,,Alle Wissenschaft ist nur eine Verfeinerung des Denkens des Alltags``, schrieb Einstein . Diese gegen Formalisten und Idealisten gerichtete Grundhaltung des gesunden Menschenverstandes, ist nicht nur Ausdruck der Bescheidenheit Einsteins, sondern allen Naturforschern selbstverständlich. Sinneserfahrungen und Handwerkspraxis, kurz: das Tathandeln ist der Ausgang der Wissenschaften auf dem Wege zu erkennen, was die Welt im innersten zusammenhält:
Der Sokratische Logos ist durch das Galilei 'sche Experiment zu ergänzen. In den Worten Salviatis: ,,Ihr stellt in der Tat, als Mann der Wissenschaft, eine berechtigte Forderung auf, und so muß es geschehen in den Wissensgebieten, in welchen auf natürliche Konsequenzen mathematische Beweise angewandt werden; so sieht man es bei allen, die Perspektive, Astronomie, Mechanik, Musik und anderes betreiben; diese alle erhärten ihre Prinzipien durch Experimente, und diese bilden das Fundament des ganzen späteren Aufbaus.``
Einstein formulierte zwei Forderungen, die an eine Theorie zu stellen sind: die innere Vollkommenheit der mathematischen Struktur und die äußere Bewährung im Experiment. Die innere Vollkommenheit erläuterte er am Beispiel seiner allgemeinen Relativitätstheorie : ,,Es ist klar, daß man im allgemeinen eine Theorie als so vollkommener beurteilen wird, eine je einfachere Struktur sie zugrunde legt und je weiter die Gruppe ist, bezüglich welcher die Feldgleichungen invariant sind.``
Wie findet man eine neue Theorie? Durch Intuition! Einstein unterteilte den
Spiralprozeß der Theoriendynamik in vier Schritte: Aus den Erfahrungen
E gelangen wir durch Intuition I zu den Axiomen A, aus denen die Sätze S
gefolgert werden, die sich wiederum in der Erfahrung E zu bewähren haben.
Nach diesem Schema lassen sich jeweils Galileis Kinematik, Newtons Mechanik,
Maxwells Elektrodynamik, Boltzmanns Thermodynamik, Einsteins Relativitätstheorien
und die Quantenfeldtheorien als in sich abgeschlossene Theorien verstehen.
Einsteins Kriterien erlauben eine Einteilung der Theorien nach Graden der
inneren Vollkommenheit und äußeren Bewährung. Wie bei den Verbesserungen
der Technik seit der Steinzeit, läßt sich damit auch eine kumulative
Theoriendynamik der neuzeitlichen Naturwissenschaft nachweisen.
Die Intuition des Genies in Ehren; den Philosophen interessiert gleichwohl, ob
der Weg von den Erfahrungen zu den Axiomen nicht zumindest ein Stück weit
verständlich gemacht werden könnte. Dieses Programm einer schrittweisen
und zirkelfreien Konstruktion der Wissenschaften aus der Alltagspraxis, ist das
Anliegen der methodischen Kulturalisten
. Im Gegensatz zu den
kritischen Theoretikern
und
Rationalisten
geht es den methodischen Kulturalisten nicht nur um Logik, Dialektik und Rhetorik.
Vielmehr ist neben der Sprache auch das Experimentieren zu rekonstruieren; denn
Physik ist neben qualitativer Naturphilosophie vor allem
quantitative Experimentalwissenschaft
. Die Quantifizierung
der Naturphilosophie könnte zum Vorbild für die Erneuerung der Philosophie
schlechthin werden.
Die systematische Untersuchung der Bewegungen von Körpern im Schwerefeld der Erde
begann mit Galilei. Wesentliches Motiv seiner Beschäftigung mit der Bewegung
war die Verbesserung der Treffergenauigkeit beim Schießen mit Kanonen. Aus seinen
Experimenten mit der schiefen Ebene folgerte er, ,,daß die Strecken sich
verhielten wie die Quadrate der Zeiten``. Mathematisch ausgedrückt:
. Mit der Fallbeschleunigung g als Proportionalitätsfaktor folgt
daraus das Fallgesetz: g = const. Im Rahmen der Newton'schen Mechanik
wird Galileis Fallgesetz zu einem Spezialfall des Gravitationsgesetzes:
G steht für die Gravitationskraft, meint die Gravitationskonstante und M bedeutet die Erdmasse. Mit der Körpermasse m im Abstand s vom Erdschwerpunkt und wird daraus:
Am Äquator liegt die Entfernung vom Erdschwerpunkt bei . Das ergibt
eine Fallbeschleunigung von . Zu den Polen hin nimmt die Entfernung
ab auf . Damit wird . D.h. im Schwankungsbereich von
variiert die Fallbeschleunigung um .
Der relative Fehler in der Nähe der Erdoberfäche liegt folglich
bei . Galileis Fallgesetz gilt also nur näherungsweise innerhalb eines
engen Gültigkeitsbereiches. Einstein hat Newtons Gravitationstheorie zur Allgemeinen
Relativitätstheorie (ART) erweitert. Dabei ging er aus von der Gleichheit der trägen
und schweren Masse und postulierte die Äquivalenz von Trägheits- und Gravitationskräften.
Dieses Postulat ist heute bis zu einer relativen Genauigkeit von 10-12 bestätigt
worden. Im Rahmen der ART wird Newtons Gravitationsgesetz wiederum zu einem Spezialfall
der Einstein'schen Feldgleichungen im Grenzfall kleiner Geschwindigkeiten und eines
schwachen, statischen Gravitationsfeldes. Die relative Genauigkeit
der ART konnte experimentell bis zu 10-14 vorangetrieben werden.
Gemäß dem Korrekturterm verbessert die ART Newtons Prognose
des Gravitationspotentials auf der Erde mit dem Radius R lediglich
in der Größenordnung von 10-9.
Die mit Galilei beginnende Quantifizierung der Bewegung führte Einstein zu einer umfassenden Kosmologie. In ihr kommen die Theorien Galileis und Newtons als Spezialfälle mit eingeschränktem Güligkeitsbereich und verminderter Genauigkeit vor. Die Superstring-Theorien der Gegenwart wiederum enthalten die ART als Spezialfall. Dreh- und Angelpunkt wissenschaftlicher Sätze sind ihre Genauigkeit und ihr Gültigkeitsbereich. In der Quantifizierung liegt ihre Stärke, die sie nachvollziehbar und anwendbar macht. Die qualitativen Sätze (1 bis 4) der Philosophen dagegen, sind je nach Interpretation beliebig auslegbar und damit nicht besser als Volksweisheiten. Verfeinern wir sie durch Quantifizierung!