Niels begann: ,,Aus Anlaß des 70jährigen Jubiläums seit Erscheinen des ersten Bandes von Marxens Kapital gab das Institut ein Marx-Sonderheft heraus. In seinem Aufsatz Traditionelle und kritische Theorie stellte Horkheimer im Rahmen einer dialektischen Logik die beiden Ansätze einander gegenüber.`` Niels griff zu einem Büchlein. ,,In seinem Nachtrag zu seinem Aufsatz schreibt Horkheimer: Ich habe auf den Unterschied zweier Erkenntnisweisen hingewiesen; die eine wurde im discours de la methode begründet, die andere in der Marx'schen Kritik der politischen Ökonomie. Theorie im traditionellen Sinne, von Descartes begründeten Sinn, wie sie im Betrieb der Fachwissenschaften überall lebendig ist, organisiert Erfahrung auf Grund von Fragestellungen, die sich mit der Reproduktion des Lebens innerhalb der gegenwärtigen Gesellschaft ergeben. Die soziale Genesis der Probleme, die realen Situationen, in denen die Wissenschaft gebraucht, die Zwecke, zu denen sie angewandt wird, gelten ihr selbst als äußerlich. Die Kritische Theorie der Gesellschaft hat dagegen die Menschen als die Produzenten ihrer gesamten historischen Lebensformen zum Gegenstand. Die Verhältnisse der Wirklichkeit, von denen die Wissenschaft ausgeht, erscheinen ihr nicht als Gegebenheiten, die bloß festzustellen und nach den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit vorauszuberechnen wären. Was jeweils gegeben ist, hängt nicht allein von der Natur ab, sondern auch davon, was der Mensch über sie vermag.``

,,So wie die Untersuchungen zur Wärmestrahlung nur im Zusammenhang eines Forschungsprogramms für die Schwerindustrie gesehen werden kann``, erinnerte Sofie.

Und Pieter ergnzte: ,,Oder wie die Ermittlung des Wärmeäquivalents und die Formulierung des Energiesatzes im 19. Jahrhundert nicht von der Entwicklung und dem Einsatz der Dampfmaschine als Motor der industriellen Revolution getrennt werden können.``

,,Hier treffen sich Sozial- und Naturphilosophie``, knüpfte Niels den Faden weiter. ,,Horkheimer schrieb: Die Physik ist auch davon abgekommen, die allgemeineren Züge als verborgene Ursachen oder Kräfte in den konkreten Tatsachen aufzufassen und diese logischen Verhältnisse zu hypostasieren, nur in der Soziologie herrscht darüber noch Unklarheit. Diesen Gedanken werden wir später aufzunehmen haben. Betrachten wir jetzt etwas genauer, wie sich traditionelle und kritische Theorie jeweils charakterisieren lassen:

Traditionelle Theorie

operiert mit Konditionalsätzen, angewandt auf eine gegebene Situation;

bringt ihre Sätze als Hypothesen an neue Sachverhalte heran und trennt damit Wert und Forschung, Wissen und Handeln;

tendiert zur Bildung eines mathematischen Zeichensystems, dessen Sätze über ein Sachgebiet aus möglichst wenigen Axiomen ableitbar sein und mit den Tatsachen zusammenstimmen sollen;

ignoriert den Umstand, daß der Wissenschaftsbetrieb erst diejenigen Sachverhalte für das Wissen fruchtbar macht, die gerade verwertbar sind;

ist aus dem wissenschaftlichen Betrieb des bürgerlichen Zeitalters abstrahiert. Sie gehört zum arbeitsteiligen Produktionsprozeß und ist ein Teil der gesellschaftlichen Praxis;

entsprang nicht allein logischen Erwägungen, sondern steht in einem konkret historischen Zusammenhang;

hat durch isolierende Betrachtung kein Bewußtsein ihrer eigenen Beschränktheit und wird zur Ideologie.

Die kritische Gegenposition zur Tradition beginnt Horkheimer mit existentialistischem Unterton: Es gibt nun ein menschliches Verhalten, das die Gesellschaft selbst zu seinem Gegenstand hat. Dieses Verhalten wird im folgenden als das ,,kritische`` bezeichnet. Das Wort wird hier weniger im Sinn der idealistischen Kritik der reinen Vernunft als in dem der dialektischen Kritik der politischen Ökonomie verstanden. Es bezeichnet eine wesentliche Eigenschaft der dialektischen Theorie der Gesellschaft. Folgende Besonderheiten sind hervorzuheben:

Kritische Theorie

gibt dem blinden Zusammenwirken der Einzeltätigkeiten vernünftige Zielsetzungen;

mißt die als Zufall erscheinende Übereinstimmung zwischen Denken und Sein, Verstand und Sinnlichkeit, Bedürfnissen und ihrer Befriedigung am Verhältnis vernünftiger Absicht und Verwirklichung;

hält das Verhältnis von Subjekt, Theorie und Gegenstand nicht für unveränderlich;

entnimmt der historischen Analyse der menschlichen Aktivität die Idee einer vernünftigen, der Allgemeinheit entsprechenden gesellschaftlichen Organisation, die der Arbeit bereits immanent ist;

wahrt dem Gehalt der Idee einer vernünftigen Gesellschaft die Treue als der Gemeinschaft freier Menschen, wie sie bei den vorhandenen technischen Mitteln möglich ist;

treibt zur Transformation des gesellschaftlichen Ganzen; ihr Sinn besteht nicht in der Reproduktion der gegenwärtigen Gesellschaft, sondern in ihrer Veränderung zum Richtigen.

Ich fasse die Unterschiede noch `mal zusammen: Die traditionelle Theorie nimmt die Gesellschaft, wie sie gerade ist und analysiert lediglich ihr Funktionieren. Politik wird damit zur Sozialtechnologie. Komplementär dazu knüpft die kritische Theorie mit ihrer Dialektik an die Konflikte und den Wandel in der Gesellschaft an und sucht sie zum Besseren zu transformieren. Politik wird so zur Gesellschaftsveränderung.

Als Hausaufgabe solltet ihr euch überlegen, wie ihr als tradioneller oder kritischer Forscher jeweils gesellschaftliche Probleme untersuchen würdet; z.B. die Drogenkriminalität oder die Autogesellschaft.``

,,Wenn wir die Entwicklung von Russell über den frühen Wittgenstein und den Wiener Kreis bis hin zu Feyerabends Relativismus Revue passieren lassen``, begann Pieter, ,,wird der Mangel des Szientismus offenbar. Die Selbstbeschränkung der Philosophie auf Logizismus und Empirismus blendet den Wissenschaftsbetrieb als Teil der Gesellschaft einfach aus. Ihrer Zwecke beraubt, werden die Wissenschaften zum Spielball zweifelhafter politischer Interessen.

Demgegenüber nehmen die Dialektiker den Marx'schen Anspruch auf Veränderung der Gesellschaft zum Richtigen wieder auf. Sie halten eine Gesellschaftstheorie für wissenschaftsfähig, die sich nicht am Ideal der Physik orientiert. Und eine Sozialphilosophie, die nicht auf Sprachphilosophie reduziert wird.``

,,Das ist doch ein ganz wichtiger Punkt``, schaltete Sofie sich ein. ,,Die philosophische Deutung des Schicksals der Menschen, mit dem Bestreben zu verbinden, das Schicksal zum Besseren zu wenden. Ohne Vernunft in die Welt zu bringen, bleiben Wirtschaft und Technik doch ziellos. Wohin bloßes technisches Funktionieren und Profitdenken führen, sehen wir an der nahenden ökologischen Katastrophe.``

,,Mir ist allerdings nicht klar, wie eine dialektische Philosophie im Gegensatz zu einer szientistischen aussehen könnte``, wandte ein Schüler ein. ,,Wie unterscheidet sich eine dialektische Methodik im einzelnen von den wissenschaftlichen Verfahren der Logik, Mathematik und Physik?``

Über Dialektik werden wir in der Dialektik der Aufklärung noch mehr erfahren``, entgegnete Niels. ,,Ich möchte aber zuvor eine Andeutung machen und Adorno zitieren mit dem Satz: Das, was ist, kann nicht wahr sein.``

,,Eine absurde Formulierung``, ereiferte sich der Schüler ... Wie war noch gleich sein Name, fragte sich Sofie ... Franz, Franz aus München, fiel ihr wieder ein. ,,Was ist denn hier mit dem Wort wahr gemeint?``

Denk einmal an den bestürzenden Ausspruch: Das kann doch nicht wahr sein! Diese Redewendung hört man häufig, wenn Menschen unangenehme Nachrichten erfahren oder mit erschreckenden Ereignissen konfrontiert werden. Wer etwas nicht wahr haben will, kann natürlich als Träumer oder Phantast abgetan werden. Nüchtern betrachtet offenbart sich aber in den Aussprüchen eine Vorstellung davon, was nicht wahr sein sollte. Wunsch und Wirklichkeit, Sollen und Sein werden hier konfrontiert. Was Adorno uns mit seiner provozierenden Äußerung sagen wollte, ist, daß wir die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse stets daran zu messen haben, wie sie sein sollten. Die wahre Gesellschaft ist also erst erreicht, wenn Zielvorstellungen und Wirklichkeit einander hinreichend nahe gekommen sind...``

,,Und wer gibt die Ziele vor?`` fragte Franz aufsässig.

,,Im Gegensatz zu Marx sehen die Frankfurter das Heil der Menschen nicht mehr im Kommunismus. Ihnen ging es vielmehr um den beharrlichen Versuch, Vernunft in die Welt zu bringen. Die jeweilige Lage der Menschen ist stets an den objektiven Möglichkeiten zu messen, die technisch wie politisch realisierbar wären.``

,,Die Untersuchung der objektiven Möglichkeiten gesellschaftlicher Entwicklungen``, schaltete Pieter sich ein, ,,ist Sache der empirischen Sozialforschung. Damit wäre der Bezug zur Wissenschaft wieder hergestellt...``

,,Es bleibt aber das Problem, welche Möglichkeiten realisiert werden sollten``, unterbrach Franz.

,,Natürlich die ökologisch verträglichsten``, warf Sofie ein.

,,Auch wenn damit Massenarbeitslosigkeit verbunden sein sollte?``

,,Warum sollten sich Beschäftigungs- und Umweltpolitik nicht in Einklang bringen lassen?`` fragte Hilde vernittelnd.

,,Das scheint mir ein gelungenes Schlußwort zu sein``, nahm Niels den Gedanken auf. Wir haben eben selbst Beispiele dialektischer Rede gegeben. Aus These und Gegenthese Synthesen gebildet, um normative Sozialphilosophie mit empirischer Sozialforschung zu verbinden sowie Wirtschafts- und Umweltpolitik in Einklang zu bringen. Morgen schauen wir zu, was es mit der Dialektik der Aufklärung auf sich hat.``

Am Abend stand der Filmroman auf dem Programm. Danach hatte Sofie sich schnell verabschiedet und war auf ihr Zimmer gegangen. Sie wollte die Stimmung nachwirken lassen. Welch ein Zauber aus Bildern, Klängen und Worten!

Die nächste AG-Sitzung begann Niels mit einer Einleitung über den Fortgang der Institutsarbeit in den USA. Er erläuterte ausführlich einen Satz Adornos: Der Immanenz ist die Transzendenz immanent. Wie geschwollen das klang! Dabei war es nur eine andere Formulierung für das Modell der Ebenen und Krisen. Der Widerspruch zeigt in der Objektsprache die Metasprache, erinnerte Sofie Russell. Im April 1941 siedelte Horkheimer nach Los Angeles über. In New York verblieb nur ein Rumpf-Institut. Unter dem Eindruck des 2. Weltkrieges begann er mit Adorno an dem Dialektik Projekt zu arbeiten. Nach dem Überfall Hitlers auf die Sowjetunion verschob sich ihr Interesse endgültig von der Theorie der ausgebliebenen Revolution auf die Theorie der ausgebliebenen Zivilisation. Es ging ihnen fortan um eine Dialektik von Kultur und Barbarei.

Niels griff zu einem kleinen Buch. ,,In der Vorrede zur Dialektik der Aufklärung heißt es: Was wir uns vorgesetzt hatten, war tatsächlich nicht weniger als die Erkenntnis, warum die Menschheit anstatt in einen wahrhaft menschlichen Zustand einzutreten, in eine neue Art von Barbarei versinkt. Die Autoren hatten Mühe, an eine wissenschaftliche Tradition anzuknüpfen: Bildet die aufmerksame Pflege und Prüfung der wissenschaftlichen Überlieferung, besonders dort, wo sie von positivistischen Reinigern als nutzloser Ballast dem Vergessen überantwortet wird, ein Moment der Erkenntnis, so ist dafür im gegenwärtigen Zusammenbruch bürgerlicher Zivilisation nicht bloß der Sinn von Wissenschaft fraglich geworden. Faschisten und Kommunisten hatten sich durch ihre Gewaltherrschaft längst vom Humanismus verabschiedet. Aber auch in den Demokratien der Alliierten breiteten sich mehr und mehr Antisemitismus und Rassendiskriminierung aus. Wir hegen keinen Zweifel, schrieben Horkheimer, Adorno 1944, daß die Freiheit in der Gesellschaft vom aufklärenden Denken unabtrennbar ist. Und weiter heißt es: Wir glauben, daß die Ursache des Rückfalls von Aufklärung in Mythologie nicht so sehr bei den eigens zum Zwecke des Rückfalls ersonnenen nationalistischen, heidnischen und sonstigen modernen Mythologien zu suchen ist, sondern bei der in Furcht vor der Wahrheit erstarrenden Aufklärung selbst. Im technischen Fortschritt sahen die Dialektiker zugleich eine Naturverfallenheit der Menschen, denn die Steigerung der wirtschaftlichen Produktivität, die einerseits die Bedingungen für eine gerechtere Welt herstellt, verleiht andererseits dem technischen Apparat und den sozialen Gruppen, die über sie verfügen, eine unmäßige Überlegenheit über den Rest der Bevölkerung.

Horkheimer, Adorno untergliederten ihre Arbeit in mehrere philosophische Fragmente:

Die erste Abhandlung, die theoretische Grundlage der folgenden, sucht die Verflechtung von Rationalität und gesellschaftlicher Wirklichkeit, ebenso wie die davon untrennbare von Natur und Naturbeherrschung, dem Verständnis näher zu bringen. Im Zuge der Rationalisierung der Gesellschaft durch Technik wird nicht nur die äußere Natur, sondern auch die innere Natur der Menschen beherrscht. Grob ließe die erste Abhandlung in ihrem kritischen Teil auf zwei Thesen sich bringen: Schon der Mythos ist Aufklärung, und: Aufklärung schlägt in Mythologie zurück. In den beiden Exkursen werden die Thesen an spezifischen Gegenständen durchgeführt. Der Abschnitt Kulturindustrie zeigt die Regression der Aufklärung an der Ideologie, die in Film und Radio ihren maßgeblichen Ausdruck findet. Und die thesenhafte Erörterung der Elemente des Antisemitismus gilt der Rückkehr der aufgeklärten Zivilisation zur Barbarei in der Wirklichkeit.``

,,Den Rückfall in die Barbarei erleben wir noch immer als ständige Bedrohung``, meldete Pieter sich zu Wort. ,,Massaker in Afrika, im Orient, auf dem Balkan, in Nordirland, dem Baskenland, im Tibet gehören doch zur Tagesordnung. Stammesnationalismus, religiöser Fundamentalismus und Rassenhaß allerorten``, empörte er sich.

,,Hinzu kommen die zu Millionen in die Industriestaaten drängenden Asylsuchenden und Armutsflüchtlinge, die den Konflikt um Arbeit und Wohnung in den Gastländern verschärfen``, ergänzte Franz.

,,Und Naturkatastrophen, wie Lawinen und Überschwemmungen, werden mehr und mehr als Folgen menschlicher Natureingriffe erkannt``, gab Sofie zu bedenken. ,,Der schleichend, aber unerbittlich voranschreitende Treibhauseffekt dürfte bereits für zusätzliche Orkane, Dürreperioden und extreme Regenfälle sorgen.``

,,Das sind ja Gründe genug, sich wieder mit der Dialektik der Aufklärung zu beschäftigen``, knüpfte Niels der Faden weiter. ,,Horkheimer, Adorno beginnen ihre Arbeit am Begriff der Aufklärung mit den Worten: Seit je hat Aufklärung im umfassendsten Sinn fortschreitenden Denkens das Ziel verfolgt, von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen. Aber die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils. Das Programm der Aufklärung war die Entzauberung der Welt. Sie wollte die Mythen auflösen und Einbildung durch Wissen stürzen. Bacon, der Vater der experimentellen Philosophie, hat die Motive schon versammelt. Francis Bacon (1561-1626), Lord-Kanzler von England, war einer der ersten, der die Bedeutung der Naturforschung für die Verbesserung des menschlichen Lebens erkannte. Die glückliche Ehe zwischen dem menschlichen Verstand und der Natur der Dinge, die er im Sinne hat, ist patriarchal: der Verstand, der den Aberglauben besiegt, soll über die entzauberte Natur gebieten. Das Wissen, das Macht ist, kennt keine Schranken, weder in der Versklavung der Kreatur noch in der Willfährigkeit gegen die Herren der Welt. Und die Autoren fahren fort: Technik ist das Wesen dieses Wissens. Es zielt nicht auf Begriffe und Bilder, sondern auf Methode, Ausnutzung der Arbeit anderer, Kapital. Die Dialektiker sehen in der Aufklärung nicht nur eine Befreiung von den Zwängen der Natur. Indem der Mensch dem Naturzusammenhang entrissen wird, dem er entstammt, wird er aufs neue beherrscht. Und mit der Entzauberung schwinde auch die Offenbarung. Auf dem Weg zur neuzeitlichen Wissenschaft leisten die Menschen auf Sinn verzicht. Sie ersetzen den Begriff durch die Formel, Ursache durch Regel und Wahrscheinlichkeit. Die der bürgerlichen Gesellschaft erwachsende Aufklärung sei nicht minder totalitär als der der Stammesgesellschaft entspringende Mythos. Die bürgerliche Gesellschaft ist beherrscht vom Äquivalent. Sie macht Ungleichnamiges kompatibel, indem sie es auf abstrakte Größen reduziert. Im Bildungswesen werde bloß theoretisch gerechtfertigt, was im Produktionsprozeß längst praktisch vollzogen werde: Die Verweisung des Denkens aus der Logik ratifiziert im Hörsaal die Versachlichung des Menschen in Fabrik und Büro``

,,Das sind ja starke Worte``, hob Franz an. ,,Aber wer soll das verstehen?`` fragte er provozierend. ,,Mit der Logik verschwindet nicht das Denken. Es kommt vielmehr erst zur Geltung. Und das bürgerliche Äquivalent des Tauschwertes im warenproduzierenden Kapitalismus ist Voraussetzung unseres Wohlstandes! Wollt ihr vielleicht wieder in einer Stammesgesellschaft leben?``

,,Darum geht es doch gar nicht``, meldete Pieter sich zu Wort. ,,Worauf die Dialektiker hinweisen, ist lediglich der Umstand, daß mit dem Ablösen der Mythologie durch die Aufklärung, der Sinn für die vernünftige Gestaltung des Ganzen verloren ging. Ebenso die Eingebundenheit in den Naturzusammenhang. Wir haben auch etwas verloren mit der Aufklärung.``

Auf dem Weg von der Mythologie zur Logistik hat das Denken das Element der Reflexion auf sich verloren, und die Maschinerie verstümmelt die Menschen heute, selbst wenn sie sie ernährt, las Niels vor.

,,Das ist doch Unfug!`` empörte sich Franz. ,,Als ob Russell und Gödel nicht reflektiert hätten! Sie waren es doch gerade, die formalen Logiker selbst, die in ihren Formalismen Widersprüche und Unvollständigkeiten aufdeckten. Die Dialektiker wissen überhaupt nicht wovon sie reden. Schuster, bleib bei deinem Leisten, kann ich da nur sagen.``

,,Wenn wir schon bei Volksweisheiten sind``, entgegnete Sofie. ,,Die Aufklärer haben das Kind mit dem Bade ausgeschüttet.``

,,Haben denn die Wissenschaftler irgendwelche Konsequenzen aus den Untersuchungen Russells und Gödels gezogen?`` fragte Hilde. ,,Machen sie nicht alle weiter wie vorher? So als ob der Rahmen der Logik nicht längst gesprengt worden wäre?``

,,Die Dialektiker sehen darin die mythische Angst vor dem Tabu.`` Niels nahm wieder das Büchlein zur Hand. Aufklärung ist die radikal gewordene mythische Angst. Die reine Immanenz des Positivismus, ihr letztes Produkt, ist nichts anderes als ein gleichsam universales Tabu. Es darf überhaupt nichts draußen sein, weil die bloße Vorstellung des Draußen die eigentliche Quelle der Angst ist.

In Reaktion auf Russell ist die Mengenlehre axiomatisiert worden. Es gibt seitdem aber mehrere Mengenlehren, die nach bloßen Nützlichkeitserwägungen eingesetzt werden. Gesprochen wird über diese Beliebigkeit aber nur ungern. Der Vergleich mit einem Tabu ist natürlich übertrieben, gleichwohl nicht ganz von der Hand zu weisen. Gödel ist in der Tat der Durchbruch ins Draußen gelungen. Und das war eine Folge davon, daß man sich zuvor ins Drinnen verkrochen hatte. Meiner Ansicht nach bestätigen Russell und Gödel in der Logik sowie Einstein und Bohr in der Physik, daß Wissenschaft niemals immanent sein kann. Gegenüber dem Ganzen der Natur und der Gesellschaft bleiben die Formalismen prinzipiell unvollständig. Diese Transzendenz der Immanenz, um mit Adorno zu sprechen, ist aber genau das, was die Dialektiker am Positivismus kritisieren. Wer die geprägten Münzen der Sprache durch Spielmarken der Logik ersetze, bringe sich um die Ausdrucksmittel für die Darstellung eines Weges in eine bessere Gesellschaft. In der Unparteilichkeit der wissenschaftlichen Sprache hat das Ohnmächtige vollends die Kraft verloren, sich Ausdruck zu verschaffen, und bloß das Bestehende findet ihr neutrales Zeichen. Das ist der Grund, weshalb die Dialektiker ihre Untersuchungen in wissenschaftlicher Prosa verfassen, die sich nicht formalisieren läßt.``

,,Dazu fällt mir eine Parallele zu Wittgenstein ein``, begann Hilde langsam. ,,Die Dialektiker suchten das Unaussprechliche gleichsam nach außen hin zu befreien. Wittgenstein dagegen wollte es von innen her begrenzen. Denn sein Anliegen galt ja eigentlich der Ethik und Mystik.``

,,Deshalb hat er sich entschieden vom Positivismus distanziert``, entgegnete Niels und leitete über: ,,Kommen wir abschließend zur Dialektik, wie Horkheimer, Adorno sie in der Aufklärung am Werk sehen. Alles ist, was es ist, indem es zu dem wird, was es nicht ist.``

,,Welch eine erhellende Formulierung``, spöttelte Franz.

,,Gleichwohl solltest Du sie erst `mal sacken lassen, bevor Du Dich darüber lustig machst``, fuhr Niels fort. ,,Ich glaube, jeder kennt das Gefühl, das einem beschleicht, wenn etwas unwiederbringlich verloren gegangen ist. Das Glück der Kindheit versteht man erst als Erwachsener. Die Bedeutung der Schule, wenn man im Berufsleben steht. Den Wert eines guten Freundes, wenn er gestorben ist.`` Niels schaute in die Runde. Auch Franz war nachdenklich geworden. Nach einer Pause spannte er den Bogen zum Thema: ,,Der Animismus hatte die Sache beseelt, der Industrialismus versachlicht die Seelen, schreiben Horkheimer, Adorno. Die Kehrseite einer Entwicklung erkennt man erst, wenn sie vorüber ist. Das von Zivilisation vollends erfaßte Selbst löst sich auf in ein Element jener Unmenschlichkeit, der Zivilisation von Anbeginn zu entrinnen trachtete. Mit der Verdrängung des Mythos wurde die Furcht vor der unerfaßten, drohenden Natur, zum animistischen Aberglauben herabgesetzt und die Beherrschung der Natur drinnen und draußen zum absoluten Lebenszweck gemacht. Erst mit der Vollendung der Aufklärung sehen wir, daß sie in Mythologie umgeschlagen ist und daß die Mythologie schon Aufklärung war.

Heute nachmittag bleibt euch Zeit für die Hausaufgabe. Morgen werden wir mit den Exkursen fortfahren. Nell wird über Odysseus oder Mythos und Aufklärung vortragen. Juliette oder Aufklärung und Moral wird Ulrichs Thema sein.``

Sofie spazierte sinnend über den Campus. Alles ist, was es ist, indem es zu dem wird, was es nicht ist, widerhallte es in ihr. Was man an einem Freund hat, merkt man besonders, wenn er nicht mehr da ist. Das war zweifellos richtig. Sei meinte, dem Verständnis von Dialektik nähergekommen zu sein. Daß ich alle Dinge stillschweigend als Teilchen angesehen habe, merke ich erst, wenn sie als Wellen auftreten, dachte sie in Erinnerung an Bohr. In der Quantentheorie blieben Teilchen- und Wellenbild aufgehoben ... bis auf die Unschärfe. In der kritischen Theorie blieben Mythologie und Aufklärung aufgehoben ... bis auf ...

Sofies Blick fiel auf ein Plakat: Bob Dylan on stage ... Am nächsten Samstag gastierte die Folk-Rock-Legende der 60er hier. Was hatte Chris ihr nicht alles von ihm vorgeschwärmt. Gedankenversunken bemerkte sie nicht, daß Pieter hinzugetreten war.

,,Gehst Du auch ins Dylan Konzert``, fragte er leicht unsicher. Mechanisch drehte sie sich zur Seite und schaute ihn an. Langsam verblaßten ihre Erinnerungen ... ,,Wir könnten zusammen gehen``, hörte sie Pieter vorschlagen. Seine Schüchternheit war rührend. ,,Warum nicht``, erwiderte sie knapp. Sollte sie ihm von Chris erzählen? Ihr fiel etwas besseres ein. ,,Hast Du Dich für Homer oder Sade entschieden?`` fragte sie unvermittelt und sah ihn forschend an. Die Frage verfehlte nicht ihre Wirkung. ,,Äh, nun ... , da ich Homer kenne, Sade aber nicht, wollte ich mich mit Sade beschäftigen.`` Er hatte Mühe, seine Stimme nicht zittern zu lassen. Leichte Röte stieg ihm ins Gesicht. Sofie weidete sich an seiner Unsicherheit. Hier war sie die Stärkere. Verschmitzt lächelte sie ihn an und nahm ihn fröhlich bei der Hand. Warum sollte sie nicht auch `mal ein Spielchen wagen? Der Abend war dem Kino vorbehalten.