Sie war fasziniert durch den Regen gelaufen ... Blitze zuckten, Donner rollten, Bäume barsten ... Plötzlich stand sie vor einer Leiter. Sie lehnte an einem gewaltigen Stamm und endete irgendwo in der Weite der Krone. Hilde begann hochzusteigen. Es war leicht wie auf einer Rolltreppe. Im Blätterdach angekommen, bemerkte sie verblüfft, daß die Leiter im Dunkel der Wolken verschwand. Einen Moment hielt sie inne. Da zuckte ein gleißendes Licht herab. Die Leiter zersplitterte und versank in der Tiefe. Hilde fiel mit ihr und - landete sanft im Moos ...
Verwundert schlug sie die Augen auf. Sie mußte geträumt haben. Die Sonne
hatte bereits ihren halben Höchststand erreicht. Flugs war Hilde auf den
Beinen und kleidete sich an. Nach kurzer Orientierung machte sie sich auf
den Weg. Sofie und Alberto saßen beim Frühstück auf dem Balkon. Hilde
trat durch die Tür und wurde freudig begrüßt.
,,Wir hatten uns Sorgen gemacht. Schön, daß Du wieder da bist``, sagte
Alberto und schaute Hilde prüfend an. ,,Du siehst recht mitgenommen
aus ... ``
,,Bist Du gestürzt?`` fragte Sofie und deutete auf einige Kratzer und
die verschmutzte Kleidung.
,,Ich schlief im Moos. Zuvor war ich von einer Himmelsleiter gefallen ... ``
,,Ach, weiter nichts``, entfuhr es Sofie mit ironischem Unterton.
,,Von einer Himmelsleiter?`` wunderte sich Alberto.
,,Das werde ich wohl nur geträumt haben``, entgegnete Hilde und stetzte
sich mit Appetit an den Tisch.
,,Womöglich bestiegst Du die Sprossen der Logik, um ins Mystische zu
gelangen``, deutete Alberto ihren Traum.
,,Leider funkte mir ein Blitz dazwischen``, ergänzte Hilde lachend.
,,Das war ja ein großartiges Gewitter ... ``
,,Sofie wäre fast von einem umstürzenden Baum erschlagen worden``,
erwiderte Alberto ernst. ,,An Dach, Balkon und Stuhl kannst Du noch
die Schleifspuren sehen.``
,,Donnerwetter ... ``, entfuhr es Hilde. ,,Da hast Du aber Glück
gehabt.`` Sie schaute Sofie an.
,,Ich hatte gar nichts gemerkt. Viel schlimmer war der Alptraum ... ``
,,Jetzt, wo wir wieder zusammen sind, kannst Du ihn erzählen``, sagte
Alberto ermunternd. ,,Hat er auch was mit Wittgenstein zu tun?``
Sofie zögerte. Nicht, weil sie ihren Traum vergessen hatte. Der Zwiespalt
ihrer Gefühle ließ sie inne halten. Hilde und Alberto blickten sie
erwartungsvoll an. Vielleicht brachte das Erzählen ihr ja Erleichterung.
,,Geht's um Sex?`` fragte Hilde spitzbübisch.
,,Ja ... , auch ... ``, druckste Sofie herum.
,,Das ist in Eurem Alter ganz normal``, schaltete sich Alberto ein.
,,Als ich 15 war, hatte ich auch nur Sex im Kopf. Ständig erträumte
ich mir die schönsten Wunscherfüllungen ... ``
Sofie überwand sich und begann zu erzählen. Erst neugierig, dann verwundert,
schließlich fasziniert lauschten Hilde und Alberto Sofies Traumerlebnissen.
Erleichtert und erötet kam sie zum Schluß.
,,Der Traum ist ja hochinteressant``, ließ Alberto sich vernehmen,
,,welch eine Verdichtung! Dein Verlangen nach Sex und die Furcht
vor der ersten Erfahrung wird verbunden mit dem Mythos vom Minotaurus.
Das kretische Labyrinth erscheint gleichsam als Plattenrille. Synchron
mit Deinen Bewegungen als Abtastnadel erklingt das Kleine Harmonische
Labyrinth Bachs. Und dann das Finale! Durch Resonanz muß das ganze
Grammophon in die Brüche gegangen sein ... `` Albertos Stimme war
immer lauter geworden. Die Mädchen blickten ihn verwundert an.
,,Der Gewitterdonner und das Krachen des umstürzenden Baums wurden durch
das Dröhnen der Musik und die einstürzenden Mauern überdeckt``, fuhr Alberto fort.
,,Der Traum als verhüllte Wunscherfüllung und Hüter des Schlafes.``
,,Was ist denn Resonanz?`` fragte Sofie.
,,Bei einer Resonanz stimmt die anregende Schwingungsfrequenz der
Schallplatte mit der Eigenfrequenz des Grammophons überein.
Dabei wird die Energieübertragung maximal``, erläuterte Alberto.
,,Dein Traum enthält bestimmt weitere verborgene Zusammenhänge``, kam
Alberto ins Grübeln. ,,Zu jedem Grammophon gibt es eine Schallplatte,
die es zerstört. Diesen physikalischen Sachverhalt kann man mit Wittgenstein
als Gleichnis für die Beziehung zwischen Sprache und Welt ansehen. Die Welt
sprengt jedes Korsett der Logik, in das man sie spannt.
,,Und die Russellmenge unterminierte die Logik Freges.`` Aufgeregt über
ihren Einfall forderte Hilde: ,,Jetzt mußt Du uns unbedingt verraten,
wie Gödel mit Epimenides die Zahlentheorie zum Einsturz brachte ... ``
Sofie hatte staunend zugehört. ,,Hatte ich das alles geträumt?`` fragte
sie ungläubig.
,,Wir könnten Deinen verhüllten Traumgedanken noch sehr viel mehr
entlocken. Ich hätte aber nichts dagegen, Hildes Vorschlag aufzugreifen``,
entgegnete Alberto und sah Sofie fragend an. Sie nickte gedankenversunken.
,,Der Gödel'sche Beweis ist allerdings so kompliziert, daß ich ihn nur
in den Grundzügen darstellen kann.``
,,Versuch es trotzdem!`` drängte Hilde.
,,Um Euch das Verständnis zu erleichtern, beginne ich mit einer Umformulierung
der Epimenides-Paradoxie. Sie stammt von dem amerikanischen Logiker Quine und
lautet wie folgt: Ergibt eine Unwahrheit, wenn sein Zitat vorangeht
ergibt eine Unwahrheit, wenn sein Zitat vorangeht. Einem Satz das Zitat seiner
selbst voranzustellen, wird auch quinieren genannt.`` Alberto machte eine Pause.
,,Das umgangssprachliche Zitat einer Unwahrheit ihrerselbst hat Gödel
in einen
Satz der Zahlentheorie
übertragen.
,,Phantastisch!`` entfuhr es Hilde begeistert. ,,Welch eine
Gedankenakrobatik ... ``
,,Wie kann einem so etwas bloß einfallen``, staunte Sofie. ,,Ich habe
nicht alles verstanden. Die Bezüge zur Umgangssprache waren aber sehr hilfreich.``
,,Im Detail steckt eine Menge Arbeit darin. Idee und Durchführung eines Beweises
sind zweierlei. Entscheidend bleiben aber die Ideen: Satz-Zahlen, die Sätze
zitieren. Ein Beweispaar, das die Ableitbarkeit eines Satzes verneint. Die
Substitution eines Satz-Zitates im Satz selbst. Schließlich die
Kombination eines Nicht-Beweispaares mit dem Selbstzitat!`` ergänzte
Alberto zusammenfassend.
,,Die Pythagoreer hätten an den Gödelnummern bestimmt ihre helle Freude
gehabt``, bemerkte Hilde.
,,Widerspricht nicht das Verfahren Gödels dem Bemühen Russells, in der
Logik nach Typen die Sprachebenen klar zu trennen?`` fragte Sofie zögernd.
,,So könnte es scheinen``, entgegnete Alberto. ,,Gödel hat sich allerdings
mit seinem Unvollständigkeitsbeweis ausdrücklich auf die Principia Mathematica
bezogen. Die Typenlogik trennt nur Allsätze von singulären Sätzen. Substitutionen
und Quantifizierungen von Prädikaten gehören zum Sprachumfang der Zahlentheorie
bzw. der Prädikatenlogik 2. Stufe.``
,,Die Wahrheit des Satzes G, der von sich selbst sagt, daß er falsch sei,
setzt doch nicht nur die Widerspruchsfreiheit der Zahlentheorie voraus, sondern
auch die klassische Logik. Denn aus der Annahme, daß G falsch sei, folgt nur durch
doppelte Verneinung, daß er wahr sein müsse, wenn er falsch sein solle ... ``
,,1931 wurde das Problem dadurch verschärft, daß die Widerspruchsfreiheit
der Zahlentheorie noch gar nicht bewiesen war. Dein Unbehagen an der klassischen
Logik, Hilde, sollten wir bis zur Behandlung des Konstruktivismus vertagen``, entgegnete
Alberto.
,,Jetzt möchte ich aber wissen, ob der Formalismus sich wirklich
selbstinterpretiert``, drängte Hilde.
,,Mich interessiert vielmehr die Philosophie der Umgangssprache, der
Wittgenstein sich nach seinem Schweigen zuwandte``, warf Sofie ein und fragte:
,,Was hat Wittgenstein eigentlich zu Gödels Beweis gesagt?``
,,Es ist an der Zeit, mit der Sprachphilosophie fortzufahren``, sagte Alberto.
,,Zur Überleitung kann ich gleichwohl Hildes Frage aufgreifen. Die
Selbstinterpretation beginnt mit der Möglichkeit des Zitierens. In der
Zahlentheorie sind die Zahlen nicht nur zum Rechnen, sondern auch zum Zitieren
von Sätzen nutzbar. Damit werden sie zwar zweckentfremdet``
,, ... und zweideutig``, warf Sofie ein.
,, ... es wird aber keine
Metasprache erzeugt. Im Formalismus entsteht Bedeutung durch Isomorphie.
Das ist nur eine andere Formulierung für die Schaffung von Bedeutung durch
Abbildung. Gödels Zuordnung zwischen Zahlen und Sätzen bleibt im Rahmen der
Abbildtheorie. Der eigentliche Grund für die Selbstinterpretierbarkeit
der Zahlentheorie ist ihre Verbindung aus zwei unabhängigen Symbolsystemen:
der Logik und der Arithmetik. Logisches Schließen und Zählen sind jeweils
originäre menschliche Fähigkeiten. Bringt man sie zusammen, entstehen
verblüffende Einsichten``
,,Eine faszinierende Perspektive ... ``, schwärmte Hilde.
,,Das ist nicht nur in der Zahlentheorie so, sondern in allen Bereichen
der Mathematik und Physik. Ich erinnere an die Existenz von Lichtwellen aus
der Verbindung von Elektrizität und Magnetismus``, fuhr Alberto fort.
,,Verborgene Zusammenhänge erschließen sich aus dem Zusammenhang``,
sinnierte Hilde.
,,Wittgenstein hielt Mengenlehre und mathematische Logik für entbehrliche Teile der Mathematik. Ihm ging es um eine Begründung der Logik bzw. Mathematik durch Reflexion der Umgangssprache. Den Anstoß zur Wiederaufnahme des Philosophierens gab ihm der niederländische Mathematiker Brouwer. 1928 hielt er in Wien einen Vortrag über Mathematik, Wissenschaft und Sprache. Brouwer galt als engagierter Vertreter des Intuitionismus. Dieser philosophischen Außenseiter-Schule ging es darum, die Mathematik aus der Urintuition des Zählens zu entwickeln. D.h. aus der Einfühlung in unser Zählvermögen sollte die Mathematik gefolgert werden können. Das ausgeschlossene Dritte, Negationen und Widerspruchsbeweise wurden in der operativen Logik nicht zugelassen. Logik und Arithmetik sollten gleichermaßen aus dem Operieren mit Symbolen abgeleitet werden können. Um die Mathematik allein auf der Grundlage konstruktiver Beweise rechtfertigen zu können, wurde die operative Logik von den Konstruktivisten später im Detail ausgearbeitet.
Die intuitionistische Verbindung aus logischer Strenge und Einfühlung in
menschliche Grundvermögen kam der Wesensart Wittgensteins sehr entgegen. Denn
gegen den etablierten Wissenschaftsbetrieb hegte er erhebliche Vorbehalte:
In Wirklichkeit gibt es nichts Konservativeres als die Wissenschaft.
Die Wissenschaft verlegt Eisenbahngleise. Und für die Wissenschaftler ist es
wichtig, daß sich ihre Arbeit auf diesen Gleisen bewegt. Ein Witz spitzt sehr
schön zu, was Wittgenstein meinte. Zwei Geistesgestörte folgen einem eingleisigen
Bahndamm. Nachdem sie einige Zeit so vor sich hin gegangen sind, hören sie
hinter sich das Pfeifen eines Zuges. Da sagt der eine bekümmert: Wenn nicht
gleich eine Weiche kommt, sind wir verloren ... ``
Kurze Pause ... und die Mädels prusteten los. ,,Das ist stark ... sooo
eingefahren zu sein ... ``
,,Über die beiden Verrückten können wir natürlich nur lachen``, nahm
Alberto den Faden wieder auf. ,,In gewissem Sinne sind wir aber alle so.
Der Mensch ist ein Gewohnheitstier. Wir neigen dazu, ausgetretene Pfade zu
benutzen, ohne es noch zu merken.``
,,Dazu fällt mir ein Zweizeiler ein``, sagte Sofie und gab ihn zum Besten:
Two roads diverged in a wood - and I
I took the one less traveled by
,,Ja, habe den Mut, Deinen eigenen Weg zu gehen``, ergänzte Alberto. ,,Springe vom Bahndamm und folge dem wilden Leben, das sich austoben möchte. So hat Wittgenstein einmal sein Lebensideal charakterisiert. Während seines philosophischen Schweigens erreichte er eine persönliche Läuterung, vervollkommnete sich durch Übernahme weiterer Bürden, folgte mehr und mehr dem Primat der Praxis:
Geschrieben steht: Im Anfang war das Wort!
Hier stock ich schon! Wer hilft mir weiter fort?
Ich kann das Wort so hoch unmöglich schätzen,
Ich muß es anders übersetzen,
Wenn ich vom Geiste recht erleuchtet bin.
Geschrieben steht: Im Anfang war der Sinn.
Bedenke wohl die erste Zeile,
Daß deine Feder sich nicht übereile!
Ist es der Sinn, der alles wirkt und schafft?
Es sollte stehn: Im Anfang war die Kraft!
Doch auch indem ich dieses niederschreibe,
Schon warnt mich was, daß ich dabei nicht bleibe.
Mir hilft der Geist! Auf einmal seh ich Rat.
Und schreibe getrost: Im Anfang war die Tat!
Dieses Zitat entstammt dem
Faust
Goethes. Ein großartiges Werk, das ihr
hoffentlich noch kennenlernen werdet. Wittgenstein ging zunehmend dazu über,
in Gleichnissen zu sprechen. Er suchte nicht mehr nach Problemlösungen,
vielmehr trachtete er danach, Probleme aufzulösen. Die Klarheit, die er
anstrebte, war eine vollkommene. Damit meinte er aber nur, daß die
philosophischen Probleme vollkommen verschwinden sollten. Er schrieb: Die Philosophie darf den tatsächlichen Gebrauch der Sprache
in keiner Weise antasten. Sie läßt alles, wie es ist; schaffe lediglich Ordnung
im Haus der Umgangssprache. Denn die Philosophie schütte weder Fundamente, noch
errichte sie Gebäude. Sie halte bloß Ordnung in den Zimmern. Die Mathematik
sei ihr Besen; gehöre also nicht zur Einrichtung! Wer Mathematik wie Logik betreibe,
verwechsele Tischlern mit Leimen. Widersprüche könnten überhaupt nicht irreführen,
da sie nirgends hinführten ...
,,Das sind ja schöne Gleichnisse``, sagte Sofie erfreut.
,,Ich gebe auch eins zum Besten``, fuhr Alberto fort: ,,Der Mathematik als
Besen im philosophischen Haushalt entspricht der Traum beim nächtlichen
Hirnputz ... ``
,,Was soll das denn heißen``, wollte Hilde wissen.
,, ... Während des hirnphysiologischen Reinemachens werden im Mittelhirn
vielfältige Signale freigesetzt. Ihre Interpretation im Großhirn hat
das meist bizarre Traumerleben zur Folge.``
,,Hat diese physiologische Traumtheorie noch `was mit Freuds Traumdeutung
zu tun``, fragte Hilde.
,,Nur noch entfernt. Der physiologische Ansatz ist wesentlich allgemeiner.
Die Traumgedanken entsprechen keinen verdrängten Erlebnissen mehr, die zensiert
im manifesten Traum erscheinen. Vielmehr bilden sie die Semantik zur Syntax der
(physiologischen) Signale.``
,,Wie bitte?`` warf Sofie ein.
,,Unsere Erinnerungen bilden gleichsam das Reservoir (Semantik), aus dem beim Interpretieren der chaotischen Reinigungssignale (Syntax) geschöpft wird. Welche Gedächtnisinhalte dabei jeweils aktiviert werden, läßt gleichwohl einen Einblick in die Person zu``, erläuterte Alberto. ,,Für Freud war ja die Traumdeutung Teil seiner Psychotherapie. Wittgenstein nutzte sie zur Selbstanalyse. Da auch die Philosophie für ihn heilende Wirkung hatte, trat in seinen Schriften mehr und mehr der ethisch-therapeutische Ansatz hervor.