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Von der kritischen Theorie zur Universalpragmatik

Nach dem Sturz des Kaisers und der Novemberrevolution gab es in Deutschland viele Bestrebungen zum Umsturz und zur Gewinnung der Massen. Aufgrund der wirtschaftlichen Misere hatten die Republikaner in der Auseinandersetzung mit den Kommunisten und Faschisten keine Chance. Die Rechten fanden nicht nur Rückhalt im nach wie vor obrigkeitsstaatlichen Verwaltungs- und Militärapparat. Sie vermochten auch durch Mythen, Legenden und Symbole die dumpfen Gefühle und Leidenschaften der Massen in Wallung zu versetzen. Hitler verstand es in meisterhafter Weise mit Schlagworten und Parolen das Volk in Stimmung zu bringen. So spielte er mit dem Schlagwort von der Zinsknechtschaft auf die Legende von der erstrebten Weltherrschaft des Judentums an. Als Novemberverbrecher beschimpfte er die Friedensstifter von Versaille und knüpfte an die Legende vom Dolchstoß in den Rücken des im Felde unbesiegten Heeres an. Schon in Mein Kampf legte er die Grundlage für den später immer wieder beschworenen Führer- und Heldenmythos. Und mit dem Symbol des Hakenkreuzes als Lichtzeichen aller nordischen Völker konnte er im Gegensatz zu den Parteisymbolen seiner Gegner alte, tiefverwurzelte Mythen in der Volksseele wachrufen. Mit Bedacht wurden dabei die Farbkontraste des schwarzen Hakenkreuzes im weißen Rund auf blutrotem Hintergrund gewählt. Durch das Heilszeichen der Swastika als Sonnensymbol wurde der Sieg des ,,arischen`` Menschen verkündet. Die Licht-Dunkel-Symbolik knüpfte an den Kampf des Lichts, des Lebens, des Guten an gegen die Finsternis, den Tod, das Böse. Die Farben konnten auch kurz und bündig auf den Punkt gebracht werden: Das Rot ist sozial, das Weiß national und das Hakenkreuz antisemitisch.

Den uralten germanischen Mythen und politischen Legenden hatten die in der Tradition der Aufklärung stehenden Republikaner wenig entgegenzusetzen. Wer Brot und Arbeit im Heil eines arischen Paradieses verspricht, schürt eine religiöse Heilserwartung, der mit Argumenten nicht begegnet werden kann. Einzig die Verbesserung der wirtschaftlichen Misere konnte da weiterhelfen. So schloß sich z.B. der später im Wiener Kreis mitwirkende Otto Neurath um die Jahreswende 1918/19 der breiten Massenbewegung zur Schaffung einer sozialistischen Wirtschaftsordnung an: So wie man die Volkswirtschaft durch ein Hindenburgprogramm dem Kriege dienstbar machen konnte, müßte man sie auch dem Glück aller dienstbar manchen können. In einem Referat vor dem Arbeiterrat führte er aus: Eine Wirtschaft sozialisieren heißt, sie einer planmäßigen Verwaltung zu Gunsten der Gesellschaft durch die Gesellschaft zuzuführen. Nebenbeibemerkt: Vor Arbeitern sprach in den 20ern auch der Gefühlssozialist Albert Einstein .
Im Berliner Arbeiterrat wirkte 1919 Felix Weil, ein Student der Wirtschafts- und Sozialwissenschaft aus reichem Hause. In einem Vortrag machte er sich Gedanken über Wesen und Wege der Sozialisierung. 1923 erfolgte auf Initiative des Unternehmersohns die ministerielle Genehmigung für die Errichtung eines Instituts für Sozialforschung an der Universität Frankfurt. Am 22. Juni 1924 fand die Einweihungsfeier statt. Es sollte zu einem Institut für Forschungen über die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung, über Wirtschaftsgeschichte und Geschichte und Kritik der politischen Ökonomie werden. Von Anfang an stellte sich damit die Frage nach der Objektivität sozialwissenschaftlicher Erkenntnis. Ab 1930 versuchte Max Horkheimer (1895-1973) die Krise des Marxismus vermittels der Durchdringung von Sozialphilosophie und empirischen Sozialwissenschaften zu überwinden. Ähnlich wie die Wiener übten auch die Frankfurter Metaphysik-Kritik: Das einst religiös verkleidete Ungenügen an der irdischen Ordnung sollte von den neueren mythologischen Verkleidungen der Rechten freigehalten werden, um zu einer wissenschaftlichen Theorie von der Gesellschaft zu kommen. Im Gegensatz zu den Positivisten, forderte Horkheimer aber nicht nur Tatsachenerkenntnis und Klarheit über das Grundsätzliche. Vielmehr ging es ihm darum, aus der Erfahrung der ganzen Unmenschlichkeit des kapitalistischen Arbeitsprozesses die drängende Notwendigkeit der Änderung zu folgern. Leitwissenschaft wurde den Frankfurtern nicht die Physik, sondern die Soziologie. Neben dem Marxismus ging die Theorie aus Psychoanalyse und Existentialismus hervor.

Max Horkheimer übernahm am 24. Januar 1931 den Lehrstuhl für Sozialphilosophie und die Leitung des Instituts für Sozialforschung. In seiner Antrittsrede betonte er die Hoffnung, daß wirkliche Erkenntnisse im Unterschied zu verklärender Ideologie den Menschen als Mittel dienen könnten, Sinn und Vernunft in die Welt zu bringen. Als Ziel der Sozialphilosophie galt ihm die philosophische Deutung des Schicksals der Menschen, insofern sie nicht bloß Individuen, sondern Glieder einer Gemeinschaft sind.

Etwa ein Vierteljahr nach Horkheimers Arbeitsbeginn in Frankfurt kam Theodor Wiesengrund-Adorno (1903-1969) als Privatdozent nach Frankfurt. Er hatte neben Philosophie auch Musik studiert und ging 1925 nach Wien, um im Schönbergkreis Kompositionsunterricht zu nehmen. Die Ästhetik wurde ihm natürlich wichtigste Disziplin der Philosophie. In der Zwölftontechnik sah er einen wesentlichen Fortschritt im Rationalisierungsprozeß der europäischen Musik sowie im Prozeß der Entmythologisierung der Musik.

In den Jahren 1930 bis `32 kam es als Folge der Weltwirtschaftskrise zu einem dramatischen Anschwellen des Kommunismus und Faschismus. Ihrer Zielsetzung folgend, Philosophie mit Sozialforschung zu verbinden, begannen die Frankfurter mit einem Vorhaben, die tatsächliche Lage der Arbeiter und Angestellten in Erfahrung zu bringen. Vor Abschluß der Erhebung mußten sie allerdings die Flucht ergreifen, da Hilter am 30. Januar 1933 Reichskanzler geworden war. Das Institut wurde nach Genf verlegt. Um empirische Anhaltspunkte für die sozialen Umstände zu erhalten, die Rechtsradikalismus begünstigten, wurden in mehreren europäischen Staaten Erhebungen begonnen. Insbesondere in Studien über Autorität und Familie sollten die Zusammenhänge über Autoritätswandel und Familienunterhalt untersucht werden. Da sich auch in den USA die soziale Lage durch Arbeitslosigkeit und Einwanderung zu verschlechtern begann, ergab sich die Möglichkeit, die Untersuchungen an der Columbia University fortzusetzen. 1934 erfolgte in New York die Gründung des International Institute of Social Research. Im Fortgang der Erhebungen zeigte sich, daß Arbeitslosigkeit die Autorität des Familienoberhaupts untergrabe und die Familienmitglieder verstärkt der Staatsautorität anheim fielen.

In theoretischer Hinsicht begannen Horkheimer und Adorno gegen Ende der 30er Jahre eine Zusammenarbeit an einem Dialektik Projekt. Aus ihm ging die 1947 in Amsterdam veröffentlichte Dialektik der Aufklärung hervor. Eine grundsätzliche Kritik am Positivismus schrieb Horkheimer 1937 unter dem Titel Traditionelle und kritische Theorie. Sie stand unter dem Motto: Dialektik statt Szientismus! Der Logische Empirismus hatte sich in den USA schnell verbreitet. Nach der Übernahme Österreichs ins Deutsche Reich, war auch den Wienern die Emigration nicht erspart geblieben.

Aus Anlaß des 70jährigen Jubiläums seit Erscheinen des ersten Bandes von Marxens Kapital gab das Institut ein Marx-Sonderheft heraus. In seinem Aufsatz Traditionelle und kritische Theorie stellte Horkheimer im Rahmen einer dialektischen Logik die beiden Ansätze einander gegenüber. Im Nachtrag zu seinem Aufsatz schreibt Horkheimer: Ich habe auf den Unterschied zweier Erkenntnisweisen hingewiesen; die eine wurde im discours de la methode begründet, die andere in der Marx'schen Kritik der politischen Ökonomie. Theorie im traditionellen Sinne, von Descartes begründeten Sinn, wie sie im Betrieb der Fachwissenschaften überall lebendig ist, organisiert Erfahrung auf Grund von Fragestellungen, die sich mit der Reproduktion des Lebens innerhalb der gegenwärtigen Gesellschaft ergeben. Die soziale Genesis der Probleme, die realen Situationen, in denen die Wissenschaft gebraucht, die Zwecke, zu denen sie angewandt wird, gelten ihr selbst als äußerlich. Die Kritische Theorie der Gesellschaft hat dagegen die Menschen als die Produzenten ihrer gesamten historischen Lebensformen zum Gegenstand. Die Verhältnisse der Wirklichkeit, von denen die Wissenschaft ausgeht, erscheinen ihr nicht als Gegebenheiten, die bloß festzustellen und nach den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit vorauszuberechnen wären. Was jeweils gegeben ist, hängt nicht allein von der Natur ab, sondern auch davon, was der Mensch über sie vermag.

Hier treffen sich Natur- und Sozialphilosophie. Horkheimer schrieb: Die Physik ist auch davon abgekommen, die allgemeineren Züge als verborgene Ursachen oder Kräfte in den konkreten Tatsachen aufzufassen und diese logischen Verhältnisse zu hypostasieren, nur in der Soziologie herrscht darüber noch Unklarheit. Betrachten wir etwas genauer, wie sich traditionelle und kritische Theorie jeweils charakterisieren lassen:

Traditionelle Theorie

operiert mit Konditionalsätzen, angewandt auf eine gegebene Situation;

bringt ihre Sätze als Hypothesen an neue Sachverhalte heran und trennt damit Wert und Forschung, Wissen und Handeln;

tendiert zur Bildung eines mathematischen Zeichensystems, dessen Sätze über ein Sachgebiet aus möglichst wenigen Axiomen ableitbar sein und mit den Tatsachen zusammenstimmen sollen;

ignoriert den Umstand, daß der Wissenschaftsbetrieb erst diejenigen Sachverhalte für das Wissen fruchtbar macht, die gerade verwertbar sind;

ist aus dem wissenschaftlichen Betrieb des bürgerlichen Zeitalters abstrahiert. Sie gehört zum arbeitsteiligen Produktionsprozeß und ist ein Teil der gesellschaftlichen Praxis;

entsprang nicht allein logischen Erwägungen, sondern steht in einem konkret historischen Zusammenhang;

hat durch isolierende Betrachtung kein Bewußtsein ihrer eigenen Beschränktheit und wird zur Ideologie.

Die kritische Gegenposition zur Tradition beginnt Horkheimer mit existentialistischem Unterton: Es gibt nun ein menschliches Verhalten, das die Gesellschaft selbst zu seinem Gegenstand hat. Dieses Verhalten wird im folgenden als das ,,kritische`` bezeichnet. Das Wort wird hier weniger im Sinn der idealistischen Kritik der reinen Vernunft als in dem der dialektischen Kritik der politischen Ökonomie verstanden. Es bezeichnet eine wesentliche Eigenschaft der dialektischen Theorie der Gesellschaft. Folgende Besonderheiten sind hervorzuheben:

Kritische Theorie

gibt dem blinden Zusammenwirken der Einzeltätigkeiten vernünftige Zielsetzungen;

mißt die als Zufall erscheinende Übereinstimmung zwischen Denken und Sein, Verstand und Sinnlichkeit, Bedürfnissen und ihrer Befriedigung am Verhältnis vernünftiger Absicht und Verwirklichung;

hält das Verhältnis von Subjekt, Theorie und Gegenstand nicht für unveränderlich;

entnimmt der historischen Analyse der menschlichen Aktivität die Idee einer vernünftigen, der Allgemeinheit entsprechenden gesellschaftlichen Organisation, die der Arbeit bereits immanent ist;

wahrt dem Gehalt der Idee einer vernünftigen Gesellschaft die Treue als der Gemeinschaft freier Menschen, wie sie bei den vorhandenen technischen Mitteln möglich ist;

treibt zur Transformation des gesellschaftlichen Ganzen; ihr Sinn besteht nicht in der Reproduktion der gegenwärtigen Gesellschaft, sondern in ihrer Veränderung zum Richtigen.

Ich fasse die Unterschiede noch `mal zusammen: Die traditionelle Theorie nimmt die Gesellschaft, wie sie gerade ist und analysiert lediglich ihr Funktionieren. Politik wird damit zur Sozialtechnologie. Komplementär dazu knüpft die kritische Theorie mit ihrer Dialektik an die Konflikte und den Wandel in der Gesellschaft an und sucht sie zum Besseren zu transformieren. Politik wird so zur Gesellschaftsveränderung.

Im April 1941 siedelte Horkheimer nach Los Angeles über. In New York verblieb nur ein Rumpf-Institut. Unter dem Eindruck des 2. Weltkrieges begann er mit Adorno an dem Dialektik Projekt zu arbeiten. Nach dem Überfall Hitlers auf die Sowjetunion verschob sich ihr Interesse endgültig von der Theorie der ausgebliebenen Revolution auf die Theorie der ausgebliebenen Zivilisation. Es ging ihnen fortan um eine Dialektik von Kultur und Barbarei.

In der Vorrede zur Dialektik der Aufklärung heißt es: Was wir uns vorgesetzt hatten, war tatsächlich nicht weniger als die Erkenntnis, warum die Menschheit anstatt in einen wahrhaft menschlichen Zustand einzutreten, in eine neue Art von Barbarei versinkt. Die Autoren hatten Mühe, an eine wissenschaftliche Tradition anzuknüpfen: Bildet die aufmerksame Pflege und Prüfung der wissenschaftlichen Überlieferung, besonders dort, wo sie von positivistischen Reinigern als nutzloser Ballast dem Vergessen überantwortet wird, ein Moment der Erkenntnis, so ist dafür im gegenwärtigen Zusammenbruch bürgerlicher Zivilisation nicht bloß der Sinn von Wissenschaft fraglich geworden. Faschisten und Kommunisten hatten sich durch ihre Gewaltherrschaft längst vom Humanismus verabschiedet. Aber auch in den Demokratien der Alliierten breiteten sich mehr und mehr Antisemitsmus und Rassendiskriminierung aus. Wir hegen keinen Zweifel, schrieben Horkheimer, Adorno 1944, daß die Freiheit in der Gesellschaft vom aufklärenden Denken unabtrennbar ist. Und weiter heißt es: Wir glauben, daß die Ursache des Rückfalls von Aufklärung in Mythologie nicht so sehr bei den eigens zum Zwecke des Rückfalls ersonnenen nationalistischen, heidnischen und sonstigen modernen Mythologien zu suchen ist, sondern bei der in Furcht vor der Wahrheit erstarrenden Aufklärung selbst. Im technischen Fortschritt sahen die Dialektiker zugleich eine Naturverfallenheit der Menschen, denn die Steigerung der wirtschaftlichen Produktivität, die einerseits die Bedingungen für eine gerechtere Welt herstellt, verleiht andererseits dem technischen Apparat und den sozialen Gruppen, die über sie verfügen, eine unmäßige Überlegenheit über den Rest der Bevölkerung.

Horkheimer, Adorno untergliederten ihre Arbeit in mehrere philosophische Fragmente:

Die erste Abhandlung, die theoretische Grundlage der folgenden, sucht die Verflechtung von Rationalität und gesellschaftlicher Wirklichkeit, ebenso wie die davon untrennbare von Natur und Naturbeherrschung, dem Verständnis näher zu bringen. Im Zuge der Rationalisierung der Gesellschaft durch Technik wird nicht nur die äußere Natur, sondern auch die innere Natur der Menschen beherrscht. Grob ließe die erste Abhandlung in ihrem kritischen Teil auf zwei Thesen sich bringen: Schon der Mythos ist Aufklärung, und: Aufklärung schlägt in Mythologie zurück. In den beiden Exkursen werden die Thesen an spezifischen Gegenständen durchgeführt. Der Abschnitt Kulturindustrie zeigt die Regression der Aufklärung an der Ideologie, die in Film und Radio ihren maßgeblichen Ausdruck findet. Und die thesenhafte Erörterung der Elemente des Antisemitismus gilt der Rückkehr der aufgeklärten Zivilisation zur Barbarei in der Wirklichkeit.

Horkheimer, Adorno beginnen ihre Arbeit am Begriff der Aufklärung mit den Worten: Seit je hat Aufklärung im umfassendsten Sinn fortschreitenden Denkens das Ziel verfolgt, von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen. Aber die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils. Das Programm der Aufklärung war die Entzauberung der Welt. Sie wollte die Mythen auflösen und Einbildung durch Wissen stürzen. Bacon, der Vater der experimentellen Philosophie, hat die Motive schon versammelt. Francis Bacon (1561-1626), Lord-Kanzler von England, war einer der ersten, der die Bedeutung der Naturforschung für die Verbesserung des menschlichen Lebens erkannte. Die glückliche Ehe zwischen dem menschlichen Verstand und der Natur der Dinge, die er im Sinne hat, ist patriarchal: der Verstand, der den Aberglauben besiegt, soll über die entzauberte Natur gebieten. Das Wissen, das Macht ist, kennt keine Schranken, weder in der Versklavung der Kreatur noch in der Willfährigkeit gegen die Herren der Welt. Und die Autoren fahren fort: Technik ist das Wesen dieses Wissens. Es zielt nicht auf Begriffe und Bilder, sondern auf Methode, Ausnutzung der Arbeit anderer, Kapital. Die Dialektiker sehen in der Aufklärung nicht nur eine Befreiung von den Zwängen der Natur. Indem der Mensch dem Naturzusammenhang entrissen wird, dem er entstammt, wird er aufs neue beherrscht. Und mit der Entzauberung schwinde auch die Offenbarung. Auf dem Weg zur neuzeitlichen Wissenschaft leisten die Menschen auf Sinn verzicht. Sie ersetzen den Begriff durch die Formel, Ursache durch Regel und Wahrscheinlichkeit. Die der bürgerlichen Gesellschaft erwachsende Aufklärung sei nicht minder totalitär als der der Stammesgesellschaft entspringende Mythos. Die bürgerliche Gesellschaft ist beherrscht vom Äquivalent. Sie macht Ungleichnamiges kompatibel, indem sie es auf abstrakte Größen reduziert. Im Bildungswesen werde bloß theoretisch gerechtfertigt, was im Produktionsprozeß längst praktisch vollzogen werde: Die Verweisung des Denkens aus der Logik ratifiziert im Hörsaal die Versachlichung des Menschen in Fabrik und Büro.

Adorno kam Ende 1949 nach Europa; Horkheimer weilte seit 1950 wieder in Deutschland. Gefördert vom American Jewish Committee hatten die beiden mehrere Studien über Vorurteile ausgearbeitet. Ihre ersten Bände waren 1950 bereits erschienen. In der Untersuchung zur Authoritarian Personality ging es ihnen um die Entwicklung verschiedener Skalen zur Beurteilung des faschistischen Charakters. Im einzelnen um eine

Wie Wiggershaus in seiner Untersuchung zur Frankfurter Schule hervorhebt, arbeiteten Horkheimer, Adorno folgende Merkmale des faschistischen Charakters heraus: Eine starre Bindung an herrschende Werte, in erster Linie konventionelle Mittelschichten-Werte wie äußerlich korrektes und unauffälliges Benehmen und Aussehen, Tüchtigkeit, Sauberkeit, Erfolg bei gleichzeitiger menschenverachtender pessimistischer Anthropologie, der Bereitschaft, an wüste und gefährliche Vorgänge in der Welt zu glauben und überall sexuelle Ausschweifungen zu wittern; ein ausgeprägt hierarchisches Denken und Empfinden mit Unterwerfung unter idealisierte Autoritäten der Eigengruppe und Verachtung für Außengruppen und alles Abweichende, Diskriminierte, Schwache; Abwehr von Selbstreflexion, Sensibilität und Phantasie, bei gleichzeitiger Neigung zu Aberglauben und stereotyper Fehl-Wahrnehmung der Realität. Es liegt auf der Hand, daß in Verbindung mit wirtschaftlichen Mißständen und unter dem Einfluß faschistischer Propaganda autoritätshörige Persönlichkeiten einen faschistischen Charakter ausbilden. Im Rahmen ihrer aufklärungskritischen Gesellschaftstheorie deuteten Horkheimer, Adorno Faschismus und Antisemitismus auch als Kehrseite der unvollendeten Zivilisation; als Ohnmachtserfahrung der Individuen angesichts der modernen kollektivistischen Gesellschaft. Das Entscheidende waren letztlich Einstellungen und Verhaltensweisen, denen jegliche Ehrfurcht für lebendige Wesen, für Menschen, für Opfer von Diskriminierungen fehlte. Die Versachlichung des Menschen durch Technik war das Grundübel! Die Dominanz von Methoden und Formen über Sinngehalte.

Im Zuge des Wiederaufbaus waren die bürgerlich-reaktionären Eliten der Vorkriegszeit in Deutschland wieder fest im Sattel. Trotz aller Entnazifizierung setzte sich unter dem Einfluß der Amerikaner der Antikommunismus als die herrschende Ideologie der 50er Jahre durch. Die Sozialdemokraten wandelten sich mit ihrem Godesberger Programm von der Arbeiterpartei zur bürgerlichen Reformpartei. Marshallplan und Soziale Marktwirtschaft bescherten den Westdeutschen einen ungeahnten wirtschaftlichen Aufschwung. Faschismus und Holocaust schienen vergessen. Linke Politik und kritische Theorie hatten es schwer, unter den Bedingungen der Restauration Fuß zu fassen. So nimmt es nicht wunder, daß in den 60ern die Auseinandersetzung zwischen kritischer und traditioneller Theorie wieder auflebte. Im sogenannten Positivismusstreit standen sich philosophische Dialektiker und wissenschaftliche Positivisten gegenüber. Hauptpunkte des Streits waren die von Adorno sogenannte Spielmarkenlogik und subjektlose Erfahrung der Positivisten sowie deren Kritik an der Totalität, auf die Gesellschaftstheorie zielen müsse. Sozialtechnologie oder Gesellschaftsveränderung standen zur Debatte.

In den 60ern lüfteten die Studenten unter den Talaren den Muff von Tausend Jahren. Anfang der 70er gewann Willy Brandt die Wahlen sogar mit dem Slogan mehr Demokratie wagen . Der Club of Rome veröffentlichte 1972 seine viel beachtete Studie zu den Grenzen des Wachstums . Gesellschaftlicher Aufbruch und naturphilosophische Reflexion fanden zusammen im Max Planck Institut zur Erforschung der Lebensbedingungen in der wissenschaftlich-technischen Welt. Das Institut wurde geleitet von dem Naturphilosophen Carl Friedrich von Weizsäcker und dem Sozialphilosophen Jürgen Habermas. Damit waren Kopenhagener und Frankfurter Schule unter einem Dach vereint.
Welche Anknüpfungspunkte könnte es zwischen beiden Schulen geben? Ich möchte stichwortartig die wichtigsten zusammenfassen:

Die Hauptpunkte der Frankfurter Kritik an Neopositivismus und Sprachphilosophie:

Die Kritische Theorie Horkheimer/Adornos ist vor allem von Jürgen Habermas weitergeführt worden, indem er sich der Methoden der Analytischen Philosophie bediente. Habermas studierte in Göttingen, Zürich und Bonn Philosophie, Geschichte, Psychologie, Deutsche Literatur und Ökonomie. 1956 wurde er Assistent von Adorno in Frankfurt. Da Habermas dem Institutsleiter Horkheimer zu links war, habilitierte er sich bei Wolfgang Abendroth in Marburg. 1961 übernahm er eine Professur für Philsophie in Heidelberg und 1964 wurde er Nachfolger von Horkheimer in Frankfurt. Zwischen 1971 und 1981 leitete er mit Carl Friedrich von Weizsäcker das Max Planck Institut zur Erforschung der Lebensbedingungen in der wissenschaflich-technischen Welt.

Sehen wir zu wie Habermas den philosophischen Diskurs der Moderne vorangebracht hat. In seiner Arbeit Erkenntnis und Interesse knüpft er an die Horkheimer'sche Scheidung zwischen Theorie im Sinne der Tradition und Theorie im Sinne der Kritik an. Für drei Kategorien von Forschungsprozessen läßt sich nach Habermas ein spezifischer Zusammenhang von logisch-methodologischen Regeln und erkenntnisleitenden Interessen nachweisen:

Ganz im Sinne des Marxismus bewährt sich die Einheit von Erkenntnis und Interesse in einer Dialektik, die aus den geschichtlichen Spuren des unterdrückten Dialogs das Unterdrückte rekonstruiert. Dabei haben die Leistungen des transzendentalen Subjekts ihre Basis in der Naturgeschichte der Menschengattung. Mit Blick auf eine Theorie sozialer Evolution unterscheidet Habermas Arbeit und Interaktion:

Technische Regeln vermitteln Fertigkeiten, verinnerlichte Normen Persönlichkeiten. Habermasens scharfe Trennung zwischen Arbeit und Interaktion hat den Vorteil, die gesellschaftliche Entwicklung nicht mehr allein auf der Grundlage der Arbeitsprozesse beschreiben zu müssen. In seiner Rekonstruktion des historischen Materialismus versucht er, den Marx'schen Ansatz in einer umfassenden Theorie sozialer Evolution zu entfalten. Im Modell der Ebenen und Krisen unterscheidet er Entwicklungsstufen von Gesellschaften und Individuen, die einer spezifischen Entwicklungslogik folgen. Je nach dem Stand der kognitiven-, der Sprach- und der Handlungskompetenz unterscheidet er Kindheit, Jugend und Erwachsensein. Komplementär dazu verläuft die Entwicklung der Gesellschaften von den archaischen Vorformen über die Hochkulturen zur Moderne. In der Biologie muß eine Erklärung der Evolution auf die Verhaltensrepertoirs der Arten und auf den Mutationsmechanismus zurückgehen. Entsprechend sollte auf der Ebene der sozialen Evolution zwischen der Lösung von Steuerungsproblemen und den zugrunde liegenden Lernmechanismen unterschieden werden.

Seine umfassende Theorie des kommunikativen Handelns erschien 1981. In ihr sucht er die Analytische Philosophie mit dem historischen Materialismus zu verbinden. Sprachphilosophisch knüpft er an die Umgangssprachler Austin und Searle an. Die beiden hatten eine Theorie der Sprechakte entwickelt. Nach ihnen wird Sprache als Handeln aufgefaßt und nicht auf ein Zeichensystem reduziert. Es wird klar zwischen Inhalt (propositionaler Gehalt) und Gebrauch (illokutionärer Akt) einer Äußerung unterschieden. In seiner Universalpragmatik entwickelt Habermas die weitergehende These, daß jeder kommunikativ Handelnde im Vollzug einer beliebigen Sprechhandlung universelle Geltungsansprüche erheben und ihre Einlösbarkeit unterstellen muß. Sofern er überhaupt an einen Verständigungsprozeß teilnehmen will, kann er nicht umhin, die folgenden, und zwar genau diese universalen Geltungsansprüche zu erheben:

Ziel der Verständigung ist die Herbeiführung eines Einverständnisses, welches in der intersubjektiven Gemeinsamkeit des wechselseitigen Verstehens, des geteilten Wissens, des gegenseitigen Vertrauens und des miteinander Übereinstimmens terminiert. Einverständnis ruht auf der Basis der Anerkennung der vier korrespondierenden Geltungsanspüche: Verständlichkeit, Wahrheit, Wahrhaftigkeit und Richtigkeit. Mit den Geltungsansprüchen der Rede sind Realitätsbezüge verbunden auf eine:

Diese Weltbezüge werden realisiert durch je verschiedene Aktor-Welt-Beziehungen:

Mit den analytischen Unterscheidungen des kommunikativen Handelns bekommt Habermas auch die Lebenswelt in den Blick. Unter dem funktionalen Aspekt der Verständigung dient kommunikatives Handeln der kulturellen Reproduktion, unter dem Aspekt der Handlungskoordinierung der sozialen Integration, unter dem Aspekt der Sozialisation dient es der Persönlichkeitsbildung. Diesen Prozessen entsprechen als die strukturellen Komponenten der Lebenswelt Kultur, Gesellschaft, Person. Gesellschaften stellen nach Habermas systemisch stabilisierte Handlungszusammenhänge sozial integrierter Gruppen dar. Die systemische Stabilisierung vermitteln die Steuerungsmedien. Die soziale Integration erfolgt durch verständigungsorientierte Kommunikation. Die durch Macht und Geld regulierten Systeme des Staates und der Wirtschaft verschränken sich in den Handlungszusammenhängen der Lebenswelten. Habermas spricht in diesem Zusammenhang von einer Mediatisierung der Lebenswelt. Die Umschaltung zwischen System und Lebenswelt nennt er Realabstraktion. Die Reproduktion der symbolischen Strukturen der Lebenswelt hat natürlich die Erhaltung ihres materiellen Substrats zur Voraussetzung. Es verwundert daher, wie wenig Beachtung Habermas neben Wirtschaft und Staat der durch Energie regulierten Technik schenkt. Hierin ist ein wesentliches Defizit seiner Theorie zu sehen.


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Ingo Tessmann
4/11/1999