Next: Die Entropie nimmt zu Up: Zur Lage der Philosophie Previous: Jeder Möglichkeit wohnt eine

Wissenschaft ist verfeinerte Alltagspraxis

,,Alle Wissenschaft ist nur eine Verfeinerung des Denkens des Alltags``, schrieb Einstein . Diese gegen Formalisten und Idealisten gerichtete Grundhaltung des gesunden Menschenverstandes, ist nicht nur Ausdruck der Bescheidenheit Einsteins, sondern allen Naturforschern selbstverständlich. Sinneserfahrungen und Handwerkspraxis, kurz: das Tathandeln ist der Ausgang der Wissenschaften auf dem Wege zu erkennen, was die Welt im innersten zusammenhält:

Geschrieben steht: ,,Im Anfang war das Wort!``

Hier stock ich schon! Wer hilft mir weiter fort?

Ich kann das Wort so hoch unmöglich schätzen,

Ich muß es anders übersetzen,

Wenn ich vom Geiste recht erleuchtet bin.

Geschrieben steht: Im Anfang war der Sinn.

Bedenke wohl die erste Zeile,

Daß deine Feder sich nicht übereile!

Ist es der Sinn, der alles wirkt und schafft?

Es sollte stehn: Im Anfang war die Kraft!

Doch, auch indem ich dieses niederschreibe,

Schon warnt mich was, daß ich dabei nicht bleibe.

Mir hilft der Geist! Auf einmal seh ich Rat

Und schreibe getrost: Im Anfang war die Tat!

Der Sokratische Logos ist durch das Galilei 'sche Experiment zu ergänzen. In den Worten Salviatis: ,,Ihr stellt in der Tat, als Mann der Wissenschaft, eine berechtigte Forderung auf, und so muß es geschehen in den Wissensgebieten, in welchen auf natürliche Konsequenzen mathematische Beweise angewandt werden; so sieht man es bei allen, die Perspektive, Astronomie, Mechanik, Musik und anderes betreiben; diese alle erhärten ihre Prinzipien durch Experimente, und diese bilden das Fundament des ganzen späteren Aufbaus.``

Einstein formulierte zwei Forderungen, die an eine Theorie zu stellen sind: die innere Vollkommenheit der mathematischen Struktur und die äußere Bewährung im Experiment. Die innere Vollkommenheit erläuterte er am Beispiel seiner allgemeinen Relativitätstheorie : ,,Es ist klar, daß man im allgemeinen eine Theorie als so vollkommener beurteilen wird, eine je einfachere Struktur sie zugrunde legt und je weiter die Gruppe ist, bezüglich welcher die Feldgleichungen invariant sind.``

Wie findet man eine neue Theorie? Durch Intuition! Einstein unterteilte den Spiralprozeß der Theoriendynamik in vier Schritte: Aus den Erfahrungen E gelangen wir durch Intuition I zu den Axiomen A, aus denen die Sätze S gefolgert werden, die sich wiederum in der Erfahrung E zu bewähren haben. Nach diesem Schema lassen sich jeweils Galileis Kinematik, Newtons Mechanik, Maxwells Elektrodynamik, Boltzmanns Thermodynamik, Einsteins Relativitätstheorien und die Quantenfeldtheorien als in sich abgeschlossene Theorien verstehen. Einsteins Kriterien erlauben eine Einteilung der Theorien nach Graden der inneren Vollkommenheit und äußeren Bewährung. Wie bei den Verbesserungen der Technik seit der Steinzeit, läßt sich damit auch eine kumulative Theoriendynamik der neuzeitlichen Naturwissenschaft nachweisen.

Die Intuition des Genies in Ehren; den Philosophen interessiert gleichwohl, ob der Weg von den Erfahrungen zu den Axiomen nicht zumindest ein Stück weit verständlich gemacht werden könnte. Dieses Programm einer schrittweisen und zirkelfreien Konstruktion der Wissenschaften aus der Alltagspraxis, ist das Anliegen der methodischen Kulturalisten . Im Gegensatz zu den kritischen Theoretikern und Rationalisten geht es den methodischen Kulturalisten nicht nur um Logik, Dialektik und Rhetorik. Vielmehr ist neben der Sprache auch das Experimentieren zu rekonstruieren; denn Physik ist neben qualitativer Naturphilosophie vor allem quantitative Experimentalwissenschaft . Die Quantifizierung der Naturphilosophie könnte zum Vorbild für die Erneuerung der Philosophie schlechthin werden.
Die systematische Untersuchung der Bewegungen von Körpern im Schwerefeld der Erde begann mit Galilei. Wesentliches Motiv seiner Beschäftigung mit der Bewegung war die Verbesserung der Treffergenauigkeit beim Schießen mit Kanonen. Aus seinen Experimenten mit der schiefen Ebene folgerte er, ,,daß die Strecken sich verhielten wie die Quadrate der Zeiten``. Mathematisch ausgedrückt: $s \sim t^2$. Mit der Fallbeschleunigung g als Proportionalitätsfaktor folgt daraus das Fallgesetz: g = const. Im Rahmen der Newton'schen Mechanik wird Galileis Fallgesetz zu einem Spezialfall des Gravitationsgesetzes:

\begin{displaymath}
G = \gamma {m M \over s^2} \end{displaymath}

G steht für die Gravitationskraft, $\gamma $ meint die Gravitationskonstante und M bedeutet die Erdmasse. Mit der Körpermasse m im Abstand s vom Erdschwerpunkt und $G = m\, g$ wird daraus:

\begin{displaymath}
g = \gamma {M \over s^2} \end{displaymath}

Am Äquator liegt die Entfernung vom Erdschwerpunkt bei $s = 6378\, km$. Das ergibt eine Fallbeschleunigung von $g = 9,81\, m/s^2$. Zu den Polen hin nimmt die Entfernung ab auf $s = 6356\, km$. Damit wird $g = 9,87\, m/s^2$. D.h. im Schwankungsbereich von $\Delta s = 22\, km$ variiert die Fallbeschleunigung um $\Delta g = 0,06\, m/s^2$. Der relative Fehler $\Delta g/g$ in der Nähe der Erdoberfäche liegt folglich bei $6\, 10^{-3}$. Galileis Fallgesetz gilt also nur näherungsweise innerhalb eines engen Gültigkeitsbereiches. Einstein hat Newtons Gravitationstheorie zur Allgemeinen Relativitätstheorie (ART) erweitert. Dabei ging er aus von der Gleichheit der trägen und schweren Masse und postulierte die Äquivalenz von Trägheits- und Gravitationskräften. Dieses Postulat ist heute bis zu einer relativen Genauigkeit von 10-12 bestätigt worden. Im Rahmen der ART wird Newtons Gravitationsgesetz wiederum zu einem Spezialfall der Einstein'schen Feldgleichungen im Grenzfall kleiner Geschwindigkeiten und eines schwachen, statischen Gravitationsfeldes. Die relative Genauigkeit der ART konnte experimentell bis zu 10-14 vorangetrieben werden. Gemäß dem Korrekturterm $2\, g\, R/c^2$ verbessert die ART Newtons Prognose des Gravitationspotentials auf der Erde mit dem Radius R lediglich in der Größenordnung von 10-9.

Die mit Galilei beginnende Quantifizierung der Bewegung führte Einstein zu einer umfassenden Kosmologie. In ihr kommen die Theorien Galileis und Newtons als Spezialfälle mit eingeschränktem Güligkeitsbereich und verminderter Genauigkeit vor. Die Superstring-Theorien der Gegenwart wiederum enthalten die ART als Spezialfall. Dreh- und Angelpunkt wissenschaftlicher Sätze sind ihre Genauigkeit und ihr Gültigkeitsbereich. In der Quantifizierung liegt ihre Stärke, die sie nachvollziehbar und anwendbar macht. Die qualitativen Sätze (1 bis 4) der Philosophen dagegen, sind je nach Interpretation beliebig auslegbar und damit nicht besser als Volksweisheiten. Verfeinern wir sie durch Quantifizierung!


Next: Die Entropie nimmt zu Up: Zur Lage der Philosophie Previous: Jeder Möglichkeit wohnt eine
Ingo Tessmann
1/31/2000