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Traditionelle und Kritische Theorie

Hilde fühlte sich sanft angestoßen. Sie blinzelte ins helle Blau eines Sommertages. ,,Schau `mal hinaus``, hörte sie Anjas Stimme. ,,Wir nähern uns dem Golden Gate.`` In einer langen Linkskurve schwenkte die Maschine über die Pazifikküste hinaus. Hilde rückte dicht ans Fenster. Vor ihr überspannte in der hochstehenden kalifornischen Mittagssonne die braunrot leuchtende Golden Gate Bridge den Eingang der Bucht. ,,Faszinierend!``

Am Flughafen warteten Sofie, Chris und Niels. Hilde traute ihren Augen nicht. Voll Freude lagen sie sich in den Armen. Kurz darauf saßen sie in einem Minibus der UCB beisammen. Gemächlich rollten sie über die Bay Bridge und genossen das Panorama der Bucht. Auf dem weitläufig angelegten Parkgelände des Campus hielten sie vor dem Wohnheim der Sommerschule. Das Gebäude erinnerte Hilde an die Akademie des Phytagoras. ,,Diese klassizistische Villa steht allein den Sommerschülern zur Verfügung``, unterbrach Chris Hilde in ihrem Rückblick. ,,Wie schön es hier ist!`` freute sie sich und lief entzückt ums Haus. Kurz darauf standen sie im Obergeschoß auf der Terrasse des Gemeinschaftsraumes. Nach Westen hin glitt ihr Blick über den Park, die Bucht, die Stadt ... bis hin zum Goldenen Tor. Sie konnte sich gar nicht satt sehen.

,,Hi, I'm Nell, Chris' young sister.`` Hilde wandte sich zur Seite. Neben ihr stand eine junge Frau mit langen braunen Haaren, die wellig über ein enges T-Shirt fielen. Ihre großen, tiefbraunen Augen schauten sie offen an. ,,Chris told me something about you. So, I guess, you're Hilde, Sofies girl friend, aren't you?``

,,That's right``, bestätigte Hilde und fragte: ,,Are you also in the summer school?``

,,With some other's of my Deutsch class. I wanna study Einstein and Horkheimer in their original language``, antwortete Nell und fuhr fort: ,,Hast Du schon `mal über den Zusammenhang von Moderner Physik und Kritischer Theorie nachgedacht?``

Hilde wollte `was sagen, wurde aber abgelenkt. ,,Hi, I'm Ben, the dogsbody here ... `` An Hildes Seite stand ein bronzebrauner, durchtrainierter junger Mann mit blauen Augen, kurzen Haaren und ... breitem Grinsen.

,,Qh, what a stupid guy``, dachte Hilde und fragte nach: ,,What are you doing here?``

,,I'm the dogsbody``, wiederholte der Recke lautstärker, ,,the ... the maid-of-all-work ... ``

,,Ah, I see, das Mädchen für alles. That's fine. I'm Hilde from Sophie's World. If I have trouble, I will looking for you.``

,,And I will make you happy``, erwiderte er süffisant und wandte sich Sofie zu, auf die Hilde gezeigt hatte.

,,Dogsbody``, wiederholte Hilde langsam. ,,Wie passend für diesen Aufschneider!`` Nell blickte sie vielsagend an und verdrehte die Augen. ,,Ben ist nur zur Aushilfe hier, mehr für's Grobe.``

,,Manch' zarte Geistesblüte wird ihm schon verfallen sein``, schaltete Anja sich schmunzelnd ein.

,,Anyway, I asked Hilde for the relation between modern physics and the critical theory``, knüpfte Nell wieder an.

,,I never dealt with physics``, entgegnete Anja, ,,but with the theory of modern music by Adorno.``

,,And I heard something about the theory of relativity by Einstein and the algebra of atoms by Bohr and Heisenberg``, erläuterte Hilde.

,,Dann könnt ihr euch ja ergänzen``, sagte Nell lächelnd. ,,Die Professoren wird das freuen. Interdisziplinarität ist ihr Steckenpferd.``

Am nächsten Vormittag sollten sich die Sommerschüler zur Vorbesprechung und Gruppeneinteilung auf dem Campus zusammenfinden. Nachmittags galt es, das Universitätsgelände zu erkunden. Am Abend stand ein Konzert mit dem KRONOS-Quartett auf dem Programm.

Sofie hielt es nicht lange beim Frühstück. Erwartungsvoll trat sie vors Haus. In buntem Durcheinander bevölkerten Studierende den Campus. In Arbeitsgruppen zusammensitzend, diskutierend, spielend. Vereinzelt hatten es sich auch Leseratten mit ihrer Lektüre bequem gemacht. Auf einem Hügel übte eine Tanzgruppe. Zu zarten Flötenklängen wiegten sie sich in meditativer Bewegung, gleich den Baumwipfeln im schwachen Wind. Einen Moment hielt Sofie inne. Dann lief sie von plötzlichem Impuls getrieben auf eine Anhöhe, die große Laubbäume beschatteten. Sie lehnte sich an einen Stamm und schaute über die noch im Dunst liegende Bucht. Wie von Zauberhand verflüchtete sich kaum merklich der Schleier. Durch das Blätterdach griffen die Lichtfinger nach ihr. Sofie blinzelte hinauf und legte sich ins Gras. Bedächtig ließ sie sich zurücksinken und schloß die Augen.

Wie schön doch die Welt war! Sie dachte an die zurückliegenden Unternehmungen mit Chris. San Francisco und die Bucht waren eine tolle Gegend. Und jetzt die Sommerschule. Wenn sie doch endlich anfinge! Endlich war auch sie im Begriff, sich eine zweite Heimat zu schaffen. In die erste werden wir hineingeboren. Die zweite steht uns frei. Wie oft hatte Chris nicht davon gesprochen. Demnächst würde hier auch der Filmroman gezeigt. Sie fühlte sich den Beats und Exis verbunden. Besorgt fiel ihr allerdings wieder Satres Statement zur Liebe ein, das Chris so gerne zitierte: Lieben heißt, eine Freiheit besitzen wollen, ist also eine nutzlose, da widersprüchliche Leidenschaft.

... How I wish, how I wish you were here.
We're just two lost souls
Swimming in a fish bowl, year after year,
Running over the same old ground.
What have you found? The same old fears.
Wish you were here ...


Gesang und Gitarrenklänge wehten zu ihr herüber. ,,Wie schön, wenn Musik noch handgemacht wird``, dachte sie. ,,Techno ist nur noch programmierte Technik ... Ist die Dominanz der Technik vielleicht der Grund für den sozialen Zerfall vielerorten ... ?``

,,Hi Baby``, hörte sie die Stimme Chris'. Gefällig ließ er sich neben ihr nieder. ,,Warum machst Du denn so'n besorgtes Gesicht? Es ist doch schön hier. Geht's Dir nicht gut?``

,,Hier ist es großartig!`` rief sie aus. ,,Ich hatte nur an die sozialen Probleme anderswo gedacht ... An die Sinnleere durch Technik.``

,,Vielleicht bilden wir ja die Keimzelle einer neuen Jugendbewegung ... ``, suchte er sie zu beschwichtigen. ,,Komm``, darüber können wir in der Gruppe weiter reden.`` Er sprang auf, zog sie hoch und beschwingt liefen die beiden den Abhang hinunter.

Auf einem von Baumkronen beschützten Grasplatz hatten sich etwa 30 Sommerschüler zusammengefunden. Die Tutoren begannen mit der Vorstellung und Einführung in die Themen der Arbeitsgruppen.

,,Hi, I'm Gabriele from the Critical Theory Institute (CTI) at the University of California, Irvine (UCI). My research project deals with the forces of globalization. During our planning we have analyzed the forces of globalization in four dominant networks. These networks are: Corporate, Cultural, Technological, Environmental. With the term global forces we intend to apply three different methodological criteria to each of our four transnational networks. We shall ask to what extent each of these global networks contributes to: decentering or recentering of the customary modes of scientific knowledge; new hierarchies and process of hierarchization, such as class, gender, race, and such formulations as ``first'', ``second'', and ``third world''; diasporac, nationalism, local, and regionalism as metaphors for new social organizations.``

,,Ich bin Gabi und arbeite am Institut für neue Medien in Frankfurt. Mich interessiert die Evolution einer hypermedialen Norm der Sprache. Meiner Ansicht nach evolviert die Norm der Sprache von einer gesprochenen, über eine geschriebene, aktuell zu einer hypermedialen. Nach Verbreitung des Alphabets und der Erfindung des Buchdrucks stehen wir am Beginn einer neuen hypermedialen Wissensordnung.``

,,Ich heiße Niels und komme aus Hamburg. Dort studiere ich Physik und Philosophie. Mich beschäftigt kritisches Denken sowohl in der Natur-, wie in der Sozialforschung. Die kritische Theorie der Frankfurter Schule Horkheimers und der Komplementaritätsgedanke der Kopenhagener Schule Bohrs scheinen mir gleichen Idealen verhaftet.``

,,Chris, ich vermisse zur Jahrtausendwende die Aufbruchstimmung einer Jugendbewegung. Wo sind die Künstler aus dem Schwarzen Ferkel, die Morgenlandfahrer, die Beats, Exis, Hippies? Welchem globalen Netzwerk erwächst die nächste Protestbewegung, und zwar jenseits von Rasse, Klasse, Geschlecht oder Religion? Wer formiert die Gesellschaft der Zukunft? Wer es noch nicht weiß: Ich entstamme einer Morgenland..., äh, Motorradfahrt nach Kalifornien. In Berkeley und Berlin studierte ich Physik und Geschichte. Ich arbeite bei Gabriele am CTI.``

,,Hallo, ich bin Anja und betreibe in Berlin eine philosophische Praxis für Lebensfragen. Studiert habe ich Philosophie und Musik. Mich beschäftigt die mit der Frankfurter Schule begonnene Zivilisationskritik. Ist das mit der Neuzeit aufkommende und durch die Aufklärung auf den Weg gebrachte Projekt der Moderne gescheitert? Stehen wir in einer Umbruchphase zur Postmoderne? Oder droht uns gar erneut die Barbarei?``

Für einen Moment trat Ruhe ein. Folkmusik durchwehte das Blätterrascheln.

... Come writers and critics
Who prophesize with your pen
And keep your eyes wide
The chance won't come again
And don't speak too soon
For the wheel's still in spin
And there's no tellin' who
That it's namin'.
For the loser now
Will be later to win
For the times they are a-changin' ...


Zögernd erhob Nell das Wort: ,,Bob's Poesie war wesenltlicher Bestandteil der Aufbruchstimmung in den 60ern. Darüber wird Chris mehr sagen können. Ich habe mich zur Moderation dieser Sommerschule gemeldet. Ich studiere hier deutsche und englische Sprache und Kultur. Zunächst will ich Euch dabei helfen, eine Arbeitsgruppe zu wählen. Neben den Übersichtsvorträgen, Büchern und Ressourcen des Internets, werden in den Arbeitsgruppen folgende Themen behandelt:

Morgen wird Phaidros uns in einem ersten Übersichtsvortrag seine Gedanken zur Situation der Zeit vorstellen. Diejenigen, die sich heute noch nicht für eine Arbeitsgruppe entscheiden mögen, werden danach noch Gelegenheit zur Wahl haben ... ``

Sofie und Hilde lächelten sich erfreut zu. Sie hatten natürlich keine Probleme, sich einer Gruppe zuzuordnen.

,,... Phaidros arbeitet am CTI im Kultur-Netzwerk über den Zusammenhang von Ethik und Evolution.``

... When you look into a childs face
And you are seeing the human race ...


Die Sommerschüler schlenderten an dem Musiker vorbei. In Halbkreisen hatten sich Zuhörer und Mitwirkende um ihn geschart. Sofie und Chris schauten sich vielsagend an - und setzten sich hinzu. Musizieren gehörte schließlich auch zum Campusleben. Zu dem Gitarristen hatten sich ein Trommler und eine Flötistin gesellt. Melodie und Rhythmus verbanden sich zu betörendem Wohlklang ...

... Whatever colors you have in your mind
I'll show them to you and you'll see them shine ...


Der Sänger schaute Sofie geradewegs an. Seine dunklen Augen öffneten einen tiefen Brunnen, in den es sie hineinzog. Verträumt sank sie in Chris' Arme.

... People carry roses,
Make promises by the hours,
My love she laughs like the flowers,
Valentines can't buy her ...


Sofie entstieg der Unterwelt mit Geheul. Nach den letzten Klängen hielt sich noch für kurze Zeit eine intensive Stille. Die Musiker des KRONOS-Quartetts standen auf und verneigten sich vor dem aufbrausenden Applaus.

Gedankenversunken, noch ganz gefangen vom Nachklang der Poesie, schlenderten die Sommerschüler im hellen Mondlicht über den Campus. ,,Welch ein Kontrast zum Ginsberg'schen Moloch``, dachte Sofie. Ihre Gedanken wurden unterstrichen durch den Zauber einer Tanzgruppe im Gegenlicht Frau Lunas. Die Tänzer fächerten lange Tülltücher hinter sich auf und entwickelten ein faszinierendes Schattenspiel.

Am nächsten Vormittag fanden sich die Sommerschüler im Gemeinschaftsraum ihrer Akademie zusammen. Phaidros trug mit Bedacht und klarer Stimme seine Gedanken über Ethik und Evolution vor. Sofie folgte seinen Ausführungen nur mit geteilter Aufmerksamkeit. Wiederholt schweiften ihre Gedanken ab. Phaidros ging es um eine Metaphysik der Werte. Im Gegensatz zu den metaphysischen Grundbegriffen Substanz und Attribut, Subjekt und Objekt, Ursache und Wirkung, sah er im fortschreitenden Wertewandel die Grundlage des Philosophierens. Dynamische Wertemuster auf den Stufen der evolutionären Entwicklungsleiter brachten die Menschheit voran. Der inorganischen Ebene erwuchs die biologische, aus dieser ging die soziale hervor und gegenwärtig befänden wir uns auf der Entwicklungsstufe der intellektuellen Ebene. Diese Argumentation folgte dem Modell der Ebenen und Krisen, von dem Hilde so gerne sprach, erinnerte Sofie.

... New York ist die Stadt des Wandels, der dynamischen Qualität. Der Gigant der City ist von höherem evolutionären Neveau als die Menschen in den Straßen ...

Die höhere Entwicklungsstufe ist die bessere, weil rational ausdifferenziertere. Das war seine These, die er am Beispiel seines Streifens durch New York erläuterte. ,,Aber was passierte, wenn der Gigant nicht fortschritt, sondern zurückfiel auf der evolutionären Stufenleiter?`` Das Geheul des Molochs hallte in ihr wider ...

Einige Sommerschüler hatten sich in der Cafeteria unter einem Sonnenschirm zusammengefunden. Mit unseren beiden Paaren saßen Anja und Nell sowie Craig am Tisch. Craig studierte Computer Science an der Columbia University in New York. Dichtes Haar und ein voller Bart umrahmten sein gebräuntes Gesicht. Hinter kleinen, runden Sonnengläsern verbarg er tiefblaue Augen. Er hatte sich für die Wissensordnungen entschieden. Lang ausgestreckt saß er da. Den Blick aufwärts gerichtet, hob er an: ,,Phaedrus ... , what a bizarr guy! Metaphysics! That's stuff from the ancient, not for the century of technology. Logic is the basis, not the dynamic quality of values ... ``

,,Die Logik als Basis der Entwicklungsgeschichte ist bereits der Kritik Wittgensteins und Gödels anheim gefallen``, entgegnete Sofie leicht verwundert.

Und Hilde fuhr fort: ,,Es gibt sogar nichtberechenbare Funktionen! Gleichwohl sind nicht Werte, sondern Normen primär ... ``

,,Alles wechselwirkt!`` fiel Niels ihr ins Wort. ,,Ich sehe eine Analogie zwischen der Ausdifferenzierung von Kraft- und Bauteilchen in der Natur einerseits sowie Normen und Werten in der Gesellschaft andererseits.``

,,Yeah, that's the point. But where do the particles come from? They emerge from the logical structure of energy.``

,,Das sehe ich anders.`` Anja schaute Craig listig an. ,,Weder Logik noch Ethik ist ursprünglich, sondern Ästhetik!`` Nach einer bedeutungsvollen Pause setzte sie betont hinzu: ,,Kunst ist Wahrnehmung durch Gestaltung!``

,,Mit dieser These des Naturphilosophen Carl Friedrich von Weizsäcker müssen wir schließen. In zehn Minuten beginnt die erste Einführung in die Gruppenarbeit``, gab Chris zu bedenken.

,,Schade, aber da ich mit der Postmoderne den Anfang mache, sollten wir aufbrechen.`` Gemeinsam machten sie sich auf den Weg.

,,Drei Großereignisse bilden die Epochenschwelle zwischen Mittelalter und Neuzeit: Die Entdeckung Amerikas sowie Renaissance und Reformation. Im Zuge der Entdeckungsreisen erblühte der Handel und schuf den Reichtum für die Industrialisierung. Das durch Geld und Wissen an die Macht gelangte Bürgertum wurde zum Wegbereiter des Kapitalismus. Die Künstler-Ingenieure der Renaissance schufen durch die Verbindung von Philosophie und Arbeitserfahrung eine neue Wissenschaft. Diese experimentelle Philosophie der Ingenieure und Naturforscher ist der Motor des technischen Fortschritts.

Mit der Reformation spaltete sich das Christentum. Verschwendung und Prunksucht der Päpste und Monarchen wichen der individuellen Heilserwartung genügsamer Protestanten. Wirtschaftliche Betriebsführung, experimentelle Philosophie und protestantische Ethik rationalisierten fortan die Lebensverhältnisse in Europa und Nordamerika. Mit dem Autoritätsverlust der Kirche verblaßte die Aura der Kunst und die Verbindlichkeit der Moral. Was blieb, war der Mut des Aufklärers, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen. Die Selbstbegründung der Vernunft aus dem autonom gedachten bürgerlichen Bewußtsein ist bis heute das Problem der Moderne geblieben.

Vier Modernisierungsprozesse prägen den Verlauf der Moderne: Verweltlichung, Verwissenschaftlichung, Industrialisierung und Demokratisierung. Die Verweltlichung entzaubert die Natur und untergräbt die Mythen und Religionen. Sie hat in Verbindung mit der Verwissenschaftlichung zu einem physikalischen Weltbild von faszinierender Komplexität und Reichweite geführt. Die auf einfache Weltdeutungen angewiesene Masse aber in eine Sinnkrise gestürzt. Scharlatane, Sekten und Aberglaube haben Konjunktur. Die von Wissenschaft und Technik vorangetriebene Industrialisierung drückt bereits der gesamten Erde ihren Stempel auf. Die Natur wurde in Reservate verdrängt. Zugleich wüten Unfälle und Naturkatastrophen immer verheerender unter Menschen, Tieren und Pflanzen. Im Zuge der Demokratisierung sind zwar Adel und Klerus entmachtet worden. Wirtschaft und Technik aber werden nach wie vor technokratisch von Managern und Experten beherrscht. Diese Zweischneidigkeit der Modernisierungsprozesse, mit der Rationalisierung auch die Unvernunft, mit der Freiheit auch die Unterdrückung zu fördern, haben Horkheimer und Adorno als Dialektik der Aufklärung thematisiert.

Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurde die Diskrepanz zwischen den bürgerlichen Ansprüchen der Vernunft und den proletarischen Elendsverhältnissen der Massen immer offensichtlicher. So wie heute angesichts der ökologischen Katastrophe stellten sich damals konfrontiert mit dem sozialen Elend viele Zeitgenossen die Frage, ob nicht der Aufbruch in die Moderne insgesamt gescheitert sei? Rechte Kritiker diagnostizierten damals wie heute einen allgemeinen Kultur- und Sittenverfall, dem durch Rückbesinnung auf religiöse- und kulturelle Werte begegnet werden müsse. Demgegenüber erstrebten linke Sozialreformer eine Vollendung der Aufklärung und forderten die bürgerlichen Ideale für alle ein. Im Zuge der Globalisierung hat der Konflikt gegenwärtig Weltniveau erreicht. Zwischen beiden Lagern schreitet mit einem nie dagewesenen Ungestüm der technische Fortschritt voran. Ihm gegenüber erlahmt zunehmend das demokratische Gestaltungsvermögen. D.h. Wissenschaft und Technik rationalisieren mehr und mehr alle Lebensbereiche. In dieser Allmacht der wissenschaftlich-technischen Rationalität wittern postmoderne Kritiker wieder den Dogmatismus einer Religion. Das in der Moderne auf die instrumentelle Vernunft der Technologien reduzierte Gestaltungsvermögen der Menschen sei vielmehr aus den Künsten heraus neu zu entfalten. Kunst statt Technik lautet das Motto.``

Anja hatte ruhig und klar gesprochen. Sie schaute in die Runde. ,,Euren skeptischen Blicken entnehme ich, daß wir in der Arbeitsgruppe einige Zweifel auszuräumen haben werden.``

,,Das meine ich auch``, erhob Niels das Wort und setzte zur Fortsetzung an: ,,Im Gegensatz zur Flucht der Künstler in die Postmoderne und dem Rückfall der Moralisten ins Mittelalter, möchte ich den kritischen Gehalt der Moderne erneuern. Dazu müssen wir uns klarmachen, vor welchen Problemen die Humanisten und Künstler-Ingenieure der Renaissance standen. Und wie sich im Schatten der Aufklärung Sadismus und Nihilismus entwickeln konnten. Die scientia nova der Renaissance hob an mit einer Kritik der Scholastik. Den Kathetertheologen des Mittelalters wurden nicht nur die philosophischen Schriften der Antike entgegengehalten. Erstmals in der Geschichte der Menschheit verbanden sich praktische Arbeitserfahrung und theoretische Philosophie zu einer neuen Wissenschaft. Nicht mehr die Berufung auf Autoritäten und die Zitate aus verstaubten Büchern dienten der Begründung. Das neue Wissen entsprang vielmehr eigener Erfahrung, die mit Hilfe technischer Geräte und mathematischer Verfahren gemacht wurde. Die experimentellen Philosophen hatten den Mut, sich ihres eigenen Könnens und Denkens zu bedienen. Die äußere Bewährung des Wissens wurde zum schlagenden Argument. Den kirchlichen Dogmen wurden die Erfahrungsurteile aus der Arbeitswelt, den Laborexperimenten und Feldbeobachtungen entgegengehalten. Theorien mußten sich fortan empirisch bewähren.

Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit formulierte Kant. Der Aufklärungsphilosoph kritisierte das Wissen seiner Zeit in dreifacher Hinsicht: In seiner Kritik der reinen Vernunft reflektierte er die Grundlagen der Naturphilosophie. Seine Kritik der praktischen Vernunft zielte auf eine Fundierung der Moralphilosophie. Und in der Kritik der Urteilskraft problematisierte er die Beliebigkeit von Geschmaksfragen in der Kunstphilosophie. ,,Woher rührt die Geltung der Gesetze in Natur, Moral und Kunst?`` fragte er sich. Seinem transzendentalen Ansatz folgend, untersuchte er die Bedingungen der Möglichkeit von Wahrheit, Gerechtigkeit und Schönheit. Er legte die unterstellten Idealisierungen in Epistemik, Ethik und Ästhetik frei und verstrickte das reine Denken in Antinomien. Seine Antinomie des Unendlichen z.B. nahm in genialer Weise den Widerspruch in der Cantor'schen Mengenlehre vorweg. Denn Gedanken ohne anschaulichen Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind. In Kants Philosophie erstreckt sich die Vernunft auf drei Bereiche: Wissenschaft, Moral und Kunst. Im Weltbild der Menschen seiner Zeit hatten sich drei Welten ausdifferenziert: die objektive, die soziale und die subjektive Welt. Kant suchte die Wahrheit der Tatsachen, die Gültigkeit der Normen und die Wahrhaftigkeit der Erlebnisse transzendental zu fundieren. Die innere Vollkommenheit des Wissens wurde zum schlagenden Argument. Kant lenkte die Aufmerksamkeit seiner Zeitgenossen auf die immer schon unterstellten, aber nie thematisierten Voraussetzungen ihres Denkens.

Was blieb nach Kant noch zu kritisieren? Er hatte die Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrungsurteilen freigelegt. Vor aller Erfahrung sind es die Anschauungsformen von Raum und Zeit, die eine Orientierung allererst ermöglichen. Auch Kants Ansatz blieb aber seiner Zeit verhaftet. Stützte er sich doch auf die Physik Newtons und die Mathematik Eulers. Nichteuklidische Geometrie sowie Relativitäts- und Quantentheorie konnte er natürlich nicht vorhersehen. Die Wissenschaft entfaltet sich in der Geistesgeschichte ebenso wie das Leben in der Evolution. Kants zur Erkenntnistheorie geläuterte Philosophie reflektierte weder den Erkenntnisapparat, noch die historische Situation seiner Zeit. Erst mit Vico und Hegel wurde der Entwicklungsgedanke des Geistes in die Philosophie aufgenommen. Dabei schreitet der Geist im dialektischen Dreischritt stufenweise im Modell der Ebenen und Krisen von der Sinnenwelt bis hin zum absoluten Geist, in dem alles aufgehoben bleibt. Marx stellt Hegel gleichsam vom Kopf auf die Füße. Nach ihm entwickelt sich Geschichte aus dem Widerstreit von Poduktivkräften und Produktionsverhältnissen. Die Basis der Lebensverhältnisse präge den Überbau des Geistes: Bewußtsein heiße bewußtes Sein. Marx übernimmt von Hegel die dialektische Methode. Er wendet sie aber nicht auf den Geist, sondern auf die materiellen Lebensbedingungen an. Folglich endet die Entwicklung bei ihm auch nicht im absoluten Geist. Der Kapitalismus werde sich vielmehr über den Sozialismus zum Kommunismus fortentwickeln. Triebkraft dafür sei die Eigengesetzlichkeit der Dialektik von Arbeit und Kapital. Marxens Kritik der politischen Ökonomie ist zugleich der Philosophie Hegels und via Kant der Physik Newtons verpflichtet.

Im Zuge der industriellen Revolution verschärften sich die Gegensätze zwischen Anspruch und Wirklichkeit der bürgerlichen Ideale. Die Fortschrittsgläubigen setzten rücksichtslos auf die Entfaltung der Produktivkräfte. Durch Positivismus und Pragmatismus wurde die Wissenschaft in den Dienst des Kapitals genommen. Die wissenschaftliche Betriebsführung gipfelte in der Massenproduktion durch Fließbandarbeit. Aber Bewegungen rufen Gegenbewegungen hervor. Das auch in der Dialektik thematisierte Gegenwirkungsprinzip hatte Newton bereits in der Natur gesehen: Stabile natürliche Vorgänge resultieren aus einem Gleichgewicht der Kräfte. In der Medizin ist z.B. seit langem das Gegenwirken antagonistischer Muskeln sowie von symphatischem und parasymphatischem Nervensystem bekannt. Verhaltensforscher wiesen das Gegenwirkungsprinzip im Schwanken zwischen Flüchten oder Standhalten nach. Und in der Gesellschaft halten Reformer und Reaktionäre einander die Waage.``

,,Nun ist es aber an der Zeit, einleitende Worte zu den Jugendbewegungen anzuschließen``, knüpfte Chris den Faden weiter. ,,Dem evolutionären Gegenwirkungsprinzip entstammt auch der Generationskonflikt. Er wird je aufs Neue ausgetragen zwischen Eltern und Kindern. Über das Aufbegehren und den Auszug der Nachkommen in die Welt berichten viele Mythen und Märchen. Die Kritik der Kinder am Elternhaus ist pubertärer Normalfall und sorgt für Wandel und Vielfalt auch in der sozialen Evolution.

Die durch politische Umwälzungen, wirtschaftliche Krisen oder technischen Fortschritt ausgelösten Umbruchsituationen in Kultur und Gesellschaft werden bevorzugt von jüngeren Leuten erspürt und genutzt. Manchmal geraten sie dabei in die berauschende Situation, daß individuelle und gesellschaftliche Emanzipation zusammenfallen. Gegenwärtig hat das Wandlungspotential Weltmaßstab erreicht. Die Jungen tummeln sich im Internet und treiben die Globalisierung voran. Haben wir es hier vielleicht mit einer relevanten Jugendbewegung zu tun? Wie sieht ihre Praxis aus? Welcher Theorie folgt sie?

Meiner Vermutung nach, leben wir gegenwärtig in einer globalen Umbruchsituation, die historisch ohne Beispiel ist. Im Unterschied zu Anja sehe ich uns aber nicht im Übergang zur Postmoderne. Die Globalisierung vollendet vielmehr die Moderne. Das ironischerweise aus dem Militärapparat hervorgegangene Internet ermöglicht auf Grund seiner dezentralen Struktur und hohen Fehlertoleranz weltweit noch nie dagewesene Kommunikationsmöglichkeiten. Protest- und Interessengruppen stehen Möglichkeiten globaler, herrschaftsfreier Kommunikation zur Verfügung.

Jugendprotest und kritisches Denken gehören naturgemäß zusammen. Wenngleich Proteste vielfach spontan und unorganisiert entstehen, sind sie nicht von Dauer oder breitenwirksam ohne gemeinsam getragene Überzeugungen. Wogegen richtet sich der Protest? Wie wird die Kritik begründet? Welchen Traditionen wird gefolgt? Morgen treffen wir uns zum Surfen im Computerraum. Ziel unserer Übung wird es sein, uns über die Organisationsformen weltweiter Jugendbewegungen zu orientieren.

Bevor ich auf die verschiedenen Protestbewegungen eingehe, eine bewußt überzeichnete Charakterisierung der kapitalistischen Konsumgesellschaft, in der wir leben. Die in Arbeit, Freizeit und Schlaf zerfallende Lebenszeit der Menschen dient der strebsamen Produktion und der lustvollen Konsumtion. Motor der Neuerungen ist die Technik. Antrieb der Arbeit das Geld. Mit der Inbrunst einer Religion predigt die Werbung das Lebensglück durch Konsum. Unter den Rahmenbedingungen wirtschaftlichen Wachstums, stabilen Geldwertes und eines hohen Beschäftigungsgrades wird die Vermarktung immer neuer Produkte betrieben. Der Staat ist zum Garanten der Kapitalreproduktion durch stete Warenzirkulation geworden. Mehr! Besser! Schneller! Nach dem Zerfall des Sowjetimperiums wird das Warenparadies des Kapitalismus weltweit erstrebt. Jedem sein Auto! Jedem seine Weltreise! Jedem sein Eigenheim! Gegen dieses Paradies der Yuppies und Raver, die mit Lifestyle und Techno dem Hedonismus frönen, opponieren die Grünen. Würden sechs Milliarden Menschen wirklich so leben wie gegenwärtig die führenden Industrienationen, käme es zur sozialökologischen Katastrophe. Kriege um Lebensräume, Massensterben durch Unwetter und Klimaschwankungen, Epidemien durch resistente Keime und Zivilisationskrankheiten nähmen dramatisch zu. In Aussicht stünde die Barbarei! Abhilfe böte nur eine zukunftsfähige Entwicklung des Maßhaltens: Vielfalt und Gemächlichkeit statt Einfalt und Raserei!

Weder Autogesellschaft noch Massentourismus sind zukunftsfähig. Gegen die Konsumidiotie und Arbeitswut der Massen opponieren die Hippies und Punker, die Grungies und die Namenlosen der Generation X. Die einen zieht es zurück ins Miteinander alternativer Lebensformen auf dem Lande oder in Wohngemeinschaften der Metropolen. Die anderen besetzen verlassene Häuserzeilen, spielen Stadtindianer oder leben in Nischen und Randbereichen der Konsumgesellschaft. Die Cyberpunks entdecken neuerdings die virtuellen Raumzeiten des Internets und propagieren den Übergang von der Autogesellschaft in die Cybersociety. Surfen statt reisen lautet das Motto.

Neben den machtkonservativen Yuppies und den schlicht konventionellen Ravern, treiben am rechten Rand die ewig Gestrigen, die Nachfahren der Neandertaler und Religionsverrückten ihr Unwesen. Sie ersehnen sich den Stammeshelden als Führer im Rassenstaat oder den Messias als Erlöser im Gottesstaat. Rassismus, Stammesnationalismus und religiöser Fundamentalismus sind weltweit auf dem Vormarsch. Die Armutsflüchtlinge sorgen in Verbindung mit der hohen Arbeitslosigkeit in mehreren mitteleuropäischen Staaten für eine Krise des Sozialstaates. In einem Milieu der Zukunftsangst, der Ohnmacht und des Neides finden rechte Propagandisten und religiöse Verführer unter den Zukurzgekommenen willige Mitläufer. Es bleibt zu hoffen, daß Skins und Hooligans durch Autonome und Punks eine Gegenmacht erhalten bleibt. Versuchen wir den Weg vom Romantiker zum Cyberpunk nachzuzeichnen. Vielleicht erliegen wir am Ende der Sommerschule der Attraktion der Turing-Galaxis.``

Sofie ließ sich ermattet an einer seichten Erhebung ins Gras sinken. Sie mußte allein sein, um Ordnung in ihr Fühlen und Denken zu bekommen. Am Abend stand ein Konzert mit Björk auf dem Programm. Die Verzückung, mit der Chris und Niels von Björk schwärmten, ließ gemischte Gefühle in ihr aufwallen. Bloß keinen Neid aufkommen lassen ... Zum Glück ging ihr Anjas Stimme nicht mehr aus dem Sinn: Kunst ist Wahrnehmung durch Gestaltung. Was für eine schöne Formulierung. Der Künstler als Seismograph der Gesellschaft. Erst indem der Künstler etwas gestaltet, wird es für andere wahrnehmbar. Das Gestaltete und nicht nur die Gestalt. Nicht die äußere Erscheinung, sondern die innere Form ist wesentlich ... Darüber muß ich unbedingt mehr wissen! Sofie sprang auf und wählte den Weg Richtung Bibliothek.

Nicht viel später ruhte sie auf einem bequemen Sofa im Lesesaal und hielt Der Mensch in seiner Geschichte in Händen. Ihr Blick wanderte über die reich ausgestaltete Holzvertäfelung. Immer wieder gingen ihr Paraphrasierungen der gerade gelesenen Sätze durch den Kopf:

Logik ist die Mathematik der Wahrheit.

Mathematik ist die Wissenschaft der Strukturen.

Wissenschaft ist die Kunst der Wahrheit.

Kunst ist Wahrnehmung durch Gestaltung.

Sofie setzte ein:

Logik ist die Wissenschaft der Strukturen der Wahrheit und Wissenschaft ist Wahrnehmung durch Gestaltung der Wahrheit. Weizsäcker hielt offenbar die Logik für grundlegend. Wären in diesen Schichtungen von Logik, Mathematik, Wissenschaft und Kunst nicht Moderne und Postmoderne versöhnt? Die Wissenschaft in der Kunst gleichsam aufgehoben?

Die Tutoren Anja, Nell, Chris und Niels schlenderten über den Campus, um sich die Beine zu vertreten. Chris wollte `was sagen, stockte aber, da er seinen Augen nicht traute. Gebannt folgte er den Bewegungen einer zierlichen Rollschuhläuferin. Sie trug ein rosa Minikleid und wurde von einigen Inline-Skatern begleitet. ,,Ab .. Aber das ist doch ... !`` rief er und rannte los. Anja und Nell schauten sich kopfschüttelnd an.

Die Pop-Ikone hatte sich unterdessen von ihren Mitfahrern getrennt und rollte in weitem Bogen einem Gebüsch entgegen. Es säumte den Rand einer kleinen Anhöhe, die Chris hinaufhastete. Auf der anderen Seite unterschätzte er in seinem Eifer das Gefälle und stürzte geradewegs den Abhang hinunter. Sein Idol hatte sich gerade vom Pinkeln erhoben, als er ins Buschwerk krachte. Instinktiv ging sie in Deckung und duckte sich in die Hocke. Ratschend rollte er mit ihr herum. In der Aufbewegung ihrer Beine knallte er mit der Schläfe gegen einen Rollschuh. Ihm wurde schwarz vor Augen.

Er erwachte in ihrem Schoß. Die Wärme ihrer Schenkel und der Liebreiz ihres Lächelns drohten erneut, sein Bewußtsein zu trüben. Das konnte doch nicht wahr sein! Er mußte träumen. Sein Staunen brachte sie zum Lachen. Betäubt vom süßen Klang ihrer Stimme, spürte er weder den Kopfschmerz, noch das Blut über seine Wange rinnen. Mit ihrem hochgezogenen Kleidchen tupfte sie es sanft von seiner Haut. Tief zu ihm heruntergebeugt, schien sie ihm etwas ins Ohr flüstern zu wollen. Wie von selbst drehte er ihr sein Gesicht entgegen. Nach einem Anflug des Zögerns berührten sich flüchtig ihre Lippen. Vor Glück versagte ihm die Sprache. Sie zog das Minikleid über ihren Kopf und bettete es unter seinen. Ihre Zitzen vor Augen, tauchte er ein in die warme Milch des Weibes ...

... ,,Hallooo ... , hey Chris! Wach auf!`` Chris schaute in das besorgte Gesicht Nielsens, der ihn ohrfeigte und verwundert fragte: ,,Was ist Dir denn widerfahren?`` In Zeitlupe schaute Chris an sich herunter. Er machte einen recht erbärmlichen Eindruck. Sein T-Shirt war zerrissen. Weiter hatte er nichts an. Langsam richtete er sich auf. Ferner Schmerz und schwaches Pochen in der Schläfe erinnerte ihn an seinen Sturz. ,,Ich hatte einen Unfall``, sagte er gleichmütig. ,,Ach so, einen Unfall``, wiederholte Niels ironisch und hielt ein rosa Kleid in Händen. ,,Dich hat wohl die Venus vernascht``, ergänzte er zwinkernd und warf ihm seine Jeans zu.

... his wicked sense of humour
suggests exciting sex
his fingers focus on her
touches, he's venus as a boy

he believes in beauty
he's venus as a boy

he's exploring
the taste of her
arousal
so accurate
he sets off
the beauty in her
he's venus as a boy

he believes in beauty

he's venus as a boy


Verzaubert stand er vor der Bühne. Björk trug ein grell gelbes Minikleid. Ihre Haare hatte sie zu vielen kleinen Knoten zusammengesteckt. Mit frech-mädchenhaftem Unterton und verschmitztem Lächeln nahm sie ihn gefangen. Er überließ sich dem Rhythmus ihrer Big Time Sensuality. Sie schien nur für ihn zu singen. Come To Me ... Am liebsten wäre er über sie hergefallen ... Unterdessen hatte sie sich an den Bühnenrand gesetzt. Unvermittelt ergriff sie seinen Schopf und stieß ihn in ihren Schoß.

... if you ever get close to a human
and human behaviour
be ready to get confused
there's definitely no logic
to human behaviour


Gleich einem Anker entließ sie ihn in den Abgrund. Dumpf schlug er mit dem Hinterkopf auf derbe Springerstiefel und war rasch wieder bei sich. Noch ehe sein Blick den festen Waden und strammen Schenkeln hinauf folgen konnte, hatte ihn die Stiefelträgerin auch schon hochgezerrt und in die Wogen der Menge geschubst. Violently Happy überließ er sich ihrem Hin und Her. Eine Stiefelhacke in seiner Ferse ließ ihn aufstöhnen und herumschnellen. Mit festem Griff um ihren bloßen, schweiß-feuchten Bauch, suchte er die Tänzerin zu bremsen. Zu It's oh so quiet hatte ihn das stiefelbewehrte Girlie aber schon in den Wirbel ihres Körpers gesogen. Dem Strudel ihrer Drehungen konnte er sich nicht entziehen. look at the speed out there, magnetizes to it, and I have no fear, I'm only into this to, enjoy. Es war berauschend. Er tauchte ein in die unio mystica der Freude.

Sofie war nicht in der Stimmung gewesen, am Björk-Konzert teilzunehmen. Die Björk-verrückten Männer verwirrten sie. Die Musik fand sie zwar auch gut, aber Chris' übertriebene Vorfreude war abschreckend. So hatte sie lieber mit Nell und Craig und noch einigen anderen bis tief in die Nacht über die Vision einer Wissenschaft als Kunst fabuliert und - darüber spekuliert, warum so viele Männer auf Björk abfah'n. ,,Sie verkörpert das Girlie der 90er: selbstbewußt, kess, frech und zugleich zart, knuddelig und liebreizend. Eine starke Frau und ein sensibles Kind in einem``, erinnerte Sofie, noch wachliegend. ,,Björk gegenüber verfalle sofort jeder Mann in die Beschützerrolle und müsse sie flugs in den Arm nehmen.``

Niels und Hilde waren längst zurück und schlafen gegangen. Von Chris keine Spur. Verstört wälzte Sofie sich hin und her. ,,Männer sind Tiere``, hallte Anjas Sarkasmus in ihr wider. ,,Ein aufblitzender Arsch unterm Minirock und schon wollen sie aufspringen.`` Mit ekstatischen Kopulationen im Sinn glitt sie in einen traumreichen Schlaf. Phantasien von Groupies und Popstars drängten sich ihr auf. Waren die Starfucker heute Männer? Venus as a boy ... In wildem Tanz rissen sie sich die Wäsche vom Leib und fielen übereinander her. Das Lustgestöhne sprengte ihre Trommelfelle. ,,Scheißkerl!!`` schrie Sofie hochfahrend aus und - sah in das mitleidige Lächeln Anjas.

,,Mach's doch wie ich und treib es mit Frau'n. Laß Dir von Männern nicht mehr den Tag versau'n.``

,,Sehr witzig``, knurrte Sofie gereizt und reckte sich gähnend.

,,Na, komm schon. In einer halben Stunde beginnt die AG``, drängte Anja versöhnlich zum Aufbruch.

Nachdem Anja gegangen war, drohte Sofie entmutigt aufs Lager zurückzusinken. Sollte sie heute zu Chris in die Übung gehen? Oder lieber das Thema wechseln? Unentschlossen griff sie zur Tastatur und sichtete ihre e-mails. Eine kam von Alberto, eine vom Dichter und - eine von Chris:

Hi Liebes,
verzeih mir bitte mein Wegbleiben, aber nach dem Konzert versackten wir in Stanford bei Janet ... Meine heutige Übung fällt aus. Die Ressourcen findest Du im Internet.
Gruß und Kuß, Chris.

,,Janet!`` rief Sofie empört und stieß die Tastatur vom Bett. Warum hat er sich nicht gleich mit Björk auf Tour begeben? Sie streckte alle Viere von sich und seufzte: ,,Ach, was soll's.`` Ihr Blick strich über den Monitor.

Zwischen zween Rosenzitzen
stieß ich nach Seligkeit.
Und vertu, um zu besitzen,
meine mir gesetzte Zeit.


Langsam drangen des Dichters Zeilen in ihr Bewußtsein ... Wenigstens macht er mir nichts vor ... Lieben heißt, eine Freiheit besitzen wollen klang Chris' Stimme in ihr nach. Ja, warum seine Zeit vertun? Sofie sprang auf und stellte sich erstmal unter die Dusche. Seine Ressourcen konnte er sich sonstwo ... Sie stellte abwechselnd heiß und kalt, gleich dem Schwanken ihrer Gefühlswallungen. Mit dem Naß verfloß ihr Unmut. Sie trat heraus - und wurde im Handtuch gefangen. ,,Ich dachte schon, Du wolltest den Tag verpennen``, überraschte Hilde sie. Behend wurde sie eingewickelt und abgerubbelt. Das tat gut!