunter zu kommen. Der steile Abfall des Berghangs wirkte
schwindelerregend. Waren sie unwiderruflich eine Sprosse auf der Leiter des
Lebens vorangekommen? Sie gingen zur Tür und bemerkten verwundert, daß sie nur
angelehnt war. Hilde klopfte und trat ein: ,,Hallo, ist da jemand?`` Es
blieb still. Sie betraten den Windfang. Mit einer
ungewissen Erleichterung und von plötzlichem Impuls getrieben liefen sie die
Treppe hinauf, durchquerten einen Flur und betraten zielstrebig das Frontzimmer.
Die Fenster boten einen herrlichen Ausblick auf den See. Sie betraten den
Balkon und ließen sich ermattet auf eine Bank fallen. Eine Weile saßen sie
schweigend da.
,,Was für eine schöne Aussicht``, schwärmte Sofie.
,,Hier läßt es sich leben``, pflichtete Hilde ihr bei.
Der Tag neigte sich seinem Ende. Die Sonne war bereits hinter den
gegenüberliegenden Bergen verschwunden. Eine rötliche Dämmerung hüllte
sie ein. Auf einem Bock neben der Bank stand ein Krug mit frischem Wasser.
Die beiden waren aber schon zu müde, um sich darüber zu wundern. Sie
tranken abwechselnd in gierigen Zügen. Dann sanken sie in den traumlosen
Schlaf der Erschöpften.
Hilde und Sofie erwachten fast gleichzeitig mit gedehntem Stöhnen. Es war noch
nicht `mal ganz hell. Ihre Glieder schmerzten vom harten Holz. Mühsam
richteten sie sich auf. An die Brüstung gelehnt erwarteten sie den beginnenden
Tag.
,,Der ideale Ort für einen Einsiedler``, bemerkte Hilde gähnend und ergänzte:
,,Laß uns hineingehen, vielleicht ist er in der Nacht zurückgekehrt.``
Sagte es und verschwand. Nach einer Weile hörte Sofie sie rufen und folgte ihr.
,,Das Haus ist leer``, sagte Hilde aufgebracht. ,,Schau `mal, was ich
gefunden habe.`` Sie zeigte auf eine offenstehende Truhe, die mit Papieren
und Büchern gefüllt war.
,,Da muß aber jemand fleißig gewesen sein``, wunderte sich Sofie über
die vielen eng beschriebenen Blätter.
,,Sieh Dir das an``, staunte Hilde und hielt Sofie ein Blatt entgegen:
,,Hier muß ein merkwürdiger Kauz gelebt haben``, wunderte sich Sofie über
die klaren, aber kaum verständlichen Sätze ... `` Sie griff in die Truhe:
Alle Philosophie ist Sprachkritik ...
,,Das wird wohl ein Analytischer Philosoph geschrieben haben``, erinnerte sich
Hilde.
,,Dazu paßt der folgende Satz``, ergänzte Sofie:
Der Zweck der Philosophie ist die logische Klärung der Gedanken.
,,Hier ist ein Brief an einen Herrn Ficker aus Wien des Jahres 1918!``
rief Hilde verwirrt und begann vorzulesen: ... Ich wollte nämlich
schreiben, mein Werk bestehe aus zwei Teilen: aus dem, der hier vorliegt,
und aus alledem, was ich nicht geschrieben habe. Und gerade
dieser zweite Teil ist der Wichtige. Es wird nämlich das Ethische durch
mein Buch gleichsam von innen her begrenzt; und ich bin überzeugt, daß es,
streng, NUR so zu begrenzen ist. Kurz, ich glaube: Alles das, was
viele heute schwafeln , habe ich in meinem Buch festgelegt,
indem ich darüber schweige ... Ich würde Ihnen nun empfehlen das Vorwort
und den Schluß zu lesen, da diese den Sinn am unmittelbarsten
zum Ausdruck bringen.
,,Rate `mal, wer das geschrieben hat``, spannte Hilde Sofie auf die Folter
- ,,Ludwig Wittgenstein!``
,,Sind wir womöglich in seiner Ferienhütte? Aber als Zeitgenosse Russells
kann er eigentlich nicht mehr leben ... ``
Während Sofie ihren Gedanken nachhing, kramte Hilde in der Truhe und holte einen
gehefteten Papierstapel hervor. Das Deckblatt trug den Titel:
Logisch-philosophische Abhandlung. ,,Das muß ein Manuskript
sein``, sagte Hilde bestimmt und schlug das Vorwort auf. Ein Satz sprang
ihr sofort ins Auge:
Was sich überhaupt sagen läßt, läßt sich klar
sagen; und wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen.
Sofie wühlte unterdessen in der Truhe zwischen den Büchern:
,,Russell: Principles of Mathematics, Frege: Begriffsschrift,
Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung, Weininger: Geschlecht und
Charakter ... Hier sind noch Bücher von Hertz, Boltzmann, Nietzsche, Hebel,
Tolstoi, ... Von Wittgenstein keins``, stellte Sofie fest und fragte:
,,Ob die vielen Papiere nie gedruckt wurden?``
,,Das kann schon sein``, entgegnete Hilde, ,,denn die Schreibe ist
echt abgefah'n. Wir sollten sie später noch `mal in Ruhe lesen.
Für's erste reicht's mir. Laß uns was zu essen suchen und die Umgebung
erkunden.``
Nachdem sie nichts rechtes zu beißen gefunden hatten, machten sie sich
auf den Weg nach Skjolden. Sie ließen sich Zeit und folgten dem Waldweg
am Berghang. Scherzend schauten sie sich um. Waren sie vielleicht in einem
Märchenwald und würden von einer bösen Hexe mitgeschnackt?
Käme eine gute Fee, um sie aus ihrer Scheinwelt zu erlösen? Oder trat
unerwartet ein brüllender Bär zwischen den Bäumen hervor, in dem sich
ein Prinz verbarg? Was ihnen an der nächsten Wegbiegung entgegentrat, war
weder ein Prinz noch eine Hexe, es war - Alberto! Er war glücklicherweise
aus ihrer Welt. Erfreut liefen sie ihm entgegen, begrüßten und
umarmten ihn: ,,Hallo Alberto!``
,,Das ist ja eine Überraschung``, rief Alberto erstaunt und schaute sie
an: ,,Wie kommt Ihr denn hierher?``
,,Mit dem Boot durch den Sogne-Fjord``, erwiderte Sofie. ,,Wir wollten
gerade ins Dorf zum Einkaufen.``
,,Das könnt Ihr Euch sparen. Mein Rucksack ist wohl gefüllt.``
,,Und wo willst Du hin?`` fragte Hilde und sah Alberto forschend an.
,,Ich bin auf dem Weg ins Ferienhaus Wittgensteins``, entgegnete Alberto
lächelnd.
,,Von dort kommen wir gerade``, sagte Sofie erfreut.
,,Dann laßt uns gemeinsam ins Haus gehen und frühstücken``, schlug
Alberto vor. Sie machten sich auf den Weg. ,,Ich komme aus Bergen, wo
ich gestern aus Cambridge eintraf.``
,,Deinen Russell-Kurs haben wir gelesen. Das muß ein faszinierender
Mensch gewesen sein``, sagte Sofie. ,,Seine
Philosophie fand ich aber ziemlich schwierig.``
,,Die Analytischen Philosophen nehmen die Sprache ja sehr ernst. Die
haben mir richtig die Augen geöffnet. Was wir alles unterstellen, wenn
wir einfach nur reden. Aber die Schreibe Wittgensteins ist der Knüller.
Die Sätze sind vollkommen klar und - vollkommen unverständlich. Nur gut,
daß wir uns mit dem logischen Atomismus Russells beschäftigt hatten``,
erläuterte Hilde aufgeräumt.
,,Wie seid Ihr denn an Schriften Wittgensteins gelangt?`` fragte
Alberto interessiert.
,,In der Berghütte gibt es davon eine ganze Truhe voll ... ``
,,Das ist ja toll``, rief Alberto begeistert und beschleunigte seinen
Schritt. Die Mädels sahen sich vielsagend an und schüttelten lächelnd
die Köpfe.
,,Ich hab' Hunger``, quengelte Sofie.
,,Du hast recht``, lenkte Alberto ein. ,,Bevor wir in Papieren
versinken, sollten wir in Ruhe frühstücken und - unsere Lage reflektieren.``
,,Und dann erkunden wir die Umgebung``, erinnerte Hilde Sofie an ihre Tagesplanung.
Unterdessen hatten sie das Haus erreicht. Eine Hütte war es eigentlich nur
von weitem. Alberto legte den Rucksack ab und gemeinsam verstauten sie die
Eßwaren. ,,Damit kommen wir ja mehrere Tage aus``, freute sich Sofie.
,,Laßt uns auf dem Balkon frühstücken.`` Rasch hatten sie Milch, Obst,
Müsli und Fruchtsaft bereitgestellt und machten es sich in gemütlichen
Gartenstühlen bequem.
,,Mir ist nicht klar, wie Ihr ausgerechnet hierher gekommen seid.
Ich wollte Euch eigentlich von hier aus den Wittgenstein-Kurs zuschicken.
Und natürlich ein Photo der schönen Aussicht beilegen``, begann Alberto
das Gespräch.
Sofie und Hilde schauten sich fragend an. ,,Wir stürmten plötzlich
zum Boot; ohne recht zu wissen, warum wir es so eilig hatten. Als wir uns
besannen, waren wir bereits im Sogne-Fjord``, erinnerte sich Sofie.
,,Aber es muß doch einen Anlaß für Euren Aufbruch gegeben haben``,
bohrte Alberto weiter. Hilde erzählte ihm von Sofies Traum und der Entdeckung
der Majorshütte im Kleinen Harmonischen Labyrinth. Alberto pfiff leise
durch die Zähne. ,,Unser Schöpfer scheint uns wieder den Weg
aufzuzeigen, wie wir in die nächste Welt gelangen können.``
,,Gibt es einen verborgenen Zusammenhang zwischen der Majorshütte und
Wittgensteins Hütte?`` wollte Hilde wissen.
,,Dem Mythos nach hauste auf Kreta nahe dem Palast des Minos im Zentrum
eines Labyrinths das schreckliche Mischwesen Minotaurus. Der Stier des
Minos verband einen Männerkörper mit einem Stierkopf. Bis der Grieche
Theseus am Faden der Ariadne das Ungeheuer bezwang, mußten ihm alle
sieben Jahre sieben Knaben und sieben Mädchen geopfert werden. Im Buch GEB
wird aus dem Minotaurus ein Majotaur. Sofies Traum verwandelte ihn in
die Majorshütte. Als ihr dieser Verdichtung in der Traumarbeit auf die
Spur kamt, mußtet ihr zur Hütte Wittgensteins aufbrechen.`` Alberto machte eine
vielsagende Pause. ,,Am Leitfaden der Philosophie konnte der Mythos
entzaubert werden. Wittgenstein verwob den logischen Faden Russells wieder in
der Mystik.``
,,Heißt das, unser erhoffter Abstieg auf der Leiter der Sprachebenen endet
nicht auf dem Boden der logisch klaren Tatsachen, sondern im mystischen
Dickicht der Dinge?`` forschte Hilde in Albertos Äußerung.
,,Die Verbindung von Logik und Mystik ist eine Besonderheit der
Philosophie Wittgensteins. Bevor wir uns mit Details seiner Schriften
beschäftigen, sollten wir uns den Sinnzusammenhang vergegenwärtigen,
in dem Leben und Werk Wittgensteins zu sehen sind.``
,,Dann wird es heute wohl nichts mehr mit dem Erkunden``, seufzte Hilde.
Unterdessen waren dunkle Wolken aufgezogen. ,,Das Wetter wär' uns
eh' dazwischen gekommen.``
Alberto sortierte seine Spickzettel und begann: ,,Ludwig Wittgenstein wurde
am 26. April 1889 als jüngstes Kind einer der wohlhabendsten Familien Wiens
geboren. Bis 1903 genoß er Privatunterricht im Elternhaus. Da sein Vater aus ihm
einen Ingenieur machen wollte, besuchte Ludwig bis 1906 die Realschule in Linz.
Sie war geprägt von völkischem Nationalismus, der auf Adolf Hitler nicht ohne
Einfluß blieb. Gleichzeitig mit Wittgenstein besuchte auch Hitler die Schule.
Ob sie zusammentrafen, ist nicht bekannt. Ludwig galt als Sonderling und konnte
sich nur schwer an das Gemeinschaftsleben gewöhnen. Vom lieben, nachgiebigen
Kind wandelte er sich zum zwingenden, kompromißlosen und dominanten Erwachsenen.
Bessere dich selbst - das ist alles, was Du tun kannst, um die Welt
zu verbessern, empfahl er später einem Freund.
Russell führte das Streben nach Gewißheit zur Philosophie. Wittgenstein drängte
sich die Philosophie geradezu auf. Sein Philosophieren begann mit schmerzlichen
Widersprüchen. Die Welt galt ihm als Gefängnis philosophischer Rätsel.
Im Leben war er umstellt von menschlichen Widersprüchen.
Stets ging es ihm darum, Konfusion durch Klarheit zu ersetzen. Mit
neun Jahren plagte ihn bereits die Frage: Warum soll man die Wahrheit sagen,
wenn es vorteilhafter ist, zu lügen? Sein ethisches Grundanliegen war das Streben
nach persönlicher Integrität: Logik und Ethik wurden ihm gleichermaßen
Pflicht gegen sich selbst. Der logischen Stimmigkeit der Axiome entsprach
die ethische Stimmigkeit der Person. Zwischen 1903 und 1912 schwankte er zwischen
Selbstmordgedanken und Anflügen von Genialität. Gebannt las er das Buch
Weiningers: Geschlecht und Charakter. Danach sei es Männern vorgeschrieben,
ihren individuellen Genius zu entdecken ...``
,,Und was wird über die Frauen gesagt?`` warf Sofie ein.
,,Die Frauen gehen nach Weininger ganz in der Sexualität auf, werden gänzlich
von ihr ausgefüllt.``
,,Der muß es ja wissen``, entfuhr es Hilde lachend.
,,Weiningers Buch ist von einem absonderlichen Frauenhaß und Antisemitismus
geprägt. Dem Genialitätswahn folgend, inszenierte er 1903 mit 23 Jahren
seinen Selbstmord im Flur jenes Hauses, wo schon Beethoven gestorben war.
Ludwig van' hielt er natürlich für das größte Genie aller Zeiten. Erst die
Todesumstände Weiningers machten sein Buch zu einem Bestseller.``
,,Auf Wittgenstein hat das natürlich großen Eindruck gemacht``, sagte
Sofie ironisch, verdrehte die Augen und ergänzte betont: ,,Männer!?``
Hilde und Alberto prusteten los ... Nachdem sie sich wieder beruhigt hatten,
fiel ihnen auf, daß es regnete. Sofie atmete tief die frische Luft ein.
Eine Weile genossen sie entspannt das Treiben der Natur. Alberto fuhr
fort: ,,1906 begann Wittgenstein in Berlin halbherzig das Studium des
Maschinenbaus. 1908 wechselte er nach Manchester und studierte bis 1911
Flugzeugbau. Genial zu werden, war ihm noch immer zwingender Lebensinhalt.
Glücklicherweise bekam er bei der Beschäftigung mit mathematischen
Grundlagenproblemen schon bald die Gelegenheit, seinen Genius unter Beweis
stellen zu können. Fasziniert las er Russells Principles of Mathematics und
Freges Begriffsschrift: Er hatte sein Thema gefunden.
Auf Anraten Freges tauchte Wittgenstein am 18. Oktober 1911 in der Sprechstunde
Russells auf. Vom nächsten Tag an dominierte er die Diskussionen in seiner
Vorlesung über mathematische Logik. Am 19.10. schrieb Russell an seine
Freundin: Mein deutscher droht eine wahre Plage zu werden, er folgte mir
nach meiner Vorlesung und redete bis zum Abendessen - starrsinnig und verdreht,
aber nicht dumm. In einem Brief vom 2.11. lesen wir: Mein deutscher
Ingenieur ist vermutlich ein Narr. Er meint, nichts Empirisches sei
erkennbar - ich bedrängte ihn zuzugeben, daß kein Rhinozerus im Zimmer sei,
aber er blieb stur. Am 7.11. leugnete er, daß es irgendetwas anderes
gebe als gesicherte Aussagen.`` Alberto machte eine bedeutungsschwere Pause.
,,Diese These formulierte er später in dem Satz: Die Welt ist die
Gesamtheit der Tatsachen, nicht der Dinge ...``
,,Damit wollte Wittgenstein wohl sagen, daß wir uns in der Welt orientieren
nach dem, was wir wahrnehmen, für wahr halten. Gleiche Dinge können
in verschiedener Weise wahrgenommen werden``, erläuterte Hilde.
,,Russell empfand für Wittgenstein nicht nur Sympathie, häufig genug
war er verärgert. Gleichwohl bildete sich eine bereichernde Freundschaft
heraus zwischen den beiden grundverschiedenen Charakteren. Nachdem Wittgenstein
Russell im Januar 1912 ein Manuskript vorgelegt hatte, ermutigte dieser ihn dazu,
das Ingenieurstudium aufzugeben und sich ganz der Philosophie zu widmen.
Ihn in seinem Genie zu bestätigen, rettete Wittgenstein buchstäblich das Leben.
Russell schrieb später darüber: Er war vielleicht das beste mir bekannte
Beispiel eines Genies im traditionellen Sinne - leidenschaftlich, tiefgründig,
intensiv und dominant. Aus dem Lehrling wurde bald der Meister; denn Wittgenstein
verkörperte die richtige Mischung aus streng logischem Denken und impulsivem
Bessensein. Er personifizierte Russells philosophisches Ideal; denn die
Philosophie ist eine widerspenstige Geliebte - man erobert ihr Herz nur mit
dem kalten Stahl im Griff der Leidenschaft.``
,,Bisher habe ich Gefühl und Verstand, Leidenschaft und Intellekt eher
als Gegensatz gesehen``, bemerkte Sofie nachdenklich.
,,Produktiv ist man nur, wenn es einem gelingt, mit Leidenschaft dem
Intellekt zu folgen oder gefühlsbetont zu denken. Auch die Wissenschaft
fordert den ganzen Menschen``, ereiferte sich Alberto. Amüsiert
schauten die Mädels sich an. ,,Nun ja``, fahren wir fort: ,,Als
Wittgenstein bei Russell erschien, hatte dieser seinen intellektuellen
Rausch durchlebt: Die Principia Mathematica waren im Druck. Geistig erschöpft
wandte er sich einer anderen Leidenschaft zu; hatte er sich doch gerade wieder
verliebt. Wittgenstein trat zur rechten Zeit in Russells Leben, um die Arbeiten
an den Grundlagen der Mathematik philosophisch auszuweiten. Die folgenden
zwei Jahre verliefen für beide in fruchtbarer Zusammenarbeit.
Russell war bestrebt, Mathematik auf Logik zurückzuführen. Seinem Projekt erwuchs
ein Forschungsprogramm, das Logizismus genannt wurde. In ähnlicher Weise
versuchte Hilbert, die Mathematik durch eine Metatheorie des Beweisens zu
rechtfertigen. Seinem Projekt der Metamathematik entsprang
das Forschungsprogramm des Formalismus. Im Unterschied zum Logizismus ging
die Metamathematik der Mathematik aber nicht voran, sondern überdeckte sie
im Sinne einer Metasprache. Das ist ganz so wie in der Logik zu verstehen:
Auch dort sind die Ableitungsregeln Metaregeln des Beweisens.``
,,Begründen sich Logik und Metamathematik denn selbst?`` warf Hilde ein.
,,Wittgenstein verwarf Logizismus und Formalismus gleichermaßen. Eine Begründung
der Mathematik versuchte er nicht durch Logik, sondern durch Reflexion auf die
Sprache. Damit problematisierte er auch die Voraussetzungen der Logik. Im Rahmen
seines sprachphilosophischen Ansatzes entwickelte er zunächst eine Theorie des
Satzes. Sie bildet den Kern seiner einzigen Veröffentlichung zu Lebzeiten,
der Logisch-philosophischen Abhandlung. Dieses Kultbuch wird nach
seinem lateinischen Titel Tractatus Logico-philosophicus
meistens einfach Tractatus genannt.
Die Metatheorien meinte er durch Ausarbeitung einer Symboltheorie erledigen
zu können. Insbesondere der Russell'schen Typenlehre hielt er vor, daß sie
etwas sage, was sich nicht sagen lasse, sondern gezeigt werden müsse:
indem wir sehen, daß A derselbe Buchstabe wie A, derselbe
Buchstabentyp wie B, aber ein anderer Typ
als x, y oder z ist ... ``
,,Das leuchtet ein``, bemerkte Sofie.
,,Die Objektsprache sagt etwas über die Dinge und zeigt
die Metasprache durch Paradoxien ... ``, sinnierte Hilde.
,,Wittgenstein arbeitete seinen Ansatz aber nicht aus. Er begnügte sich
mit prinzipiellen Hinweisen: Wie muß ein Zeichensystem beschaffen sein,
damit es jede Tautologie auf eine und dieselbe Weise als Tautologie erkennen läßt?
Dies ist die Grundfrage der Logik. Die Unterscheidung zwischen Sagen und Zeigen
stellte für ihn das Hauptproblem der Philosophie dar. Er machte sie
zur Grundlage eines Mystizismus. Mit Russell geriet er darüber
natürlich häufig aneinander. Nach Wittgenstein zeigen die logischen Sätze
die logischen Eigenschaften der Sprache und infolgedessen der Welt, aber sie sagen
nichts. Auch hier hat das Wort zeigen eine sehsinnliche (visuelle) Bedeutung:
Der logische Satz zeigt durch seine Symbolik
eine logische Eigenschaft der Welt. Aber was sagt er?``
,,Wenn der Hahn kräht auf dem Mist, dann ändert sich das Wetter oder es
bleibt wie es ist``, sagte Hilde lachend.
,,Die offenbar selbstironisch gemeinte Bauernregel folgt dem Aussagenschema
genauso wie jede andere Ersetzung der Schemabuchstaben p und q. Wer
beliebiges sagt, sagt aber nichts! Das Aussagenschema ist durch keine
Ersetzung widerlegbar. Natürlich ist es auch ableitbar. Für alle
Ersetzungen gültige Aussagenschemata heißen allgemeingültig
und werden Tautologien genannt.``
,,Dann sind Theoreme, wie der Satz von Duns Scotus, auch Tautologien``,
bemerkte Hilde.
,,Wie prüft man alle Ersetzungen?`` wollte Sofie wissen.
,,Im Tractatus schreibt Wittgenstein unter Punkt 5. Der Satz ist
eine Wahrheitsfunktion der Elementarsätze. D.h. jede Aussage kann einen
der Wahrheitswerte w, f annehmen. Die Junktoren sind definiert als
Wahrheitsfunktionen, die aus den Wahrheitswerten der Elementaraussagen in
eindeutiger Weise der verknüpften Aussage einen Wahrheitswert zuordnen:
Sind zwei Aussagen miteinander verknüpft, müssen vier Ersetzungen vorgenommen
werden. Für n Aussagen sind Wahrheitswerte zu berücksichtigen. Eine Arbeit
für den Computer:
Sofie und Hilde machten sich an die Arbeit. Sie fanden kein Gegenbeispiel und
prüften gleich noch die Kontraposition ... ,,Das ist ja wie in der Algebra.
Statt der vielen Zahlen kommen hier aber nur zwei Werte vor``, bemerkte Hilde.
,,Da hast Du ganz recht``, erwiderte Alberto. ,,Deshalb wird die
Aussagenlogik auch Boole'sche Algebra genannt. George Boole hatte schon
1854 in seinem Buch: An investigation on the laws of thougt eine Algebra
der Logik eingeführt. In Form der Schaltalgebra bildet die Aussagenlogik die
Grundlage der Digitaltechnik ...``
,,Denn die Bits der Computer können nur zwei Zustände annehmen: 0 oder 1,
Strom oder kein Strom. Trotzdem kann man mit ihnen die kompliziertesten
Rechnungen ausführen, weil Dual- und Dezimalsystem ja ineinander umwandelbar
sind``, erläuterte Hilde.
,,Genau! Zurück zur Logik. Da Wittgenstein Booles Untersuchung nicht
kannte, hat er die Algebra der Logik selbst erfinden müssen. Nach ihm ist
die Logik auf der Basis von Tautologie und Kontradiktion zu entwickeln.
Auf diese Weise sichert die Logik Widerspruchsfreiheit, aber nur um den
Preis des Inhalts. Gleichwohl sind die Schemabuchstaben nicht gänzlich
bedeutungslos; denn sie können ja wahr oder falsch sein. Die den
Symbolen einer Sprache beigelegte Bedeutung wird Semantik genannt.
Die semantische Definition eines logischen Schlusses, der Implikation,
gelingt folgendermaßen: Ein logischer Schluß ( ) ist korrekt
genau dann, wenn die Subjunktion ( ) allgemeingültig ist.
Beispiel: Weil ist, gilt
.``
,,Jetzt haben wir zwei Definitionen eines logischen Schlusses,
durch Ableitung und Allgemeingültigkeit``, wunderte sich Hilde.
,,In der Tat! Die müssen natürlich vereinbar sein, damit die Logik
konsistent bleibt``, entgegnete Alberto. ,,Die Ableitung logischer
Sätze in einem Kalkül läßt sich allein syntaktisch betreiben. Ich
benutze ein Alphabet und Regeln der Grammatik. Über die Bedeutung der
Symbole brauche ich mir keine Gedanken zu machen. Glücklicherweise gilt
in der Aussagenlogik das Metatheorem: Jede ableitbare Aussage ist
allgemeingültig und umgekehrt. Dieses Metatheorem wird auch
Vollständigkeitssatz genannt. Die Aussagenlogik ist widerspruchsfrei
und vollständig. Bei der Prädikatenlogik sind zwei Fälle zu unterscheiden.
In der normalen Prädikatenlogik sind lediglich Gegenstandsvariablen
zugelassen. Sie wird Prädikatenlogik 1. Stufe genannt. Ihren
Vollständigkeitsbeweis führte Kurt Gödel 1930. In der Prädikatenlogik
2. und höherer Stufe sind auch Prädikatenvariablen zugelassen. 1931
erbrachte Gödel den Unvollständigkeitsbeweis der Prädikatenlogik
2. und höherer Stufe. In seiner berühmt gewordenen Arbeit:
Über formal unentscheidbare Sätze der Principia Mathematica und
verwandter Systeme konnte er insbesondere zeigen,
daß jede mathematische Theorie unvollständig ist,
die mindestens so reichhaltig ist wie die Zahlentheorie!
Dieser Gödel'sche Unvollständigkeitssatz
war für die Logizisten ein deprimierender Rückschlag. Gödels
Beweis seines Satzes ist sehr kompliziert. In
GEB findet Ihr aber eine
verständliche und unterhaltsame Darstellung.``
Alberto machte eine Pause ... ,,Das muß ich erst `mal verdauen``,
sagte Sofie. Nach einer Weile ließ Hilde sich zögernd vernehmen.
,,Computer werden also niemals Mathematiker werden können.
Denn in unvollständigen Theorien sind Sätze wahr, die nicht
ableitbar sind. Faszinierend!``
,,Bemerkenswert an dem Beweis Gödels ist``, entgegnete Alberto,
,,daß er das Lügnerparadoxon abwandelt. Durch Abbildungen zwischen
Sätzen und Zahlen gelingt ihm die Konstruktion eines wahren Satzes,
der von sich selbst aussagt, daß er nicht ableitbar ist!``
,,Sagenhaft!`` staunte Sofie.
,,Wie können denn Abbildungen zwischen Sätzen und Zahlen selbstbezügliche
Sätze zur Folge haben? Axiomensysteme legen ihren Symbolen doch gar keine Bedeutung
bei. Liefert der Formalismus seine eigene Interpretation?`` wunderte sich
Hilde.
,,Auf dieses schwierige Thema werde ich später zurückkommen``,
vertröstete sie Alberto. ,,Ich sagte schon,
daß es Wittgenstein nicht nur um eine Begründung der
Mathematik, sondern auch der Logik ging. Er begnügte sich nicht mit der
Ausarbeitung einer Bedeutungstheorie aussagenlogischer Sätze. Sein Anliegen
war eine Bedeutungstheorie aller behauptenden bzw. assertorischen
Sätze, wie sie auch genannt werden. Russell hatte in seiner Theorie der
Beschreibung den Gegenstand als Bedeutung der Nominatoren herausgearbeitet
und gezeigt, daß wir beim Gebrauch von Nominatoren stets die Existenz
von Gegenständen unterstellen ... ``
,,Oder hohle Pseudokennzeichnungen verwenden``, entfuhr es Sofie.
,,Genau. Die Individuen bilden konkrete Gegenstände, die den
Nominatoren Bedeutung verleihen. Dieses Blockhaus z.B. ist der Gegenstand,
der dem Nominator Ferienhaus Wittgensteins Bedeutung gibt. Im übertragenen
Sinne könnten den Relationen abstrakte Gegenstände entsprechen, die den
Prädikatoren Bedeutung gäben. Eine Ausarbeitung dieses Ansatzes liefe auf eine
Gegenstandstheorie der Bedeutung hinaus. Wittgenstein verallgemeinerte
diesen Ansatz zu einer Abbildtheorie der Bedeutung. Wenn Ihr Euch an die
Definition einer mathematischen Funktion als Abbildung zwischen Zahlenmengen
erinnert, werdet Ihr Wittgenstein verstehen. Er erläutert seine Vorstellung
mit einem Beispiel aus der Musik: Die Grammophonplatte, der musikalische
Gedanke, die Notenschrift, die Schallwellen, stehen alle in jener abbildenden
internen Beziehung zueinander, die zwischen Sprache und Welt besteht.
Die gemeinsame Arbeit an Problemen der Logik war für Russell und Wittgenstein
gleichermaßen bereichernd. In Fragen der Ethik und Mystik dagegen gab es
keine Übereinstimmung. Russell schätzte an Wittgenstein, daß er aufrichtig
und frei von jener falschen Höflichkeit sei, die der Wahrheit widerspreche.
Er zeige Gefühle und Zuneigungen, an denen man sich erwärmen könne. Aber:
Für seine Moralkonzepte möchte ich lieber nicht bürgen, schrieb
Russell einer Freundin. Die Unterscheidung von Sagen und Zeigen hielt er
für eine seltsame logische Mystik. Denn in der Metasprache ließen
sich Dinge sagen, die in der Objektsprache unaussprechlich seien.
Als sich Wittgenstein nach der Kriegserklärung
Österreichs an Serbien freiwillig zum Fronteinsatz meldete, war die
Freundschaft mit dem Pazifisten Russell beendet. Ihr Kontakt beschränkte
sich fortan auf Sachfragen. Der Kriegsdienst war für Wittgenstein eine
Selbstprüfung, eine Bürde, die er auf sich zu nehmen hatte, um ein anderer
Mensch werden zu können. In sein Tagebuch schrieb er: Vielleicht bringt
mir die Nähe des Todes das Licht des Lebens. Möge Gott mich erleuchten.
In der Armee fiel er natürlich als Sonderling auf. Er galt als verschroben und
selbstgenügsam, wurde aber als tapfer und mutig anerkannt. Trotz der
widrigen Umstände arbeitete er intensiv am Tractatus. Immer wieder
schrieb er seine Entwürfe um und feilte an den Formulierungen. Die Logik
seiner Abhandlung erstreckte er über die Problembereiche:
,,Das wird nicht nötig sein``, sagte Hilde und verschwand im Haus. Nach
kurzer Zeit kam sie mit dem Manuskript des Tractatus und einigen Blättern
zurück, die sie schon am Morgen in der Truhe gefunden und überflogen hatte.
,,Die logischen Hauptpunkte des Tractatus solltet Ihr in Ruhe selbst zu
verstehen suchen; denn eigene Gedanken sind wichtiger als fremde
Resultate``, sagte Alberto frei nach Wittgenstein. ,,Machen wir uns auf den Weg
ins Mystische``, fuhr Alberto fort und verwies auf ein Blatt mit Sätzen des Tractatus:
,,Dabei hätte er das Leben eines Playboys führen können ... ``, entfuhr es
Sofie.
Hilde fragte nach einer Pause: ,,War Wittgenstein eigentlich verheiratet?``
,,Nein, nie``, entgegnete Alberto. ,,Er war homosexuell und hatte
natürlich Freunde, die auch Liebhaber waren. Im Herbst 1913 reiste er erstmals
mit einem Freund nach Skjolden. Wittgenstein blieb bis zum Sommer 1914 und
veranlaßte den Bau dieses Blockhauses. Da er auch handwerklich begabt war,
konnte er sich seinen Lebensunterhalt als Tischler verdienen. Bedingt durch
den Kriegsdienst, war es ihm erst 1921 wieder möglich, hier
mit einem Freund Urlaub zu machen. 1936 suchte er an diesem Ort für neun
Monate die Einsamkeit. Zuletzt war er im Herbst 1950 hier.
Laßt uns für heute Schluß machen. Ich werde die in der Truhe lagernden
Schriften sichten und Ihr könnt noch ein wenig ausruhen. Morgen werde ich
über Wittgensteins philosophischen Neubeginn erzählen.``
,,Ich werde mich trotz des Regens im Wald umsehen``, sagte Hilde und
blickte Sofie fragend an. ,,Ich bin zu müde, um noch `rausgehen zu
können.``
Unvermittelt erklang Orgelmusik. Sofie bewegte sich zwischen zerklüfteten
Mauern. War sie wieder im Harmonischen Labyrinth?
Die Musik Bachs kannte sie. Diesmal wurde das Stück aber extrem langsam
gespielt. Gleichmütig folgte Sofie den Unebenheiten und hatte das Gefühl,
im Labyrinth der Harmonien selbst zu wandeln. Erschrocken blieb sie stehen.
Abrupt verstummten die Töne. WAS war das? Von hinten vernahm sie das
Brüllen eines Stiers. Sie drehte sich um. Entsetzt und fasziniert zugleich,
sah sie den Minotaurus auf sich zu kommen. Stierkopf und Phallus dominierten
seine Gestalt. Langsam bewegte sie sich rückwärts. Ohne das Fabelwesen aus
den Augen zu lassen. Wie das Kaninchen vor der Schlange. Erstaunt vernahm
sie das Wiedereinsetzen der Musik. Sie ging schneller und mit ihr das
musikalische Spiel. Das Mischwesen kam rasch näher. Sie drehte sich um
und lief los. Die Harmonien dröhnten in rascher Folge. Das Gemäuer
erbebte. Da hatte das Ungeheuer sie erreicht. Es packte sie an den Beinen,
warf sie herum, riß ihr die Kleider vom Leib und - das Donnergetöse
einstürzender Mauern übertönte ihre Schreie. In Schüben durchfuhr die
Lust ihren Körper. Sofie spürte schwer die Last des Minotaurus
auf sich. Er rührte sich nicht mehr. Die Mauerbrocken mußten ihn erschlagen
haben. Die plötzliche Stille wirkte unheimlich. Erleichtert vernahm
sie fernen Gewitterdonner. Als sie wieder die Augen zu öffnen wagte,
blickte sie in das Gesicht Albertos ...
Hilde war trotz strömenden Regens in den Wald gelaufen. Begleitet von
hell zuckenden Blitzen und grollendem Donner gab sie sich den
Naturgewalten hin. Wie im Rausch lief sie voran, stolperte, fiel hin
und - überließ sich dem feucht-warmen Bett aus Gras und Moos ...
Alberto hatte sich so sehr in das Tagebuch Wittgensteins vertieft, daß er kaum
etwas von dem Gewitter mitbekam. Erst als es ganz in der Nähe einschlug, ließ
ihn ein berstendes Krachen hochfahren. Nach gleißender Helle wandeltete er im
völligen Dunkel. Er meinte Sofie schreien gehört zu haben. Schon zuckte der
nächste Blitz und entlud sich in grollend rollendem Donner. Wiederholt
tastete er sich vergeblich durchs Zimmer. Endlich erreichte er die Tür.
Im Flur hing fahles Licht. Er tappte nach oben und erreichte den
Balkon. Im kurzen Lichtschein des nächsten Blitzes gewahrte er Sofie
in eigenartiger Lage. Der vom Blitzschlag getroffene Baum hatte das Dach
gestreift und sie unter Astwerk begraben. Ihr Kopf lag frei. Mit eigenartigem
Blick sah sie ihn an; als wollte sie Abscheu und Verlangen zugleich ausdrücken.
Unwillkürlich hielt er inne. Langsam entspannten sich ihre Gesichtszüge
und gingen in ein wissendes Lächeln über. Sei's drum! Er packte erstmal
an. Sie schien unverletzt. Die Äste waren zwar recht groß, wurden aber
von Tisch und Stuhllehnen abgestützt. Sie wollte `was sagen. Das Krachen
eines weiteren Einschlags übertönte sie. Entfernt stürzte ein
Baum um. Das Gewitter wurde schwächer. Alberto hatte Sofie soweit
befreit, daß sie sich durchs Gewirr hangeln konnte ...
,,Ach Alberto! Bin ich froh``, sagte sie noch leicht verwirrt, ,,was
für ein Alptraum ..., im Harmonischen Labyrinth, ... verfolgt vom
Minotaurus ... ``
,,Es ist alles wieder gut``, versuchte Alberto sie zu beruhigen.
,,Ich bringe Dich ins Bett und morgen reden wir darüber.`` Beim fernen
Donnergrollen fiel ihm ein, daß Hilde noch
unterwegs war ... Ludwig Wittgenstein
Wahrheitsfunktionen p q w w w w w w
f w f w w f
w f f w f f
f f f f w w
tautology((p &and (¬ p)) &implies q); true;
tautology(p &implies (q &or (¬ q))); true;
Zur Übung solltet Ihr den Satz von Duns Scotus auf Allgemeingültigkeit testen.
Die Ersetzungen der Schemabuchstaben p, q durch Wahrheitswerte w, f könnt
Ihr in Analogie zur obigen Tabelle vornehmen.``
Sein Hauptanliegen galt aber der Ethik. Wittgenstein betonte stets;
gerade das, was er nicht geschrieben habe, sei das Wichtige. Das
Ethische werde durch sein Buch gleichsam von innen her begrenzt: Wenn
man sich nicht bemüht, das Unaussprechliche auszusprechen, so geht nichts
verloren. Sondern das Unaussprechliche ist, - unaussprechlich in dem Ausgesprochenen
enthalten. Diesem Bemühen, das Unaussprechliche zu bewahren, entspringen
die knappen, klaren Sätze des Tractatus. Er ist gegliedert in sieben
durchnummerierte Hauptkapitel, die in Unterkapiteln erläutert werden.
Um uns einen Überblick zu verschaffen, sollten wir die Hauptkapitel
auf ein Blatt Papier schreiben ... ``
,,Beim Lesen des Tractatus hatte ich den Eindruck, daß Wittgenstein möglichst
viel ungesagt sein lassen wollte, um gerade dadurch viel zeigen zu
können. Wer auf den Sprossen der Logik Metaphysik und Mystik erklimmt, kann die
Leiter wegwerfen, über die er hinauf gestiegen ist. Nur wenn ich das Skelett
herauspräpariere, merke ich, wie wenig damit vom Lebewesen erhalten bleibt ... ``,
beendete Alberto seine Erläuterung und ließ den Tractatus sprechen:
Niemand wagte das Schweigen zu brechen. Nach einer Weile erhob Alberto wieder das
Wort: ,,Wittgenstein beendete den Tractatus im Sommer 1918. Bis Mitte 1919
blieb er in Gefangenschaft. Konsequent wie er war, hüllte er sich fortan in
(philosophisches) Schweigen. Durch den Tod seines Vaters war er 1913 einer der
reichsten Männer Europas geworden. Sein ethischer Anspruch ließ es allerdings
nicht zu, aus einem Vermögen zu schöpfen, daß er nicht selber erarbeitet hatte.
1919 verschenkte er die Erbschaft an seine Geschwister unter der rigorosen
Bedingung, daß sie ihn niemals unterstützen dürften. Danach schrieb er sich
in der Wiener Lehrerbildungsanstalt ein, um Volksschullehrer zu werden. Erst
1929 kehrte er nach Cambridge zurück. Zuvor arbeitete er als Lehrer in verschiedenen
österreichischen Dörfern, verdingte sich als Gärtnergehilfe in Klöstern und
betätigte sich als Architekt beim Bau eines Hauses für eine seiner Schwestern.``