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Das Grauen

Woody Allen knüpfte 1969 mit seinem ersten in Eigenregie gedrehten Film Take the money and run direkt an die Entstehungsbedingungen des Films an. Ihm gelang eine Wiedergeburt der Filmkunst aus dem Geist der Komik und Doku. In seinen über 40 Filmen schaffte er es dabei immer wieder, seinen vorherrschenden metaphysischen Nihilismus in den Figurenkonstellationen unterhaltsam pragmatisch-optimistisch zu unterlaufen. In seiner 2005 mit Match Point grandios begonnenen London-Trilogie überwiegen allerdings die tragisch-pessimistischen Szenen. Den Proleten Chris in Match Point ebenso wie den Brüdern Ian und Terry in Cassandra's Dream fällt es wesentlich schwerer, einfach so über Leichen zu gehen, als dem Aristokraten Peter, dessen kaltblütige Untat einer Journalismus-Studentin unverhofft zu einem SCOOP verhilft. Nach dieser Tragi-Komödie fallen die letzten drei Filme Woody Allens wieder ausnehmend heiter aus, indem sie die Irrungen und Wirrungen von Liebenden in Barcelona, New York und London humoristisch variantenreich auf den Punkt bringen:

Eine Generation später nach der Neubestimmung der Filmkunst in den 1960er Jahren nehmen die Coen-Brüder mit ihrem ersten Film Blood Simple 1984 die Formen und Themen der ,,schwarzen Serie`` auf und haben ihren Neo-Noir - Stil bis heute mehrfach kreativ variiert. Wie die Filme Woody Allen's sind auch alle Werke der Coen-Brüder nicht nur ausgefeilt inszeniert, sondern ebenso sorgfältig philosophisch durchdacht. In The Philosophy of The Coen Brothers hat Mark Conrad die vielfältigen intellektuellen Aspekte ihrer Filme 2009 zusammengetragen. Den religiösen Gehalten der Coen-Filme ist im gleichen Jahr Cathleen Falsani nachgegangen unter dem Titel: The Dude Abides. Um den Wald vor lauter Bäumen nicht zu übersehen, wendet sie sich nach dem Durchstreifen des Waldes ihrer Filme jeweils einigen Bäumen genauer zu und schließt mit einer Moral der Geschichte. Ein ideales Buch für Klosterschüler und Kirchengemeinden. Die Ironie und der Sarkasmus Allen's wie der Coen's in der Behandlung religiöser Themen, scheint Gläubigen gar nicht aufzufallen in ihrem Wahn. Immerhin grenzt sich Cathleen mit ihrem gospel according to the Coen brothers von Ethan's Verständnis des Glaubens ab, indem sie ihn mit einer Folgerung zitiert, die er aus der Unterscheidung von Verständnis und Sympathie zieht: If it's a question of my understanding / not understanding their beliefs, rather than my feeling sympathy / not feeling sympathy with their attitude as manifested in their avowals of belief, then yes, I understand what it means to say that there is an omnipotent, benevolent creator, and that claim strikes me as the height of stupidity. Die Einfältigkeit der Religionen nehmen Allen und die Coens gerne humoristisch auf die Schippe, ohne aber mit dem Glaubenswahn gleich noch den Humanismus zu verabschieden. In ihrer Gangsterkomödie Oh Brother, Where Art Thou? knüpfen die Coens 2000 zugleich an Woody's Take the money and run an und projizieren die altgriechische Mythologie der Odyssee auf den Süden der USA während der großen Depression in den 1930er Jahren. Die bereits von Sartre thematisierte Verbindung von Existentialismus und Physik ist das Thema des Neo Noir - Thrillers The Man Who Wasn't There. Mit ihrem kongenialen Remake Ladykillers erweisen die Coens einmal mehr dem schwarzen britischen Humor alle Ehre. In der Gangstertragödie No Country For Old Men ist es 2007 neben der Anverwandlung des Westerns der personifizierte Tod schlechthin, der mit der kalten Gleichgültigkeit eines Moby Dick wie eine Naturmacht unter den Menschen wütet und jeder Verfolgung entkommt. Komplementär zu No Country For Old Men ist Burn After Reading die irrwitzige Satire eines Agententhrillers, in der überaus komisch die schlicht naive Welt der Fitnessclubs mit dem hintersinnig abgebrühten Milieu der Geheimdienste verquickt wird. So wie Woody Allen mit Whatever Works an die 1970er Jahre angeknüpft hat, sind die Coen-Brüder nach A Serious Man mit dem Remake True Grit noch einmal den Spuren der 1960er gefolgt. Neben dem schon damals entmythologisierten Western haben sich nun auch die Coens der schon im Gilgamesch-Epos gekeilten Urszene vom Mädchen und dem Außenseiter angenommen:

Das Grauen ist allgegenwärtig und alte Männer sollten sich nicht mehr wie einstmals der Marshal mit true grit von einer jugendlichen Ausreißerin aus der Reserve locken lassen. Andererseits vermag eine lebenslustige junge Frau einem verzweifelten alten Mann auch Beistand und Hilfe zu gewähren. Sehen wir zu, wie es einer naiven, aber schönen Frohnatur wie selbstverständlich gelingt, den an Erkenntnisekel leidenden und von Alpträumen heimgesuchten Melancholiker Boris noch ein wenig Lebensfreude zu vermitteln auf seine alten Tage.

Nachdem der Physiker den Menschen insgesamt als failed species abgetan hatte, wendet er sich trotz seines Sinnlosigkeitsvorbehalts an den Zuschauer. Und in der Tat: was soll eigentlich das ganze Theater, wenn jedes Menschenleben früher oder später mit dem Tod ende? Den könne man doch gleich selber herbeiführen. My father committed suicide because the morning papers depressed him. And could you blame him? With the horror and the corruption and ignorance and poverty and genocide and AIDS and global warming and terrorism and the family-value morons and the gun-morons! ``The horror'', Kurtz said at the end of ``Heart of Darkness. The horror''. Lucky Kurtz didn't have THE TIMES delivered in the jungle, then he'd see some horror. Den Seemann und Schriftsteller Joseph Conrad reizte das im dunklen Afrika verborgene Geheimnis. Sein Roman Herz der Finsternis ist 1902 die künstlerische Verarbeitung dieser ,,Heimsuchung`` in der Mitte seines Lebens, wie es im Nachwort der Reclam-Ausgabe heißt: der Reise auf dem Kongo ins Innere des Schwarzen Kontinents. Und was hatte die Engländer so tief ins Land des schwarzen Mannes gelockt? Nur Abenteuerlust? Es war die Jagd nach Elfenbein. Aber Kurtz hatte sich zu weit vorgewagt und stand unversehens vor den Abgründen seines Selbst. Denn um ihn herum gepfählte Köpfe zeigten nur, that Mr. Kurtz lacked restraint in the gratification of his various lusts. Dabei war Kurtz ein stimmgewaltiger Ausbund an Beredtsamkeit, die unseren Erzähler geradezu faszinierte: Kurtz discoursed. A voice! a voice! It rang deep to the very last. It survived his strength to hide in the magnificent folds of eloquence the barren darkness of his heart. Oh, he struggled! he struggled! The wastes of his weary brain were haunted by shadowy images now - images of wealth and fame revolving obsequiously round his unextinguishable gift of noble and lofty expression. Aber was nützte ihm all das großspurige Gerede? His was an impenetrable darkness. Rationalisierte Kurtz seine bestialischen Gelüste etwa genauso unverfroren wie das Parlament daheim in London die Grausamkeit des Kolonialismus schönredete? Aber das Verdrängte hinterlässt Spuren im Bewusstsein und bricht sich in Träumen Bahn. Und irgendwann tritt es offen zu Tage: It was as though a veil had been rent. I saw on that ivory face the expression of sombre pride, of ruthless power, of craven terror - of an intense and hopeless despair. Did he live his life again in every detail of desire, temptation, and surrender during that supreme moment of complete knowledge? He cried in a whisper at some image, at some vision - he cried out twice, a cry that was no more than breath - ``The horror! The horror!''

Das Grauen, das die Engländer auf ihrem Weg ins Herz der Finsternis Afrikas erlebten, durchlitten auch die Amerikaner wieder in den Tiefen des südasiatischen Dschungels. Francis Ford Coppola's Apocalypse Now ist 1979 die überwältigende filmästhetische Verarbeitung des amerikanischen Vernichtungskrieges gegen das ebenfalls kolonisierte Vietnam. Der Erzählung von der Flussfahrt ins Herz der Finsternis folgend, schickt Coppola Captain Willard, einen Offizier für geheime Spezialaufgaben, auf einem Schnellboot bis ins Grenzgebiet nach Kambotscha, um den in der Wildnis untergetauchten Colonel Kurtz ausfindig zu machen, ihn zu stellen und - zu töten. Seine letzten Äußerungen hatte der Abtrünnige auf ein Tonband gesprochen: I watched a snail crawl along the edge of a straight razor. That's my dream. That's my nightmare. Crawling, slithering along the edge of a straight razor, and surviving. Der von Marlon Brando brilliant verkörperte Kurtz versteht es, die von Conrad als dämonisch faszinierend umschriebene Stimme des in die Finsternis abgetauchten Einzelgängers angemessen schauerlich widerzugeben. Bereits die beschränkte akustische Dynamik der Tonbandaufnahme verwirrt und beunruhigt den auf die Spur des Kriegs-Psychopathen angesetzten Willard weit über den morbid paranoiden Inhalt hinaus: We must kill them. We must incinerate them. Pig after pig, cow after cow, village after village, army after army. And they call me an assasin. They lie ... They lie and we have to be mercyful for those who lie. Those nabobs. I hate them. How I hate them ... Der kriegsmüde Kurtz hatte seinen Erkenntnisekel in Hass verwandelt und war dazu übergegangen, auf eigene Faust zu operieren. Und das nach einer vorbildlichen Blitzkarriere, die den Colonel noch bis in den Generalstab gebracht hätte. Aber irgendwann war seine Frustrationstoleranz erschöpft gewesen und nur seine Intelligenz trieb ihn noch an. Je mehr Willard auf seiner Fahrt ins Herz der Finsternis aus seinem mitgeführten Dossier über Kurtz erfuhr und je mehr ihn die widerwärtigen Ereignisse während seiner Flussfahrt demoralisierten, desto mehr Verständnis brachte er für den Colonel auf. Als er ihm dann nach einem wahren Horrortrip endlich gegenüberstand, verwandelte sich seine Faszination allerdings unversehens in Entsezten. Kurtz hatte ihn natürlich sofort durchschaut und ihm blieb nichts anderes übrig, als sich seinem Schicksal zu ergeben. Der eigenmächtige Colonel hatte den auf ihn angesetzten Captain aber nicht nur erwartet, sondern lieferte sich umgekehrt ihm aus, offensichtlich erleichtert darüber, seinem Leben nicht auch noch selbst ein Ende setzen zu müssen. Zum Schluss bat Kurtz seinen Mörder sogar um einen Gefallen: I worry that my son might not understand what I've tried to be. And if I were to be killed, Willard, I would want someone to go to my home and tell my son everything. Everything I did, everything you saw ... Because there is nothing I detest more than the stench of lies. And if you understand, Willard, you will do this for me. Während Willard mit sich ringt, ob er seinen Auftrag wirklich ausführen soll, spricht Kurtz weiter auf Tonband: They train young men to drop fire on people. But their commanders won't allow them to write fuck on their airplanes because it's obscene! Eine derartig schwachsinnige wie grausame Heuchelei ist in den USA bis heute verbreitet. Und so endet das Drehbuch mit heiligem Schrecken: Willard kills Kurtz with a machete, simultaneous the natives sacrifice a water buffalo and kill it with their machetes. Kurtz is dying. His final words: ``The horror. The horror.'' Willard find Kurtz' manuscript where he has written: ``Drop the bomb. Exterminate them all.''

Hatte Willard das Grauen beenden können? Zumindest Kurtz litt nicht mehr darunter. Aber was können wir heute tun, fragt sich Boris weiter: You read about some massacre in Dafur or some school bus gets blown up, and you go, ``oh my God, the horror!''. Tja, was soll man da machen? Es ist einfach überwältigend und eigentlich bleibt nur ein Ausweg, all dem Grauen zu entgehen: I tried to commit suicide myself. Obviously it didn't work out. Und dann immer dieses Wenn und Aber: Give me a break with your ``could haves'' and ``should haves.'' Like my mother used to say. ``If my grandmother had wheels, she'd be a trolley car.'' My mother didn't have wheels. She had varicos veins. Oma hätte eine Straßenbahn sein können; warum kein Auto? In New York gibt es keine Straßenbahnen, aber in New Orleans. Dort gibt es sogar eine Linie mit der Endstation Sehnsucht. Und genau dorthin lässt Tennessee Williams 1947 Blanche DuBois fahren, als landflüchtige Dame auf dem Weg zu ihrer Schwester Stella. Die hatte sich schon Jahre zuvor in die verheißungsvolle Großstadt aufgemacht, war aber sogleich dem virilen Proleten Stanley Kowalski verfallen. Als Blanche am Ziel von einer farbigen Frau angesprochen wird, ist sie sichtlich irritiert: They told me to take a streetcar named Desire, and then transfer to one called Cementeries and ride six blocks and get off at - Elysian Fields! Was für eine auch symbolische Verdichtung im Reiseziel. Welcher wird ihr wirklicher Sehnsuchtsort sein? Das mythische Elysium als Aufhenthaltsort der Seligen nach dem Tod? Die realen Friedhöfe als Ruhestätten der Leichen? Womöglich ihrer Schwester gleich das Ehegefängnis? Oder bleibt ihr am Ende nur noch der Weg ins Irrenhaus? Als Blanche endlich auf ihre Schwester trifft, macht sie ihr sogleich selbstgerecht Vorhaltungen, sie einst im Sich gelassen zu haben. Eine Gelegenheit zur Rechtfertigung bleibt Stella nicht; denn Blanche kreist zumeist bloß um sich selbst und hört selten zu: Well, now you talk. Open your pretty mouth and talk while I look around for some liquor! Anders als im Rausch scheint sie die Welt nicht mehr ertragen zu können. Da Stan neben seiner körperlich anstrengenden Arbeit dem Bowling und Pokerspiel frönt, ist er selten zu Hause. Die Schwestern fänden reichlich Gelegenheit zu einer Aussprache, aber die vermeintliche Dame vom elterlichen Landgut empört sich lieber über die miserablen Lebensumstände in der Stadt: Why, that you had to live in these conditions! Der Schwester ist das egal, wenn sie nur glücklich ist. Und das ist besonders dann der Fall, wenn ihr Mann nach längerer Abwesenheit endlich wieder daheim ist: When he's away for a week I nearly go wild! And when he comes back I cry on his lap like a baby. Aber ist die sexuelle Hörigkeit des Weibes der Dame wirklich fremd? Blanche hatte sich bereits als Schülerin in einen jungen Mann verliebt, der so anders, so feinfühlig und poetisch war. Oder war sie seinerzeit schon Lehrerin gewesen und einem sensiblen Schüler verfallen? Der Junge wählte den Freitod und Blanche verlor nicht nur ihren Job; sie musste auch noch mit ansehen, wie für die Notlagen ihrer Familie das Vermögen und der Grundbesitz draufgingen. Als der lebenspraktische Prolet die weltfremde Dame darüber zur Rede stellt, ihre Ziererei als Heuchelei enttart und in Erfahrung gebracht hat, dass die ach so gebildete Schwester sogar dem leiblichen Gewerbe nachgegangen sei, bleibt der Entlarvten nur noch der Weg in den Rausch der Illusionen. Nicht ein erträumter Rosenkavalier befreit sie am Ende aus ihrer Scheinwelt; es ist ein Psychiater, der sie unerwartet in Gewahrsam nimmt: You are not the gentleman I was expecting.

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Ingo Tessmann 2011-05-08