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Lou Salomé

Das durch die Freudschaft mit Paul Rée beflügelte Hochgefühl beim Schreiben der Morgenröte sollte noch gesteigert werden durch die Bekanntschaft mit der bemerkenswerten Lou Salomé: Louise Salomé war am 12. Febr. 1861 als sechstes Kind und einzige Tochter des Generals Gustav von Salomé und seiner Frau Louise in St. Petersburg geboren worden. In seinem Buch Frauen um Nietzsche fährt Leis fort: Nachdem die Tochter die protestantisch-reformierte Petrischule besucht hat, soll sie heiraten. Aber die gerade 17 Jahre alte Louise hat anderes im Sinn; sie möchte sich weiterbilden und den Weg der Erkenntnis beschreiten. Dafür schließt sie sich dem 25 Jahre älteren Prediger Hendrik Gillot an, mit dem sie gemeinsam Spinoza, Kant und Kierkegaard liest. Die reizende junge Dame ist begeistert und kann gar nicht genug bekommen. Gillot dagegen verfällt ihrer unbedarften Art, verleiht ihr den Vornamen Lou, macht ihr einen Heiratsantrag - und wird auch noch handgreiflich. Obwohl er bereits verheiratet ist, verliebt er sich leidenschaftlich in sie. Unter dem Titel Liebeserleben erinnert sich Lou in ihrem Lebensrückblick an Hendriks Übergriffe: Mit einem Schlage fiel das von mir Angebetete mir aus Herz und Sinnen ins Fremde. Sie hatte ihren Lehrer als zweiten ,,Gott`` verehrt: Denn so unvertraut, weil des Erstaunlichen voll, war mir der liebe Gott dem Kinde gewesen. Aufgrund des unabänderlichen Tatbestandes der Gottverlassenheit des Universums hatte sie ihren Kinderglauben überwunden und daraus das Positivste ihres Lebens geschöpft: eine damals dunkel erwachende, nie mehr ablassende durchschlagende Grundempfindung unermeßlicher Schicksalsgenossenschaft mit allem, was ist. So souverän wie sie bereits als Kind den ersten ,,Gott`` überwand, meisterte sie auch ihre jungendliche Liebesgeschichte mit dem zweiten: Deshalb wurde das jähe Ende, im Gegensatz zu Trauer und Trübsal nach dem kindlichen Gottesentschwund, dem es so glich, zu einem Fortschritt in Freude und Freiheit hinein.

Zur nächsten Erweiterung ihres Lebenshorizonts macht sie sich (mit ihrer Mutter) 1880 auf den Weg nach Zürich, um Theologie, Philosophie und Kunstgeschichte zu studieren. Voller Weltoffenheit und Lebensfreude schreibt sie, kaum angekommen, ihr Lebensgebet; denn Leben, das war ihr ein Geliebtes, Erwartetes, mit voller Kraft Umfangenes:

Gewiß, so liebt ein Freund den Freund,

Wie ich Dich liebe, Rätselleben -

Ob ich in Dir gejauchzt, geweint,

Ob Du mir Glück, ob Schmerz gegeben.

Ich liebe Dich samt Deinem Harme;

Und wenn Du mich vernichten mußt,

Entreiße ich mich Deinem Arme

Wie Freund sich reißt von Freundesbrust.

Mit ganzer Kraft umfaß ich Dich!

Laß Deine Flammen mich entzünden,

Laß noch in Glut des Kampfes mich

Dein Rätsel tiefer nur ergründen.

Jahrtausende zu sein! zu denken!

Schließ mich in beide Arme ein:

Hast Du kein Glück mehr mir zu schenken

Wohlan - noch hast Du Deine Pein.

Unter dem Titel Freundeserleben erinnert Lou sich in ihrem Lebensrückblick an ihre Freundschaft mit Paul Rée. Sie hatte ihn an einem Märzabend des Jahres 1882 in Rom bei Malwida von Meysenbug kennengelernt. Wie schon Hendrik war auch Paul sogleich für die unwiderstehliche Kindfrau entflammt - und machte ihr einen Heiratsantrag. Sie hatte Mühe, ihm plausibel zu machen, wozu ihr für Lebenszeit abgeschlossenes Liebesleben und ihr total entriegelter Freiheitsdrang sie veranlassten.

Friedrich Nietzsche wurde Malwida von Meysenbug am 22. Mai 1872 während der Grundsteinlegung in Bayreuth durch Cosima Wagner vorgestellt. Malwida hatte mit Begeisterung sowohl Schopenhauers Welt als Wille und Vorstellung als auch Nietzsches Die Geburt der Tragödie gelesen. Fortan unterhielten die beiden einen regelmäßigen Schriftverkehr. Im Vergleich mit Rée gab sie Nietzsche auch einmal einen mütterlichen Rat: Sie sind nicht zur Analyse geboren wie Rée, sie müssen künstlerisch schaffen. Im März 1882 hält Nietzsche sich in Genua auf und hat gerade das dritte Buch seiner geplanten Fortsetzung der Morgenröte abgeschlossen. Nachdem Rée dem Freund in höchsten Tönen Lou angepriesen hat, springt der Funke sogleich über: Grüssen Sie diese Russin von mir, wenn dies irgend einen Sinn hat: ich bin nach dieser Gattung von Seelen lüstern. Ja ich gehe nächstens auf Raub darnach aus. Ende April 1882 trifft er in Rom bei Meysenbug ein, die ihn sofort in den Petersdom schickt. Nietzsche tritt zu den beiden und begrüßt die junge Dame mit den Worten: Von welchen Sternen sind wir uns hier einander zugefallen? Auch Friedrich ist sofort von Lous hinreißender Art fasziniert und denkt - ans Heiraten! Nichtsahnend beauftragt er Rée, bei ihr für ihn zu werben. In ihrem Lebensrückblick erinnert sich Lou: Sorgenvoll überlegtem wir, wie das am besten beizubiegen sei, ohne unsere Dreieinigkeit zu gefährden. Der wissensdurstigen jungen Dame schwebte ein intellektueller Dreierbund mit den beiden kühnen Denkern vor. Ihr abgeschlossenes Liebesleben und entriegelter Freiheitsdrang mussten wieder als Argumente herhalten. In heiterer Stimmung gingen sie Anfang Mai gemeinsam auf Reisen in Oberitalien. Auf dem Monte Sacro kam es zu einer längeren Zweisamkeit zwischen Lou und Friedrich und in Luzern angekommen, nahm Lou im Löwengarten die Gelegenheit zu einer Aussprache wahr. In Luzern gestaltete Nietzsche auch das berühmte Photo mit der Peitsche. Obwohl er das Bild streng und nicht ohne Kitsch durchkomponierte, lässt es noch ein wenig die ausgelassene Atmosphäre ahnen: eine junge Dame spannt peitscheschwingend zwei Herren vor ihren Karren. Für sie war es die Fortsetzung ihres Bildungsweges. Leicht verschmitzt schaut sie in die Kamera, während Rée bieder-lächelnd frontal zu uns blickt und Nietzsche visionär in die Weite schaut. Lisa Schmitz hat 1981 von der damaligen Situation inspiriert eine Kollage Ohne Titel mit Peitsche, Rose und Photo kreiert.

Mitte Mai reisen die drei aus Luzern ab und Nietzsche fährt zu Mutter und Schwester nach Naumburg, wo er sein nächstes Werk redigiert. Der heiteren Stimmung folgend, widmet er die weiteren fünf Bücher der Morgenröte um in Die Fröhliche Wissenschaft. In der Vorrede vom Herbst 1886 erinnert er sich mit der Dankbarkeit eines Genesenden: Wenn wir Genesenden überhaupt eine Kunst noch brauchen, so ist es eine andere Kunst - eine spöttische, leichte, flüchtige, göttlich unbehelligte, göttlich künstliche Kunst, welche wie eine helle Flamme in einen unbewölkten Himmel hineinlodert. Malt van Gogh nicht etwa zur gleichen Zeit diese Flamme immer wieder in seine vibrierend lodernden Zypressen hinein? In Naumburg hört Nietzsche die Nachtigallen ganze Nächte durch vor seinem Fenster singen. Offensichtlich ist er immer noch verliebt und im Weschselspiel von Hochstimmung und Trübsal träumt er weiter von der Dreieinigkeit. Unterdessen sind sich Lou und Paul in Berlin näher gekommen und verbringen einige Zeit bei Rées Mutter in Stibbe auf dem Lande. Mit dem Wunsch, Ihr Lehrer zu sein, Ihr Wegweiser auf dem Wege zur wissenschaftlichen Produktion, versucht Nietzsche an Lous Wissensdrang zu appellieren und sie nach Tautenburg zu locken, ein Dorf in der Nähe Jenas: Meine liebe Freundin, eine halbe Stunde abseits von der Domburg, auf der der alte Goehte seine Einsamkeit genoß, liegt inmitten schöner Wälder Tautenburg. Da hat mir meine gute Schwester ein idyllisches Nest eingerichtet, das mich nun diesen Sommer bergen soll. Nicht genug damit, dass er sich von seiner Schwester ein Nest bereiten lässt; zu allem Überfluss soll die spießbürgerlich-verklemmte und eifersüchtige Elisabeth die unorthodoxe Freidenkerin Lou auch noch abholen und nach Tautenburg geleiten! Wie wenig Nietzsche doch die Frauen kannte! Und warum er überhaupt seine Schwester dabei haben musste? Das ist wohl nur aus seiner frömmelnd-verriegelten Erziehung und aus der Abhängigkeit von seiner Schwester heraus zu verstehen. Anfang August 1882 reist Lou an und trifft in Jena auf Elisabeth: das Schicksal nimmt seinen Lauf und wird lebenslang Ressentiments und Verleumdungen Lous durch Elisabeth zur Folge haben. Aber auch das längere nähere Zusammensein Lous mit Friedrich öffnet der jungen Dame die Augen über den gewaltsamen Stimmungsmenschen: N. hat in seinem Wesen, wie eine alte Burg, manchen dunklen Verließ & verborgenen Kellerraum der bei flüchtiger Bekanntschaft nicht auffällt & doch sein Eigentliches enthalten kann, schreibt sie in ihr Tagebuch. Die analytische Indifferenz Rées der eigenen Person gegenüber ist ihr lieber als die in den Dienst der Erkenntnis gestellte Charakerkraft Nietzsches. Ende August reist sie wieder zu Paul nach Stibbe und Friedrich kann in einem letzten Stimmungshoch seinen Gefühlsüberschwang in die Vertonung ihres Lebensgebets übertragen. Nach einer fruchtbaren intellektuellen Gemeinschaft mit Geisteswissenschaftlern in Berlin, wird sich Salomé 1885 von Rée trennen und 1887 den Iranistiker Carl Andreas heiraten; allerdings ohne körperlichen Vollzug der Ehe. Ihr abgeschlossenes Liebesleben wird die entriegelte Freidenkerin erst dem Dichter Rainer Maria Rilke öffnen:

Wie man ein Tuch vor angehäuften Atem,

nein: wie man es an eine Wunde preßt,

aus der das Leben ganz in einem Zug,

hinaus will, hielt ich dich an mich: ich sah,

du wurdest rot von mir. Wer spricht es aus,

was uns geschah?

Im Gegensatz zu Lou Andreas-Salomé, die mit intellektuellem Eigensinn ihren Weg der Erkenntnis geht und 1894 ihr Buch Nietzsche in seinen Werken veröffentlicht, treibt es Elisabeth Nietzsche in die Arme eines Herrenmenschen, der ihr das Heil im arischen Paradies verspricht. Am 22. Mai 1886 (dem Geburtstag Wagners) heiratet sie den Rassisten Bernhard Förster und zieht mit ihm im März 1888 nach Paraguay in die Kolonie Nueva Germania. Wie Schaefer Im Namen Nietzsches hervorhebt, wollte Nietzsche ein Kolumbus des Denkens sein. Die Schwester ging nach Amerika. Dazwischen liegen Welten. Friedrich hatte sich nach dem Bruch mit Paul und Lou in die Einsamkeit zurückgezogen und Also sprach Zarathustra begonnen; seine Prophetie vom Übermenschen. Schon bei seiner Schwester führte das Missverständnis dieses Ausdrucks in den Wahn vom arischen Helden, der zu erwarten sei. Gegenüber Andreas-Salomés hermeneutischem Ansatz, Nietzsches Philosophie als Selbstbekenntnis ihres Urhebers zu verstehen, ist Förster-Nietzsches Biographie Das Leben Friedrich Nietzsches eine ressentimentgeladene und hasserfüllte Erwiderung auf die nüchtern-intellektuelle Darstellung ihrer Rivalin. Die Liebe hat dieses Buch geschrieben, ist kein schlecht gewähltes Motto Elisabeths, wie Schaefer ironisch anmerkt. Mutter- und Schwesterliebe hatten schon Kindheit und Jugend Friedrichs ruiniert, nun verging sich die Liebe der Schwester auch noch an seinem Werk. Beim breiten Publikum kamen die rührselig-rassistischen Auslassungen Elisabeths gut an und mit dem Nietzsche-Archiv diente sie sich später sogar Hitler an. Lous hermeneutische Werkinterpretation gefiel natürlich nur den Intellektuellen, ist dafür aber zu einem Standardwerk geworden; auch wenn sie unverhohlen bekennt: Das Gesamtwerk Nietzsche; die Dichtung darin ist wesenhafter als seine Wahrheiten. In Anlehnung an Andreas-Salomé kann Nietzsches Schaffen grob in drei Perioden unterteilt werden. Nietzsche als Jünger, Erkennender und Mystiker:

  1. Jünger Schopenhauers und Wagners (ab Die Geburt der Tragödie)
  2. Erkennender sowohl sich selbst als auch der Gesellschaft und Kultur gegenüber (ab Menschliches, Allzumenschliches)
  3. mystischer Willensphilosoph (ab Also sprach Zarathustra)

Es spricht für die Souveränität Andreas-Salomés, dass sie sich nie auf das Niveau ihrer neidischen und ruhmgeilen Gegnerin herabziehen ließ und Förster-Nietzsche einfach ignorierte.


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Ingo Tessmann 2007-04-15