,,Nun denn``, begann Salviati. ,,Die Quantentheorie zeigt das atomare Naturgeschehen, wie es an sich ist.``

,,Eine kühne These``, ließ Simplicio sich ironisch vernehmen.``

Ich beginne mit einer Arbeit, die Einstein, Podolsky und Rosen (EPR) 1935 veröffentlichten. Sie fragten sich: Kann man die quantenmechanische Beschreibung der physikalischen Wirklichkeit als vollständig betrachten? Folgende Kurzfassung stellten sie ihrer Arbeit voran: In einer vollständigen Theorie gibt es zu jedem Element der Realität stets ein entsprechendes Element. Eine hinreichende Bedingung für die Realität einer physikalischen Größe ist die Möglichkeit sie vorherzusagen, ohne das System zu stören. In der Quantenmechanik schließt im Falle von zwei physikalischen Größen, die durch nicht-kommutierende Operatoren beschrieben werden, das Wissen von der einen das Wissen von der anderen aus. Damit ist entweder (1) die Beschreibung der Realität, die durch die Wellenfunktion in der Quantenmechanik gegeben wird, nicht vollständig oder (2) diesen beiden Größen kann nicht gleichzeitig Realität zukommen. Die Betrachtung des Problems, Vorhersagen bezüglich eines Systems auf der Grundlage von Messungen zu machen, die an einem anderen System, das zuvor mit dem ersteren in Wechselwirkung stand, ausgeführt wurden, führen zu dem Ergebnis, daß wenn (1) falsch ist, dann auch (2) falsch ist. Man wird so zu dem Schluß geführt, daß die Beschreibung der Realität, wie sie von der Wellenfunktion geleistet wird, nicht vollständig ist.

Für einen Moment trat Ruhe ein. Sagredo blickte in die Runde. ,,Zum besseren Verständnis will ich die Logik des Gedankens noch einmal wiederholen. EPR beginnen mit drei Prämissen: Ihren Kriterien der Vollständigkeit und Realität sowie der Nichtkommutativität der Quantenmechanik. Aus diesen drei Voraussetzungen folgern sie die Alternative: Entweder ist die Quantenmechanik unvollständig oder zwei nichtkommutativen Größen kann nicht zugleich Realität zukommen.

Die Betrachtung eines Gedankenexperiments mit zwei korrelierten Teilchen, das der Lokalitätsbedingung der Relativitätstheorie zu genügen hat, führt EPR zur Hauptthese ihrer Arbeit: D.h. wenn die Quantenmechanik vollständig ist, dann kommt nichtkommutativen Größen Realität zu. Also ist die Quantenmechanik unvollständig.``

Sofie wollte `was sagen; aber Salviati erriet ihre Frage und wandte sich einem Beispiel zu: ,,Betrachten wir ein System, das zum Zeitpunkt tex2html_wrap_inline3246 am Ort q in zwei Teilchen zerfällt. D.h. tex2html_wrap_inline3250 . Weil der Gesamtimpuls des Systems tex2html_wrap_inline3252 bekannt ist und über die Zeit erhalten bleibt, kann durch exakte Messung des Impulses tex2html_wrap_inline3254 zum Zeitpunkt tex2html_wrap_inline3256 auch der Impuls tex2html_wrap_inline3258 exakt bestimmt werden, obwohl er nicht gemessen wurde ... ``

,,Und nicht nur das``, meldete Simplicio sich zu Wort. ,,Durch Messung von tex2html_wrap_inline3254 werde zwar im Einklang mit der Unschärferelation tex2html_wrap_inline3262 , aber nicht tex2html_wrap_inline3264 unscharf. D.h. eine weitere Messung ließe auch die exakte Kenntnis von tex2html_wrap_inline3264 zu, im Widerspruch zur Unbestimmtheitsrelation tex2html_wrap_inline3268 . Um die Unschärferelation aufrecht zu erhalten, Sagredo, müßtest Du eine Korrelation der beiden Teilchen nicht nur zum Anfangszeitpunkt tex2html_wrap_inline3246 , sondern auch zu jedem späteren Zeitpunkt annehmen. Sind die Teilchen aber so weit voneinander entfernt, daß sie sich nur noch mit Überlichtgeschwindigkeit beeinflussen können, ergibt sich für EPR ein Widerspruch zur Lokalitätsforderung.``

,,Moment``, warf Sagredo ein. ,,Ihr setzt offensichtlich unbesehen die Geltung des EPR'schen Realitätskriteriums voraus. Wie aber bereits Bohr 1935 hervorgehoben hatte, weist es eine Zweideutigkeit auf. Denn es besteht ja die Freiheit, tex2html_wrap_inline3254 und tex2html_wrap_inline3264 oder tex2html_wrap_inline3258 und tex2html_wrap_inline3262 zu messen. Die daraus berechneten Werte stehen nicht im Widerspruch zur Kopenhagener Abstraktionsthese, nur beobachtbare Größen in der Theorie zuzulassen.``

,,Ein Paradoxon entsteht also nur unter der Annahme, störungsfreie Messungen an beliebigen Größen vornehmen zu können``, vergewisserte Hilde sich ihres Verständnisses. Und Sofie fügte hinzu: ,,Wenn wir eine objektive Realität als an sich gegeben unterstellen, dann ist es in der Tat paradox, wenn zwei nichtkommutierenden Größen nicht auch zugleich Realität zukommen soll. Die Paradoxie entsteht also aus dem Widerstreit zwischen Einsteins Intuition und Bohrs Komplementarität.``

,,Ihr sagt es``, begann Salviati an Sagredo gewandt. ,,Mit Deiner zweideutig-komplementären Abwiegelei kommst Du bei mir nicht weiter. Auch Schrödinger fühlte sich durch EPR's Arbeit herausgefordert. Allerdings nicht zur Verteidigung der Kopenhagener Deutung. Vielmehr formulierte er ebenfalls 1935 in einer Arbeit: Die gegenwärtige Situation der Quantenmechanik eine Paradoxie, die unter dem Titel Schrödingers Katze in die Literatur einging. Ich zitiere: Man kann auch ganz burleske Fälle konstruieren. Eine Katze wird in eine Stahlkammer gesperrt, zusammen mit folgender Höllenmaschine (die man gegen den direkten Zugriff der Katze sichern muß): in einem Geiger'schen Zählrohr befindet sich eine winzige Menge radioaktiver Substanz, so wenig, daß im Laufe einer Stunde vielleicht eines von den Atomen zerfällt, ebenso wahrscheinlich aber auch keines; geschieht es, so spricht das Zählrohr an und betätigt über ein Relais ein Hämmerchen, das ein Kölbchen mit Blausäure zertrümmert. Hat man dieses ganze System eine Stunde lang sich selbst überlassen, so wird man sich sagen, daß die Katze nocht lebt, wenn inzwischen kein Atom zerfallen ist. Der erste Atomzerfall würde sie vergiftet haben. Die tex2html_wrap_inline3104 -Funktion des ganzen Systems würde das so zum Ausdruck bringen, daß in ihr die lebende und die tote Katze zu gleichen Teilen gemischt oder verschmiert sind.

Das typische an diesen Fällen ist, daß eine ursprünglich auf den Atombereich beschränkte Unbestimmtheit sich in grobsinnliche Unbestimmtheit umsetzt, die sich dann durch direkte Beobachtung entscheiden läßt. Das hindert uns, in so naiver Weise ein ,,verwaschenes Modell`` als Abbild der Wirklichkeit gelten zu lassen. An sich enthielte es nichts Unklares oder Widerspruchsvolles. Es ist ein Unterschied zwischen einer verwackelten oder unscharf eingestellten Photographie und einer Aufnahme von Wolken und Nebelschwaden.

,,Eine Superposition der Zustände tot und lebendig wäre in der Tat paradox``, ließ Hilde sich vernehmen.

,,Aber nur mit Bezug auf eine unterstellte objektive Realität``, erwiderte Sagredo. ,,Nach Ansicht der Kopenhagener handelt es sich bei der Überlagerung von Zuständen lediglich um eine Wahrscheinlichkeits-Verteilung. In diesem Falle z.B.: tex2html_wrap_inline3282 . D.h. natürlich nicht, daß die Katze zu 50% tot und zu 50% lebendig ist. Vielmehr wird die Wahrscheinlichkeit dafür, die Katze (innerhalb einer Stunde) noch am Leben vorzufinden 50% betragen. Ich wiederhole: Solange ich keine Messung mache, indem ich in die Kammer schaue, kommt den beiden Zuständen überhaupt keine Realität zu.``

,,Mich bringt diese Kuriosität der Schrödinger'schen Katze auf eine andere Idee``, begann Sofie sichtlich erregt. ,,Befinden wir uns nicht genaugenommen auch im Lebensalltag stets in einer ähnlichen Situation? Ich meine, wenn ich z.B. an Chris denke; solange ich nichts von ihm höre, kann ich mir doch nicht sicher sein, ob er überhaupt noch lebt. Oder wenn ich an mich denke, so bestehe ich doch auch aus einer Überlagerung von Persöhnlichkeits-Zuständen ... ``

,,Ein faszinierender Gedanke``, fiel Hilde ihr ins Wort. ,,Nicht nur Physik und Gesellschaftstheorie rücken damit zusammen, sondern auch die logischen- und physikalischen Atome.``

,,Und eigentlich müßten wir zudem die Mischterme der Superpositionen mitbedenken``, setzte Sofie ihren Gedanken fort. ,,Das sollten wir unbedingt mit zum Thema der Sommerschule machen.``

,,Auf die Sommerschule``, nahm Salviati das Wort auf und hob das Glas. Klingend stießen sie an. ,,Meiner Ahnung nach hängt alles mit allem zusammen, besteht das Universum aus einer Superposition potentiell unendlich vieler Zustände, die stets ein untrennbares Ganzes bilden.``

,,Ja, ja, Salviati``, bemerkte Sagredo ironisch, ,,Ahnungen und Intuitionen sind aber eher der Religion denn der Wissenschaftstheorie zuzuordnen. Schon Bohr mokierte sich über Einsteins kosmische Religiösität. So hatte Einstein einmal gegenüber der statistischen Interpretation der Quantenmechanik geäußert, Gott würfele nicht. Bohr entgegnete darauf belustigt und ganz Sprachphilosoph, daß er nicht wisse, was Einstein mit dem Wort würfeln in Verbindung mit Gott überhaupt meine.``

,,Dir wird Deine Überheblichkeit noch vergehen``, erwiderte Salviati. ,,Denn ich greife Bohms Vorschlag einer Deutung der Quantentheorie durch ,,verborgene`` Variable auf. In seiner 1952 veröffentlichten Arbeit hebt er insbesondere den Kollaps der Wellenfunktion hervor und stellt eine exakte, rationale und objektive Beschreibung individueller Systeme auf dem Quantenniveau in Aussicht.

Schon de'Broglie entwickelte aus seiner Wellentheorie der Materie die Vorstellung von der realen Existenz sogenannter Führungswellen. Wenn wir an das mit Wasser-Wellen herangespülte Strandgut denken, lassen sich Teilchen in Analogie zum Strandgut als von einer Materiewelle geführt auffassen. In der Theorie Bohms ist die Wellenfunktion so etwas wie ein Quantenfeld, das auf Teilchen eine Quantenkraft auszuüben vermag ... ``

,,So wie ein elektrisches Feld auf Ladungen eine elektrische Kraft ausübt?`` warf Hilde fragend ein.

,,Ganz recht``, fuhr Salviati fort. ,,Bohm postulierte in Analogie zu den Gravitations- und elektromagnetischen Kräften Quantenkräfte, die er als Wirkung verborgener Variabler ansah.``

,,Die Vorstellung von Photonen als Strandgut der Lichtwellen, beginnt mir zu gefallen``, ließ Hilde sich vernehmen.

,,Freu Dich nur nicht zu früh``, relativierte Simplicio die Bohm'sche Theorie. ,,Denn erstmals 1964 formulierte Bell eine experimentell prüfbare Ungleichung zwischen den Wahrscheinlichkeiten korrelierter Zwei-Zustands-Systeme, wie EPR sie lediglich als Gedankenexperiment betrachtet hatten. Mit entgegengesetzt polarisierten Teilchen konnte seither vielfach experimentell bestätigt werden, daß es sich bei der Quantenmechanik um eine nichtlokale Theorie handelt. Nichtlokal ist bereits der interpretations-invariante Kern der Theorie.``

,,Wie konnte man das denn messen?`` wollte Hilde sogleich wissen.

,,Indem man die Winkel der Polarisatoren erst einstellte, nachdem die korrelierten Teilchen bereits in entgegengesetzter Richtung davongeflogen und so weit von einander entfernt waren, daß sie nicht mehr mit Lichtgeschwindigkeit in Kontakt treten konnten. Wie immer man die Polarisatoren ausrichtete, die Messung des einen Teilchens legte stets auch die Polarisation des anderen fest, obwohl sie nicht mehr in Kontakt treten konnten. Im Rechner gibt es eine kleine Animation, die sehr schön die Situation veranschaulicht.``

Die Alten und die Mädels gruppierten sich um den Bildschirm. ,,Aber, das ist ja Zauberei!`` ereiferte sich Hilde. ,,Wie kann denn das eine Teilchen vom Zustand des anderen beeinflußt werden?``

,,Weil es sich um den überlagerten Zustand einer Superposition derselben Ursache handelt``, mutmaßte Sofie. Bedächtig fuhr sie fort. ,,Die Natur ist halt nicht teilbar. Sie bildet stets ein Ganzes, indem alles seit dem Urblitz korreliert ist. Wie heißt es so schön bei Goethe: Die Natur ist weder Kern noch Schale. Alles ist mit einem Male.``

,,Nun Salviati``, wie willst Du Deine Objektivitätsthese noch aufrecht erhalten``, ging Simplicio seinen Freund an.

,,Indem ich die Flucht nach vorn antrete und allen Teilzuständen einer Superposition zugleich objektive Realität zuspreche ... ``

,,Ich ahne die Mutmaßung der unendlich vielen Welten``, warf Sofie ein.

,,So ist es. Ich nehme eine Wellenfunktion des gesamten Universums an. Und allen ihren potentiell unendlich vielen Zustands-Entwicklungen kommt zugleich Realität zu!``

,,Aber das ich doch absurd``, empörte sich Sagredo. ,,Nach Ockham sind wir gehalten, die Zahl der Existenzannahmen in Grenzen zu halten. Deine ontologische These ist zudem hinfällig, weil niemand die zahlreichen Parallelwelten in Erfahrung zu bringen vermag.``

,,Du hast es noch nicht richtig erfaßt, lieber Freund``, entgegnete Salviati ruhig. ,,Es handelt sich nicht um parallele Welten, sondern um verzweigende Welten. Mit jeder Messung oder Entscheidung wird aus der jeweiligen Zustands-Entwicklung ein Zweig beschritten, eine Welt erwählt, die allerdings orthogonal, also bildlich gesprochen senkrecht, zu den anderen Welten steht.``

,,Unsere Welt als spezieller Weg im Geäst eines unendlichen Baumes von Möglichkeiten?`` fragte Hilde ungläubig.

,,Für uns sind es Möglichkeiten``, erläuterte Salviati, ,,im ganzen betrachtet, verzweigt sich der Kosmos aus dem Urblitz in eine Vielzahl von Wirklichkeiten!``

,,Dann kollabiert die Wellenfunktion gar nicht? Vielmehr entwickelt sich die Gesamt-Wellenfunktion des Universums streng deterministisch und kausal? Und auch das Meßproblem gibt es nicht, da ja alles Bestandteil des Kosmos ist. Eine Trennung von Subjekt und Objekt entfällt?`` fragte Sofie verwundert. ,,Ist denn eine solche Supertheorie überhaupt selbstkonsistent formulierbar? Wenn ich an Gödel denke, kann sie jedenfalls nicht vollständig sein, wenn sie widerspruchsfrei sein soll. Und wie wir von Bell wissen, ist sie zudem nichtlokal.``

,,Man kann nicht alles haben``, begann Salviati, nachdem sie wieder am gedeckten Tisch Platz genommen hatten. ,,Aber die Viele-Welten-Interpretation löst nicht nur die EPR- und Schrödinger'schen Paradoxa, sondern auch das sogenannte Problem der verzögerten Auswahl. Dieses unter der Bezeichnung Wigners Freund diskutierte Paradoxon besagt folgendes: Angenommen der Physiker Wigner nimmt nicht für sich, sondern für einen anderweitig beschäftigten Freund eine Messung an einem Quantensystem vor. Wie wir von Heisenberg wissen, besteht der Meßvorgang aus zwei Schritten: der Zustandsreduktion und der Auswahl eines Meßwertes. Nehme ich die Messung nun nicht für mich, sondern für einen Freund vor, drängt sich offensichtlich die Frage auf, ob die Reduktion nicht erst dann einträte, wenn ich meine Auswahl dem Freund mitteilte. Wenn wir an den Zustand der Schrödinger'schen Katze denken, müßte sich auch Wigners Freund bis zur Mitteilung des Meßergebnisses in einer Zustandsüberlagerung hinsichtlich seiner Erwartung befinden. Wenn ich den Gedanken weiter führe, heißt das also, daß sich die Zustandsüberlagerung solange aufrecht erhielte, bis endlich allen Beobachtern im Universum das Ergebnis mitgeteilt worden wäre ... ``

,,Sofern die Kenntnisnahme des Meßwertes rückwirkungsfrei sein sollte``, warf Simplicio ein.

,,Die Materie strukturiert sich. Die Struktur materialisiert sich nicht``, betonte Salviati und fuhr fort. ,,Kommen wir zur Nichtlokalität der Quantenmechanik. Auch sie verliert ihre Magie unter der Annahme, daß der Kosmos insgesamt in allen seinen Zuständen korreliert bzw. verschränkt ist, wie Schrödinger es nannte. Dabei widerspricht die Nichtlokalität keinesfalls der Lokalitätsforderung im Rahmen der Relativitätstheorie. Denn mit Lokalität ist in der Quantenmechanik lediglich eine Trennbarkeit oder Separabilität zur isolierten Betrachtung von System-Zuständen gemeint.

Anders als mit Bezug zum Universum war auch die Trägheit nicht verständlich. Quantenmechanisch erscheint sie nunmehr in neuem Licht. Könnte es sich doch um eine Verschränkung aller Massen handeln. Die Annahme der simultanen Existenz verzweigter Welten beinhaltet zumindest physikalische Vollständigkeit und Realität im Sinne EPR's. Zudem vollzieht sich die Selbstentwicklung des Kosmos an sich streng deterministisch und kausal. Mit der Präparation der Schrödinger'schen Katze z.B. verzweigt sich ihr Zustand in zwei weitere Unterzustände. Ihrem Leben in der Gefahr einerseits und ihrem Tod durch Vergiftung andererseits.``

,,Bei Zwei-Zustands-Systemen ist die Sache noch überschaubar``, bemerkte Hilde verwundert, ,,aber alle möglichen Zustands-Entwicklungen des gesamten Universums als real anzunehmen, ist schon kurios. Andererseits müßte die Anzahl der mutmaßten Welten gleichwohl endlich bleiben bzw. lediglich der Möglichkeit nach unendlich werden können.`` Sie dachte eine Weile angestrengt nach bis sie fortfuhr. ,,Wie können wir uns denn die vielen Welten miteinander verbunden denken? Wären wir zu Zeitreisen befähigt, könnten wir womöglich die zurückliegenden Verzweigungsstellen in die anderen Welten passieren. Aber könnten wir uns auch erneut entscheiden, um in eine andere Welt zu gelangen?``

,,Schreib darüber doch mal einen Science Fiction Roman``, warf Sofie heiter ein. Die Nachwirkung ihres Gedankens beunruhigte sie allerdings. Sie dachte eine Weile nach. Verstört blickte sie umher. Es sprudelte geradezu aus ihr heraus. ,,Die metaphysische Last der Myriaden real existierender Welten ist schier erdrückend. Jeder Quantensprung erschafft eine weitere Welt. Springend bringen die Quanten ihre Welten hervor ... Indem wir Entscheidungen treffen, erzeugen wir unsere Weltlinie ... Es kommt immer eine Zeit, in der man sich entscheiden muß, d.h. ein Mensch werden! So sahen das die Existentialisten ... Gemessen an der Vielzahl existierender genetischer Varianten aller Lebewesen, könnten erdachte und reale Welten korrespondieren ... ``

,,Ein interessanter Gedanke``, knüpfte Sagredo ihn fort. ,,Das wirft ein neues Licht auf unser Existenzproblem. Insofern wir drei Akademiker Geschöpfte Galileis sind und ihr beiden der Feder eines philosophierenden Schriftstellers entstammt ... ``

,,Es könnten uns uns real existierende Gen-Kombinationen korrespondieren, sofern die Autoren nicht den rationalen Rahmen sprengen``, drängte es Hilde zu sagen. ,,Denn nicht alles, was denkbar ist, ist möglich und damit im Rahmen der Viele-Welten-Interpretation auch wirklich.``

Verwundert schauten sich alle an. Wie verzaubert griffen sie zu den Gläsern und prosteten sich zu. Nur Sagredo blieb skeptisch. ,,Deine materialistische Interpretation durch die Annahme einer objektiven Existenz potentiell unendlich vieler Welten, Salviati, steht der idealistischen Subjektivitätsthese in ihrer Vagheit und metaphysischen Last, wie Sofie es so schön ausdrückte, kaum nach.``

,,Dem Vorwurf der Vagheit, Sagredo, setze ich mich gerade nicht aus``, ereiferte sich Simplicio. ,,Auch mir erscheint die Annahme der realen Existenz aller Teilzustände der sich endlos verzweigenden kosmischen Wellenfunktion gelinde gesagt bizarr. Viel besser verhält es sich allerdings auch nicht mit dem magischen Kollaps der Wellenfunktion.`` Somplicio machte eine bedeutungsschwere Pause. Alle blickten ihn erwartungsvoll an. ,,Betrachten wir doch einfach die Einstein'sche These, nach der die Theorie entscheide, was beobachtbar sei, in einem anderen Kontext. Bereits mit dem theoriegeleiteten Bau des Meßgerätes werden die Bedingungen gesetzt, unter denen die Wellenfunktion des System-Zustandes in ein Gemenge zerfällt, wenn Quantensystem und Meßgerät in Wechselwirkung treten. Das Meßgerät zwingt dem System sozusagen seine Struktur, seinen Bauplan auf, ganz so wie es die Theorie vorschreibt. Umgekehrt versetzt das System das Meßgerät in einen Zustand, dem genau ein Wert des Gemenges entspricht.``

,,Die Störung des Systems durch das Meßgerät führt zum Kollaps der Wellenfunktion``, ergänzte Sagredo und wunderte sich. ,,So sehen das auch die Kopenhagener.``

,,Aber was sagen die Kopenhagener zu Wigners Freund?`` fragte Simplicio provozierend. ,,Mit der verzögerten Auswahl bleibt auch die ursprüngliche Zustands-Überlagerung weiter bestehen. Aber nicht real, Salviati, sondern bloß in Gedanken. Die Wellenfunktion kollabiert für Wigners Freund erst dann, wenn ihm das Ergebnis mitgeteilt wird. Denn aufgrund seiner Kenntnis der Theorie befindet er sich in einer Zustands-Überlagerung der Erwartung; ganz so wie durch den quantenmechanischen Erwartungswert beschrieben.``

,,Damit ersetzt Du den magischen Kollaps der Wellenfunktion lediglich durch einen subjektiven Bewußtseinsakt``, zweifelte Salviati.

,,Ganz recht``, bestätigte Simplicio. ,,Subjekt und Objekt sind halt wechselseitig aufeinander bezogen. Ich komme zur Formulierung der Subjektivitätsthese: Die Quantentheorie bezieht sich auf das atomare Naturgeschehen, wie es sich in der Wahrnehmung bewußter Subjekte zeigt.``

Esse est percipi murmelte Sagredeo.

,,Ja, Sein heißt wahrgenommen sein``, stimmte Simplicio zu.

,,Dann gibt es für Sie überhaupt keine objektive Realität?`` wunderte sich Hilde.

,,Aber eine subjektive``, ergänzte Sofie. ,,Jede lebt in ihrer Welt.``

,,Das ist doch ein Widerspruch in sich``, empörte sich Hilde. ,,Es gibt zwar mindestens soviele subjektive Welten wie Menschen, aber nur eine Realität. Die kann zugegebener Maßen unscharf sein, ist aber dennoch objektiv. Zumindest im Sinne intersubjektiv teilbarer Meßergebnisse.``

,,Wie Du selbst so gerne hervorhebst``, ließ Sofie nicht locker, ,,verschwimmen die Konturen unterhalb des Wirkungsquantums. Hier wäre eine Rückwirkung der Denkvorgänge auf den Verlauf der Wellenfunktion möglich. Handelt es sich doch bei der Wellenfunktion nach Ansicht der Kopenhagener lediglich um eine Wahrscheinlichkeitsverteilung, um unsere Kenntnismöglichkeiten des Systems ... Ja, warum sollte die Führungswelle Bohms nicht unserem Hirn entspringen können ... ``

,,Quantentheorie und Hirnphysiologie``, nahm Hilde den Gedanken auf. ,,Die subjektive Welt als Strandgut, das die Hirnwellen aus der Natur in unser Bewußtsein spülen ... ``

Verwundert blickten die beiden umher. ,,Mir haben meine Hirnwellen die Akademiker aus dem Sinn getragen``, merkte Sofie heiter an. Sie waren allein. Eine Weile verharrten sie sinnend am Tisch. Räkelten sich, nahmen von den Trauben und knabberten am Käse. Die tief in den Raum fallende Abendsonne funkelte im Rotwein. Verschmitzt schauten sich die beiden an und hoben erneut die Gläser. ,,Auf das Strandgut!`` entfuhr es Sofie mit verklärtem Blick. Ein kühler Hauch strich durch die Verandatür herein. Die Mädchen erschauerten und sahen sich leicht verängstigt an. Sie hatten den Eindruck, als entgrenzte sich ihr Bewußtsein, dehnte sich aus über den See, den Wald, die Stadt. Wie ein Flug mit Engeln, dachte Sofie. Hilde war es, als hörte sie Stimmengewirr. Sanft senkten sie sich nieder. Dunst und schwüles Licht umfing sie. Durch die Geräuschkulisse erklangen klar und hell die Wellen einer Chopin-Etüde. Benommen und verwirrt schauten sie umher.

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Ingo Tessmann
Sun Sep 1 19:32:27 MESZ 1996