In ihrem Zimmer angekommen, war sie gerade in der Stimmung, sich mit de' Sade auf die AG vorzubereiten. Der Titel klang verwirrend: Justine oder Die Leiden der Tugend gefolgt von Juliette oder Die Wonnen des Lasters. Um nach dem Lesen gleich einschlafen zu können, streifte sie die Wäsche ab und ging ins Bad. Zurück im Bett kuschelte sie sich unter die Decke, stützte ihren Kopf auf den rechten Ellenbogen und schlug ans Kissen gelehnt das Buch auf: Das sollte die Hauptaufgabe der Philosophie sein: die Mittel und Wege zu erforschen, deren sich das Schicksal zur Erreichung seiner Ziele bedient. Daraus müßte sie dann Verhaltensmaßregeln für den armseligen Zweifüßler, Mensch genannt, herleiten, daß er auf seinem dornenvollen Pfade nicht immer abhängig sei von den bizarren Launen jener dunklen Macht, die man nacheinander Bestimmung, Gott, Vorsehung, Zufall getauft hat. Das hörte sich ja recht praktisch an. Mal sehen, wie's weiterging: Wenn wir nun bei solchen Studien finden, daß die Bösen für ihre Missetaten Lohn statt Strafe ernten, werden da nicht Menschen, die von vornherein, aus Anlage oder Temperament, zum Bösen neigen, mit Recht schließen, es sei besser, sich dem Laster offen zu weihen, als ihm zu widerstreben - entgegen unseren lächerlichen, abergläubischen, unnützen Moralgesetzen? Nun wurde es biologistisch. Werden sie aber nicht vor allem sagen, daß, wenn Tugend und Laster gleichermaßen in den Absichten der Natur liegen und wir das Laster immer triumphieren, die Tugend immer unterliegen sehen, es klar zutage liegt, auf welcher Seite wir zu kämpfen haben?

Das klang aber schwer nach Sozialdarwinismus, dachte Sofie ... Wir werden das Verbrechen so malen wie es ist, das heißt immer triumphierend, immer zufrieden, immer beglückt, und ebenso die Tugend, wie sie wirklich aussieht: immer unglücklich, immer leidend, immer unterliegend. Das müssen ja schlimme Zeiten gewesen sein ... Aber war es heute wirklich so viel besser? Ein furchtbarer Verdacht beschlich sie. Starben nicht Tausende immer noch unter der Knute ihrer Peiniger? Bestand die wahre Klugheit nicht nach wie vor darin, die Zahl seiner Freuden und nicht die seiner Leiden zu vermehren? ... Man liebt nur Leute, von denen man hofft, Annehmlichkeiten zu empfangen. Sofie mußte an Chris denken, der ihr `mal in seiner entwaffenden Offenheit gesagt hatte, daß er sie nur liebe, um Sex zu bekommen und sie ihm wohl nur Sex gebe, um Liebe zu bekommen ... Die tugendhafte Justine war unterdessen in ein Bordell geraten: Fügt sich ein junges Mädchen selbst Schaden an, wenn es der Wollust lebt? Zweifellos nein; denn es folgt nur der Natur ... .

`Mal sehen, wie's Juliette erging, fragte Sofie sich und blätterte weiter vor: Justine und ich wurden im Panthemont Kloster erzogen. Sie wissen, daß diese Abtei sehr berühmt ist und daß seit Jahren aus ihr die hübschesten und liebestollsten Pariserinnen hervorgingen. Welch heitere Ironie, dachte Sofie. Mephist kam ihr in den Sinn, ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will, und stets das Gute schafft. Wie schön es gewesen war, als sie mit Chris zusammen FAUST gelesen hatte und er so sehr in der Rolle MEPHIST' aufging. Sie ließ seufzend den Kopf ins Kissen fallen, so daß Sade zuklappte und vom Bett rutschte. Ulrich hatte von der Zweiseitigkeit des Lebens gesprochen, Niels nannte es Gegenwirkungsprinzip: FAUST und MEPHIST, Aufklärung und Sadismus ... , Licht und ... Schatten ... hüllte sie ein ...

Niels und Hilde saßen aufgeregt vor dem Rechner. Da Niels auf Nachrichten vom Ausgang der Higgs-Experimente wartete, hatte er noch `mal seine Mailbox gesichtet. Er hatte zwar keine Mail aus Hamburg bekommen, dafür aber eine aus München, vom Max Planck Institut für Physik. Ein ehemaliger Kommilitone berichtete darüber, daß er einen Vorschlag zur experimentellen Überprüfung der Viele-Welten-Interpretation gemacht habe. ,,Das wär' ja `n Hammer!`` rief Niels aus. Die beiden schauten sich an. ,,Stell Dir vor, das Experiment verläuft positiv!``

Hilde hatte die Mail zwar auch gelesen, aber kaum `was verstanden. ,,Kannst Du mir nicht vorab `mal das Experiment erläutern?`` drängte sie.

Ganz aus dem Häuschen, legte er los: ,,Rainer hat einen Vorgang zum Zwischenwelt-Austausch beschrieben. Ein einzelnes Ion wird von seiner Umgebung isoliert und in einer Ionenfalle gefangen. An einem anderen System wird eine Messung mit zwei möglichen Ereignissen ausgeführt. Daraus ergeben sich zwei parallele Welten. In Abhängigkeit des Ergebnisses wird das Ion angeregt, und zwar nur aufgrund des Einflusses aus einer Welt. Die Anregung des Ions erfolgt, bevor es mit seiner Umgebung wechselwirkt! Eine Registrierung dieser Anregung in der anderen Welt wäre ein Indiz zur Bestätigung der Viele-Welten-Annahme.`` Niels schaute Hilde mit großen Augen an.

Sie dachte einen Moment nach und rief sich die Zustandsreduktion in Erinnerung. ,,Das heißt aber doch``, begann sie zögernd, ,,daß der Kollaps der Wellenfunktion eine gewisse Zeit dauert ... ``

,,Du hast es erfaßt!`` rief Niels begeistert. ,,Der Übergang vom reinen bzw. kohärenten Zustand mit Interferenz in den dekohärenten Zustand des Gemenges dauert eine Weile, die lang genug ist, um Messungen auszuführen. Nach der Messung des Zwei-Zustands-Systems befindet sich das Ion noch in seiner Dekohärenzzeit; bildet quasi einen gateway state zwischen den Welten ... ``

,,Da sich die Welten also kurzzeitig überlappen, kann das isolierte Ion quasi als Schlupfloch in die andere Welt angesehen werden ... Faszinierend!``

Die Hochstimmung der beiden währte bis tief in die Nacht. Niels phantasierte von Singularitäten und Wurmlöchern in der Raumzeit, von schwarzen Löchern ohne Haare ... , von Wegen der Natur ...

Das Wochenende war für Sofie ereignisreich und unterhaltsam verlaufen. Ob sie sich weiter an der Sade-AG beteiligen sollte, wußte sie noch nicht. Sie meinte, die Kehrseite der Aufklärung verstanden zu haben. Eine Religionskritik darf nicht das Kind mit dem Bade ausschütten und auf jegliche Moral verzichten. Das galt ebenso für die Neopositivisten! Sofie hatte sich darüber gewundert, daß Anja mit Ulrich ihre sado-masochistischen Neigungen ausleben wollte. Mitzumachen hatte sie sich nicht getraut.

Der Besuch in Stanford war großartig! Was für eine schöne Universität. Die Studiengebühren von rund DM 40.000.- pro Jahr, mußte man allerdings erst `mal aufbringen. Die Begegnung mit Chris verlief angespannt. Janet war ein hübsches und vielseitig interessiertes Mädchen. Sie hatte gerade zu studieren begonnen und gehörte noch zu den fresh men. Neben den Grundkursen zu den basic ideas of science and humanities hatte sie als major Mathematik gewählt. Chris hatte sie natürlich für die Jugendbewegungen begeistert.

Auf der saturday night party war Sofie mit dem Logiker ins Gespräch gekommen. Er hieß Pieter und kam aus Amsterdam. Dort studierte er computer science und social studies. Nachdem er Willem van Reijens, Philosophie als Kritik gelesen hatte, wollte er darüber weiter arbeiten. Er hatte eigentlich wenig gesprochen, aber umso mehr gesagt. Ihren Vorschlag, Persönlichkeitszustände in Analogie zu quantennechanischen Zustandsüberlagerungen zu verstehen, hatte er allerdings als kategorialen Mißgriff abgetan. Auf jeden Fall wollten sie sich gemeinsam alle Folgen der Zweiten Heimat ansehen.

Am Montag morgen versammelten sich die Schüler der Kritik-AG in einem Seminarraum ihrer Akademie. Die Terrasse sollte reihum allen AG's zur Verfügung stehen. Nachdem fast alle eingetrudelt waren, begann Niels mit der Weiterführung des Logischen Empirismus. Zunächst wiederholte er die Hauptpunkte der Diskussion vom letzten Mal ...

Sofie saß mit Hilde und Pieter zusammen. Ulrich fehlte. Vielleicht hatte Anja ihn ja zu sehr `rangenommen, dachte Sofie in einem Anflug morbider Schadenfreude. Sade's Grausamkeiten waren schon eine Zumutung. Aber wer nur in logischen Kategorien denkt ...

,,Im Anschluß an Wittgenstein``, hörte Sofie Niels sagen, ,,teilten sich Ideal- und Umgangssprachler die Arbeit. Die Neopositivisten wurden natürlich hauptsächlich von letzteren kritisiert. Aber auch die Logiker sparten nicht mit Kritik. So wurde eingewandt, daß eine Sprache niemals allein aus Sinnesdaten bzw. Beobachtungssätzen aufgebaut werden könne. Die mit der Sprache zu unterstellenden Existenzannahmen seien stets reichhaltiger als die empirische Basis. Umgekehrt könnten verschiedene Sprachen grundsätzlich nicht auf eine Basissprache reduziert werden, da es immer eine Übersetzungsunbestimmtheit gebe. Wie das Induktionsproblem gezeigt habe, könnten Theorien nicht allein auf der Grundlage von Beobachtungssätzen nach logischen Regeln abgeleitet werden. D.h. Theorien seien niemals verifizierbar. Deshalb gehe der Falsifikationismus davon aus, daß Theorien an Hand ihrer Folgerungen zu widerlegen seien. Widerlegen statt Beweisen, lautet das Motto. Aber auch das gelänge nicht zwingend, da jeder Kritik mit ad-hoc Hypothesen begegnet werden könne ... ``

,,Moment mal``, meldete sich ein Schüler zu Wort. ,,Die Quantentheorie ist doch aus dem beobachteten Frequenzverlauf der Wärmestrahlung hervorgegangen. Und die Relativitätstheorie folgte aus den gescheiterten Ätherdrift-Experimenten.``

,,Weit gefehlt``, entgegnete Niels. ,,Durch die ad-hoc Hypothesen einer Verkürzung der Maßstäbe und Verlangsamung der Uhren, konnten Theorie und Experiment durch Lorentz bereits vor Einstein in Einklang gebracht werden. Und die Existenz des Wirkungsquantums ließ sich durch die ad-hoc Hypothese einer Quantenkraft mit der klassischen Theorie vereinbaren. Ganz im Sinne des Newton'schen Programms.

Beide Theorien wurden wesentlich aus theoretischen Erwägungen heraus entwickelt. Einstein hielt sich an abstrakte Prinzipien, wie den Energiesatz oder das Relativitätsprinzip. So konnte er nicht nur theoretisch die Äquivalenz von Masse und Energie herleiten, sondern auch die Proportionalität von Energie und Frequenz eines Lichtkomplexes folgern; das Quantenpostulat also aus der Relativitätstheorie ableiten.

Die mit der täglichen Forschungsarbeit befaßten Wissenschaftler hatten somit wenig Verständnis für die logisch-empiristische Philosophie ihrer Wissenschaft. Der tatsächliche Verlauf der Wissenschaften wurde denn auch von den Historikern gegen die Neopositivisten ins Feld geführt. Die Wissenschaft werde weniger durch methodologische Regeln des Begründens oder Widerlegens vorangebracht; vielmehr seien es die persönlichen Interessen und Überzeugungen der Forscher, die Vorgaben der Institutsdirektoren und Geldgeber aus Staat und Industrie, die fördernd oder behindernd auf die Forschung einwirkten.

Zu den persönlichen Überzeugungen der Wissenschaftler zählen die Themata, z.B. des Atomismus, Determinismus oder Realismus. Dazu kommen die Paradigmen genannten Grundannahmen wissenschaftlicher Schulen, wie z.B. der klassischen Physik im Gegensatz zur Modernen Physik. Innerhalb der Modernen Physik wiederum gibt es das Standardmodell, aber auch abweichende Richtungen. Die den Paradigmen unterfallenden Forschungsprojekte werden häufig zu ganzen Forschungsprogrammen zusammengefaßt und organisiert. Die Untersuchung der Wärmestrahlung gegen Ende des 19. Jahrhunderts erfolgte z.B. im Rahmen eines Forschungsprogramms zur Entwicklung von Hochtemperatur-Meßverfahren für die Schwerindustrie. Gegenwärtig gibt es umfangreiche Forschungsprogramme zur Entwicklung von Therapieverfahren gegen Krebs und AIDS, BSE und Altzheimer.``

,,Dann scheint es ja im Wissenschaftsbetrieb ähnlich chaotisch zuzugehen, wie in der Politik``, gab eine Schülerin zu bedenken. ,,Gibt es denn keine Logik der Forschung?``

,,Die Entstehungs- und Verwertungszusammenhänge der Wissenschaft lassen in der Tat wenig Rationalität erkennen. Aber auch der Begründungszusammenhang folgt nicht immer strenger Logik, wie die Neopositivisten zu rekonstruieren versuchten. Insbesondere beim Übergang zwischen Themata und Paradigmen zählt mehr die Rhetorik der Propaganda als die Logik des besseren Arguments. Einstein rückte z.B. zeitlebens nicht von dem Paradigma der klassischen Physik ab; ebenso Planck und Schrödinger. Und bei der Beurteilung der Weltsysteme hatten die Kirchenväter durchaus die besseren Argumente. Galilei war aber ein geschickter Rhetoriker. Nach dem gesunden Menschenverstand ist es doch absurd anzunehmen, daß sich die Erde um sich selbst drehen und mit hoher Geschwindigkeit durchs All rasen solle. Ebenso absurd ist es, physikalische Bewegungen auf Zufälle gründen und instantane Fernwirkungen annehmen zu wollen.

Der Wissenschaftsphilosoph Paul K. Feyerabend zog aus der Irrationalität der Forschungspraxis die Konsequenz des Künstlers und redete einer dadaistischen Erkenntistheorie das Wort. In seinem Buch Wider den Methodenzwang kommt er nach detaillierten Fallstudien zur Wissenschaftsgeschichte zu dem Ergebnis, daß die Forscher am Kreativsten sind, wenn sie machen, was wollen: anything goes. Eine interpretierende Philosophie sei überflüssig: Bürgerinitiativen statt Philosophie! lautet sein Motto.``

,,Wissenschaftsintern sollten die Forscher machen können, was sie wollen. Über die Entstehung und Verwertung von Froschungsprogrammen sollte politisch entschieden werden``, begann Pieter. ,,Das scheint mir sehr vernünftig. Deshalb aber gleich die ganze Wissenschaftsphilosophie durch Bürgerinitiativen ersetzen zu wollen, halte ich für übertrieben. Die Neopositivisten hatten mit Metaphysik-Kritik begonnen; die empirischen Wissenschaften aber kaum kritisiert, sie lediglich analysiert. Damit trugen sie zu deren Mißbrauch im militärisch-industriellen Komplex bei. Mein Motto lautet daher: Kritische Theorie statt Positivismus!``

,,Gut, greifen wir Deinen Vorschlag auf und begeben uns in die Gefilde der Sozialphilosophie!`` entgegnete Niels. ,,Die Kritik der Umgangssprachler am Positivismus können wir auch in Verbindung mit der kritischen Theorie behandeln.

Nach dem Sturz des Kaisers und der Novemberrevolution gab es in Deutschland viele Bestrebungen zum Umsturz und zur Gewinnung der Massen. Aufgrund der wirtschaftlichen Misere hatten die Republikaner in der Auseinandersetzung mit den Kommunisten und Faschisten keine Chance. Die Rechten fanden nicht nur Rückhalt im nach wie vor obrigkeitsstaatlichen Verwaltungs- und Militärapparat. Sie vermochten auch durch Mythen, Legenden und Symbole die dumpfen Gefühle und Leidenschaften der Massen in Wallung zu versetzen. Hitler verstand es in meisterhafter Weise mit Schlagworten und Parolen das Volk in Stimmung zu bringen. So spielte er mit dem Schlagwort von der Zinsknechtschaft auf die Legende von der erstrebten Weltherrschaft des Judentums an. Als Novemberverbrecher beschimpfte er die Friedensstifter von Versaille und knüpfte an die Legende vom Dolchstoß in den Rücken des im Felde unbesiegten Heeres an. Schon in Mein Kampf legte er die Grundlage für den später immer wieder beschworenen Führer- und Heldenmythos. Und mit dem Symbol des Hakenkreuzes als Lichtzeichen aller nordischen Völker konnte er im Gegensatz zu den Parteisymbolen seiner Gegner alte, tiefverwurzelte Mythen in der Volksseele wachrufen. Mit Bedacht wurden dabei die Farbkontraste des schwarzen Hakenkreuzes im weißen Rund auf blutrotem Hintergrund gewählt. Durch das Heilszeichen der Swastika als Sonnensymbol wurde der Sieg des ,,arischen`` Menschen verkündet. Die Licht-Dunkel-Symbolik knüpfte an den Kampf des Lichts, des Lebens, des Guten an gegen die Finsternis, den Tod, das Böse. Die Farben konnten auch kurz und bündig auf den Punkt gebracht werden: Das Rot ist sozial, das Weiß national und das Hakenkreuz antisemitisch.

Den uralten germanischen Mythen und politischen Legenden hatten die in der Tradition der Aufklärung stehenden Republikaner wenig entgegenzusetzen. Wer Brot und Arbeit im Heil eines arischen Paradieses verspricht, schürt eine religiöse Heilserwartung, der mit Argumenten nicht begegnet werden kann. Einzig die Verbesserung der wirtschaftlichen Misere konnte da weiterhelfen. So schloß sich z.B. der später im Wiener Kreis mitwirkende Otto Neurath um die Jahreswende 1918/19 der breiten Massenbewegung zur Schaffung einer sozialistischen Wirtschaftsordnung an: So wie man die Volkswirtschaft durch ein Hindenburgprogramm dem Kriege dienstbar machen konnte, müßte man sie auch dem Glück aller dienstbar manchen können. In einem Referat vor dem Arbeiterrat führte er aus: Eine Wirtschaft sozialisieren heißt, sie einer planmäßigen Verwaltung zu Gunsten der Gesellschaft durch die Gesellschaft zuzuführen. Nebenbeibemerkt: Vor Arbeitern sprach in den 20ern auch der Gefühlssozialist Albert Einstein.

Im Berliner Arbeiterrat wirkte 1919 Felix Weil, ein Student der Wirtschafts- und Sozialwissenschaft aus reichem Hause. In einem Vortrag machte er sich Gedanken über Wesen und Wege der Sozialisierung. 1923 erfolgte auf Initiative des Unternehmersohns die ministerielle Genehmigung für die Errichtung eines Instituts für Sozialforschung an der Universität Frankfurt. Am 22. Juni 1924 fand die Einweihungsfeier statt. Es sollte zu einem Institut für Forschungen über die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung, über Wirtschaftsgeschichte und Geschichte und Kritik der politischen Ökonomie werden. Von Anfang an stellte sich damit die Frage nach der Objektivität sozialwissenschaftlicher Erkenntnis. Ab 1930 versuchte Max Horkheimer (1895-1973) die Krise des Marxismus vermittels der Durchdringung von Sozialphilosophie und empirischen Sozialwissenschaften zu überwinden. Ähnlich wie die Wiener übten auch die Frankfurter Metaphysik-Kritik: Das einst religiös verkleidete Ungenügen an der irdischen Ordnung sollte von den neueren mythologischen Verkleidungen der Rechten freigehalten werden, um zu einer wissenschaftlichen Theorie von der Gesellschaft zu kommen. Im Gegensatz zu den Positivisten, forderte Horkheimer aber nicht nur Tatsachenerkenntnis und Klarheit über das Grundsätzliche. Vielmehr ging es ihm darum, aus der Erfahrung der ganzen Unmenschlichkeit des kapitalistischen Arbeitsprozesses die drängende Notwendigkeit der Änderung zu folgern. Leitwissenschaft wurde den Frankfurtern nicht die Physik, sondern die Soziologie. Neben dem Marxismus ging die Theorie aus Psychoanalyse und Existentialismus hervor.

Max Horkheimer übernahm am 24. Januar 1931 den Lehrstuhl für Sozialphilosophie und die Leitung des Instituts für Sozialforschung. In seiner Antrittsrede betonte er die Hoffnung, daß wirkliche Erkenntnisse im Unterschied zu verklärender Ideologie den Menschen als Mittel dienen könnten, Sinn und Vernunft in die Welt zu bringen. Als Ziel der Sozialphilosophie galt ihm die philosophische Deutung des Schicksals der Menschen, insofern sie nicht bloß Individuen, sondern Glieder einer Gemeinschaft sind.

Etwa ein Vierteljahr nach Horkheimers Arbeitsbeginn in Frankfurt kam Theodor Wiesengrund-Adorno (1903-1969) als Privatdozent nach Frankfurt. Er hatte neben Philosophie auch Musik studiert und ging 1925 nach Wien, um im Schönbergkreis Kompositionsunterricht zu nehmen. Die Ästhetik wurde ihm natürlich wichtigste Disziplin der Philosophie. In der Zwölftontechnik sah er einen wesentlichen Fortschritt im Rationalisierungsprozeß der europäischen Musik sowie im Prozeß der Entmythologisierung der Musik.

In den Jahren 1930 bis `32 kam es als Folge der Weltwirtschaftskrise zu einem dramatischen Anschwellen des Kommunismus und Faschismus. Ihrer Zielsetzung folgend, Philosophie mit Sozialforschung zu verbinden, begannen die Frankfurter mit einem Vorhaben, die tatsächliche Lage der Arbeiter und Angestellten in Erfahrung zu bringen. Vor Abschluß der Erhebung mußten sie allerdings die Flucht ergreifen, da Hilter am 30. Januar 1933 Reichskanzler geworden war. Das Institut wurde nach Genf verlegt. Um empirische Anhaltspunkte für die sozialen Umstände zu erhalten, die Rechtsradikalismus begünstigten, wurden in mehreren europäischen Staaten Erhebungen begonnen. Insbesondere in Studien über Autorität und Familie sollten die Zusammenhänge über Autoritätswandel und Familienunterhalt untersucht werden. Da sich auch in den USA die soziale Lage durch Arbeitslosigkeit und Einwanderung zu verschlechtern begann, ergab sich die Möglichkeit, die Untersuchungen an der Columbia University fortzusetzen. 1934 erfolgte in New York die Gründung des International Institute of Social Research. Im Fortgang der Erhebungen zeigte sich, daß Arbeitslosigkeit die Autorität des Familienoberhaupts untergrabe und die Familienmitglieder verstärkt der Staatsautorität anheim fielen.

In theoretischer Hinsicht begannen Horkheimer und Adorno gegen Ende der 30er Jahre eine Zusammenarbeit an einem Dialektik Projekt. Aus ihm ging die 1947 in Amsterdam veröffentlichte Dialektik der Aufklärung hervor. Eine grundsätzliche Kritik am Positivismus schrieb Horkheimer 1937 unter dem Titel Traditionelle und kritische Theorie. Sie stand unter dem Motto: Dialektik statt Szientismus! Der Logische Empirismus hatte sich in den USA schnell verbreitet. Nach der Übernahme Österreichs ins Deutsche Reich, war auch den Wienern die Emigration nicht erspart geblieben.`` Niels machte eine Pause und schaute in die Runde. ,,Ich denke, wir sind reif fürs Mittagessen. Guten Appetit!``

,,Bürgerinitiativen statt Philosophie! Ein überzogenes Motto, aber es gefällt mir``, begann Pieter auf dem Weg zur Mensa. ,,Schade, daß wir Feyerabend nicht mehr erleben können. Zwischen 1958 und 1990 war er hier als Wissenschaftsphilosoph tätig. Er kam aus Wien und war berüchtigt für seinen Scharfsinn und sein großes Maul. Neben Physik und Philosophie hatte er auch Theater und Gesang studiert. In Deutschland hätte man ihn einen Till Eulenspiegel genannt: Der Narr, der der Weisheit den Spiegel vorhält. So hielt er einmal einen Vortrag mit dem Titel: Die Wissenschaftstheorie - eine bisher unbekannte Form des Irrsinns?``

,,Wieso es übehaupt eine Wissenschaftstheorie geben muß, ist mir auch nicht klar``, erwiderte Sofie. ,,Einstein und Bohr verstanden ihre Physik doch wohl am besten und stritten sich zudem ihr Leben lang über Metaphysik; waren also Wissenschaftler und Philosophen in einem.``

,,Feyerabend redete einem radikalen Relativismus das Wort. So wie in den westlichen Demokratien Kirche und Staat getrennt seien, solle man auch Wissenschaft und Staat auseinanderhalten und allen Erkenntnisformen im freien Spiel der Kräfte gleiche Chancen einräumen.``

,,Also Astronomie und Astrologie, Meteorologie und Regentänze, Medizin und Wunderheiler auf eine Stufe stellen?`` fragte Hilde verblüfft. ,,Das ist doch absurd!``

Am Nachmittag fanden sich die Sommerschüler wieder im Seminarraum zusammen und begannen mit einer Diskussion der dadaistischen Erkenntnistheorie. Die Radikalität und der Witz Feyerabends hatten Sofie sichtlich verwirrt. Jedenfalls waren die meisten Philosophen viel zu ernst ...