Nach der vorläufigen Überwindung seiner Krankheit am Leben genießt er seine neue ,,Gesundheit`` wie im Rausch. Fortan fühlt er gleichsam schreibend sein Denken und wie andere empfinden, so denkt er. Im Stil seiner Aphorismen gelingt ihm eine Einverleibung seines Denkens wie es wohl sonst nur einem Bildhauer mit der Gestaltung des Marmors ergeht. Und ganz so wie der bildende Künstler mit den Eigenheiten des Materials zu rechnen hat, geht es ihm mit seiner Natur, die in all seinem Tun immer durchwirkt. Auch die Moral ist eigentlich nur diese Geschichte des Leibes und der Kultur. So nimmt es nicht wunder, dass sich Nietzsche in der Vorrede zur Morgenröte als Unterirdischer stilisiert: In diesem Buche findet man einen Unterirdischen an der Arbeit, einen Bohrenden, Grabenden, Untergrabenden. Im Underground des POP hat dieser Impetus ebenso fortgelebt wie das Aufgehen im dionysischen Rausch. Kerouacs Subterraneans griff Bob Dylan wieder auf und als Verkörperung des Dionysos erlebte sich nicht nur Jim Morrison. Wer beharrlich gräbt, untergräbt vor allem unser Vertrauen zur Moral. Und in Zuspitzung auf einen streng logischen Widerspruch präzisiert Nietzsche die Absicht seines Buches: in ihm wird der Moral das Vertrauen gekündigt - warum doch? Aus Moralität! Damit auch die zeitgenössischen Philosophen in der Folge Hegels ihn verstehen, fügt er hinzu: In uns vollzieht sich, gesetzt, daß ihr eine Formel wollt,- die Selbstaufhebung der Moral. Ob die Hegelsche Selbstaufhebung durch einen Widerspruchsbeweis nachvollziehbar gemacht wird, bleibt abzuwarten. Zur Lektüre der Morgenröte wünscht Nietzsche sich jedenfalls vollkommene Leser, die sich Zeit lassen, still werden, langsam werden und die Goldschmiedekunst und -Kennerschaft des Wortes zu schätzen wissen. Diesem Anspruch kann ich hier mit Blick auf die Filmkunst Allens natürlich nicht nachkommen. Neben vorab eingestreuten Anmerkungen erfolgt eine systematischere Kommentierung und Interpretation Nietzsches erst unter dem Aspekt einer nihilistischen Zivilisierung der Kulturen zur Weltgesellschaft.
Im Ecce Homo hebt Nietzsche hervor: Mit der Morgenröte nahm ich zuerst den Kampf gegen die Entselbstungs-Moral auf. Er empört sich darüber, dass die Menschheit bisher in den schrecklichsten Händen war, dass sie von den Schlechtweggekommenen, den Arglistig-Rachsüchtigen, den sogenannten Heiligen, diesen Weltverleumdern und Menschenschändern, regiert worden ist. Und er fragt sich erregt: Welchen Sinn haben jene Lügenbegriffe, die Hülfsbegriffe der Moral, ,,Seele``, ,,Geist``, ,,freier Wille``, ,,Gott``, wenn nicht den, die Menschheit physiologisch zu ruinieren. Wäre doch nur allen Menschen die Goldschmiedekunst und -Kennerschaft des Wortes eigen! Dann fielen sie nicht immer wieder auf die Hirngespinste und das hohle Gerede der Machtpolitiker und Religionsverrückten herein. Bei Woody Allen wird uns das Thema wiederbegegnen und ich werde darauf zurückkommen: in einer Vorschule des vernünftigen Redens.
Obgleich Nietzsche in rhetorischer Breite einen bunten Strauß verschiedener Themen behandelt, wird im Handbuch versucht, die fünf Bücher der Morgenröte mit dem Untertitel: Gedanken über die menschlichen Vorurteile, nach einigen Hauptthemen zu gliedern:
Im ERSTEN BUCH erläutert Nietzsche den Begriff Sittlichkeit der Sitte und formuliert einen Hauptsatz: Sittlichkeit ist nichts anderes (also namentlich nicht mehr!) als Gehorsam gegen Sitten, welcher Art diese auch sein mögen; Sitten aber sind die herkömmliche Art zu handeln und abzuschätzen. Der Sittlichkeit steht die Kausalität gegenüber: In dem Maße, in welchem der Sinn der Kausalität zunimmt, nimmt der Umfang des Reiches der Sittlichkeit ab. Daran anknüpfend gelingt ihm eine schöne Entlarvung der Sittlichkeit als bloßes Hirngespinst, indem er nur scheinbar paradox formuliert: Wer sie dagegen vermehren will, muß zu verhüten wissen, daß die Erfolge kontrollierbar werden. Damit erledigt er ganz nebenbei Volksmedizin und Volksmoral: beides sind die gefährlichsten Scheinwissenschaften. Die richtige Abschätzung und Erfolgskontrolle der Sitten und Gebräuche: was wäre uns alles erspart geblieben, wenn die Erziehung des Menschengeschlechts gelungen wäre! Man wähnt sich in einem Irrenhaus für verunglückte Heilige, wenn man bedenkt, dass Umfragen zufolge die Mehrheit der Deutschen (noch heute!) an Schutzengel und Astrologie, ,,Gott`` und ,,Teufel`` glaubt. Ebenso populär sind die Varianten esoterischer Medizin, etwa Homöopathie oder traditionelle chinesische Medizin, gerade weil sie keine Erfolgskontrolle gestatten! Die Menschen fressen offenbar alles, was man ihnen vorsetzt, Hauptsache es ist einfach zu haben, sei es Gammelfleisch oder Götterspeise.
Nietzsche formuliert unter dem Titel:
Erster Satz der Zivilisation: Jede Sitte ist besser als keine Sitte. Jede
Sitte bezieht sich auf die Erfahrungen unserer Vorfahren, aber das Gefühl für die
Sitte, die Sittlichkeit, wird auf das ,,Alter``, die ,,Heiligkeit``
oder ein ,,Tabu`` verschoben. Damit wirkt die Sittlichkeit der Entstehung
neuer und besserer Sitten entgegen: sie verdummt. Niemand müsste sich heute noch von
Fleisch, Geflügel oder Fisch ernähren, niemand unsinnigen Behandlungsmethoden oder
religiösen Ritualen Folge leisten. Aber warum tun denn so viele Menschen es immer und
immer wieder? Nietzsche sieht den Grund dafür im Gefühl der Macht. Das überwältigende
Gefühl der Ohnmacht, an dem zu Beginn ihrer Entwicklung die Menschen gegenüber den
Naturgewalten gelitten hatten, konnte nur sehr langsam und äußerst beschwerlich überwunden
werden, so dass jeder noch so kleine eigene Machtzuwachs geradezu rauschhaft überschätzt
wurde. Im Austarieren dieses Machtgefühls besteht beinahe schon die Geschichte der Kultur.
Deshalb geht es der Nahrungsmittelindustrie, dem weltweit größten Wirtschaftszweig, auch
nicht um die optimale Ernährung der Menschen, sondern um den Machtzuwachs durch
Profitmaximierung. Offensichtlicher als in der Wirtschaft treten die Machtverhältnisse
in den Religionen und Esoteriken hervor: sie sind schlichtweg überflüssig und ohne sie
ginge es den Menschen sogar besser. Aber eine Erfolgskontrolle widerspräche ja der
Sittlichkeit, die das Gefühl der Macht für sich hat. Dabei wird das Machtgefühl
nicht nur anderen Menschen gegenüber ausgekostet, sondern auch dem eigenen Körper
übergeordnet. Dass wir als flüchtiger Zustand aus unserem Gehirn hervorgegangen
sind und mit ihm einfach wieder verschwinden werden; auch diese Naturgewalt soll
noch überwunden werden, sei es durch esoterische oder religiöse Heilsversprechen.
Im ZWEITEN BUCH beginnt Nietzsche seine Entlarvungspsychologie. Da er unsere Unvernunft aus der Macht der Gefühle folgert, kommt er zu dem Schluss: Wir haben umzulernen,- um endlich vielleicht sehr spät, noch mehr zu erreichen: umzufühlen. Den Ursprung aller Moral sieht er in den abscheulichen kleinen Schlüssen, stets von sich auszugehen: was mir schadet, das ist etwas Böses (an sich Schädingendes); was mir nutzt, das ist etwas Gutes (an sich Wohltuendes und Nutzbringendes); was mir einmal oder einige Male schadet, das ist das Feindliche an sich und in sich; was mir einmal oder einige Male nutzt, das ist das Freundliche an sich und in sich. Stets verkennt der Mensch das schlichte Wirken seiner eigenen Natur, so dass seine Handlungen niemals das sind, als was sie ihm erscheinen. Als Reich der Freiheit bleibt uns nur unser Denken: Wir können viel, viel mehr Dinge denken, als tun oder erleben,- das heißt unser Denken ist oberflächlich und zufrieden mit der Oberfläche, ja es merkt sie nicht. Letztlich hat die Lehre von der Freiheit des Willens in Stolz und Machtgefühl ihren Vater und ihre Mutter. Und unser Freiheitsgefühl entsteht nur, weil wir den Kampf der Motive mit der Vergleichung der möglichen Folgen verschiedener Handlungen verwechseln. Eine für die Entwicklung der Moral folgenschwere Verwechslung, wie Nietzsche hervorhebt. Vielleicht basiert das Reich der Zwecke und des Willens letztlich bloß auf dem Reich des Zufalls. Auf diese evolutionstheoretische Perspektive werde ich zurückkommen.
Nachdem Nietzsche ,,Gut`` und ,,Böse``, Freund und Feind auf den
jeweiligen Nutzen oder Schaden für uns zurückgeführt und die Willensfreiheit als
Illusion unseres Machtgefühls entlarvt hat, wendet er sich dem Mitleid zu.
Worum es dabei genau genommen geht, ist, dass wir uns von unserem Gefühl
des Mitleidens zu befreien trachten, wenn wir z.B. aus Mitleid jemandem helfen
oder ihn verachten. Leiden und Mitleiden sind nicht einartig und insofern
vermehrt das Mitleiden das Leiden in der Welt. Schopenhauers Mitleidsethik
hält Nietzsche nur noch für unbegreiflichen Unsinn. Die Theorie der
Mitempfindung gründet auf der ursprünglichen Furchtsamkeit des Menschen.
Daraus hat sich aber unterdessen über das Naturgefühl die Freude an der
Natur entwickelt. Der Wesensgleichheit von Leid und Mitleid ist somit die Basis
entzogen und Schopenhauers Theorie zum Mystizismus degeneriert. Auch die Liebe
hält Nietzsche nicht für unegoistisch. Seine Umschreibung ihrer sexuellen
Grundlage hat Unterhaltungswert: Jener ist hohl und will voll werden, Dieser
ist überfüllt und will sich ausleeren,- Beide treibt es, sich ein Individuum zu
suchen, das ihnen dazu dient. Und diesen Vorgang, im höchsten Sinne verstanden,
nennt man beidemal mit Einem Worte: Liebe,- wie? die Liebe sollte etwas
Unegoistisches sein? Moralische Werte basieren auf Nützlichkeitserwägungen,
der freie Wille ist eine Illusion, das Mitleid vermehrt nur das Leiden auf
der Welt und der Liebe liegt die Sexualität zugrunde. Gibt es also überhaupt keine
moralischen Handlungen? Mit der Ermunterung egoistisch sein zu dürfen,
verliert der Mensch sein böses Gewissen. Und Nietzsche schließt mit
den Worten: Wenn der Mensch sich nicht mehr für böse hält, hört er auf,
es zu sein!
Im DRITTEN BUCH nimmt er sich die erste Aufklärung im antiken Griechenland zum Vorbild und singt ein Loblied auf die zweite im 18. Jahrhundert. Das vorige Jahrhundert ist dem unseren eben dadurch überlegen, dass es in ihm so viele einzeln erzogene Menschen gab, nebst eben so vielen Erziehern, welche hier die Aufgabe ihres Lebens gefunden hatten. Als persönlichste Fragen der Wahrheit gelten ihm: Was ist das eigentlich, was ich tue? Und was will gerade ich damit? Die klassische Bildung ist ihm zu einem Kanon verkommen, der nirgends mehr ein wirkliches Können, ein neues Vermögen als Ergebnis mühseliger Jahre einfordert, sondern ein Wissen darum, was ehemals Menschen gekonnt und vermocht haben! Und in der Romantik haben die Deutschen mit ihrer Feindschaft zur Aufklärung auch noch die Erkenntnis überhaupt unter das Gefühl hinabgedrückt. Also ganz im Sinne Heines wirft er den Deutschen vor, aus Angst vor dem französischen Esprit in die Moral zu flüchten: Der Deutsche versteht sich auf das Geheimnis, mit Geist, Wissen und Gemüht langweilig zu sein, und die Langeweile als moralisch zu empfinden. Des Deutschen Aufenthalt im Himmel der Weimarer Klassik war nur eine Illusion.
Wie in der Bildung so auch in der Politik; wird doch die Politik der Partei über die Weisheit gestellt und in der großen Politik wird die Sprache der Tugend nur im Munde geführt, um dem Bedürfnis des Machgefühls nachzukommen. Schon der Athener Thukydides erkannte im Peloponnesischen Krieg die Machtinteressen der beteiligten Staaten als treibende Kräfte. Nietzsche nimmt ihn sich mit seiner politisch orientierten Geschichte zum Vorbild: Was liebe ich an Thukydides, was macht, dass ich ihn höher ehre, als Plato? Er hat die umfänglichste und unbefangenste Freude an allem Typischen des Menschen und der Ereignisse und findet, dass zu jedem Typus ein Quantum guter Vernunft gehört: diese sucht er zu entdecken. Er hat eine grössere praktische Gerechtigkeit, als Plato; er ist kein Verlästerer und Verkleinerer der Menschen, die ihm nicht gefallen oder die ihm im Leben wehe gethan haben. Im Gegentheil: er sieht etwas Grosses in alle Dinge und Personen hinein und zu ihnen hinzu, indem er nur Typen sieht; was hätte auch die ganze Nachwelt, der er sein Werk weiht, mit dem zu schaffen, was nicht typisch wäre! So kommt in ihm, dem Menschen-Denker, jene Cultur der unbefangensten Weltkenntniss zu einem letzten herrlichen Ausblühen, welche in Sophokles ihren Dichter, in Perikles ihren Staatsmann, in Hippokrates ihren Arzt, in Demokrit ihren Naturforscher hatte: jene Cultur, welche auf den Namen ihrer Lehrer, der Sophisten, getauft zu werden verdient und leider von diesem Augenblicke der Taufe an uns auf einmal blass und unfassbar zu werden beginnt,- denn nun argwöhnen wir, es müsse eine sehr unsittliche Cultur gewesen sein, gegen welche ein Plato mit allen sokratischen Schulen kämpfte!
Die Sophisten als erste Aufklärer über Natur und
Religion werden Nietzsche fortan Vorbild bleiben. Der Skeptizismus des Protagoras
und sein Bezug auf den Menschen, seine Bildung und Erziehung, widersprach allerdings
den reaktionären Kreisen Athens, die ihn anklagten und - zum Tode verurteilten! Noch
über 2000 Jahre später ereilte Bruno das gleiche Schicksal als er sich gegen den
Christo-Faschismus der Inquisition auf die Naturphilosophie der Vorsokratiker berief!
Nietzsche wird das Christentum noch als Platonismus fürs Volk verspotten. Für
Protagoras war der Mensch das Maß aller Dinge, der Seienden, dass sie sind,
der Nichtseienden, dass sie nicht sind; wie es Plato im Theätet überliefert
hat. Ein derartiger Subjektivismus und Relativismus mochte noch angehen; eine Skepsis
in Bezug auf die Götter wurde von der Obrigkeit dagegen nicht toleriert. Stein des
Anstoßes bildete der Beginn seiner Schrift: Von den Göttern, die bei Capelle
zitiert wird: Von den Göttern vermag ich nichts festzustellen, weder, daß es sie
gibt, noch daß es sie nicht gibt, noch was für eine Gestalt sie haben; denn vieles
hindert ein Wissen hierüber: die Dunkelheit der Sache und die Kürze des Lebens.
Schön formuliert war das; leider verstanden die Machthaber keinen Spaß. Die
Dunkelheit der Sache in den Religionen ist bis heute nicht erhellt worden und die
Menschen lassen sich immer noch dazu verleiten, Sinnfragen mit bloßem Unsinn zu beantworten.
Statt dessen sollte man Licht ins Dunkel bringen und die Sache aufzuklären versuchen.
Im VIERTEN BUCH findet Nietzsche eine schöne Umschreibung für sein Abenteuern im Geiste: Die Gesellschaft der Denker lässt wieder den Ideenozean seiner Jugend anklingen: Inmitten des Ozeans des Werdens wachen wir auf einem Inselchen, das nicht grösser als ein Nachen ist, auf, wir Abenteuerer und Wandervögel, und sehen uns hier eine kleine Weile um: so eilig und so neugierig wie möglich, denn wie schnell kann uns ein Wind verwehen oder eine Welle über das Inselchen hinwegspülen, sodass Nichts mehr von uns da ist! Aber hier, auf diesem kleinen Raume, finden wir andere Wandervögel und hören von früheren,- und so leben wir eine köstliche Minute der Erkenntniss und des Errathens, unter fröhlichem Flügelschlagen und Gezwitscher mit einander und abenteuern im Geiste hinaus auf den Ozean, nicht weniger stolz als er selber!
Die Gesellschaft der Denker hat keine Gastfreundschaft mehr nötig; denn der Sinn in den Gebräuchen der Gastfreundschaft ist: das Feindliche im Fremden zu lähmen. Wo man im Fremden nicht mehr zunächst den Feind empfindet, nimmt die Gastfreundschaft ab; sie blüht, so lange ihre böse Voraussetzung blüht. Die Zivilisierung der archaischen Kulturen bestätigt diese Einsicht. Ein Don Juan der Erkenntnis hängt nicht an den Dingen und meidet die Völlerei; ihm geht es um das Abenteuern im Geiste, um den Genuss an der Jagd der Erkenntnis: Eine Fabel.- Der Don Juan der Erkenntniss: er ist noch von keinem Philosophen und Dichter entdeckt worden. Ihm fehlt die Liebe zu den Dingen, welche er erkennt, aber er hat Geist, Kitzel und Genuss an Jagd und Intriguen der Erkenntniss - bis an die höchsten und fernsten Sterne der Erkenntniss hinauf!- bis ihm zuletzt Nichts mehr zu erjagen übrig bleibt, als das absolut Wehethuende der Erkenntniss, gleich dem Trinker, der am Ende Absinth und Scheidewasser trinkt. So gelüstet es ihn am Ende nach der Hölle,- es ist die letzte Erkenntniss, die ihn verführt. Vielleicht, dass auch sie ihn enttäuscht, wie alles Erkannte! Und dann müsste er in alle Ewigkeit stehen bleiben, an die Enttäuschung festgenagelt und selber zum steinernen Gast geworden, mit einem Verlangen nach einer Abendmahlzeit der Erkenntniss, die ihm nie mehr zu Theil wird!- denn die ganze Welt der Dinge hat diesem Hungrigen keinen Bissen mehr zu reichen. Die experimentalphilosophischen Bezüge dieses Fabelentwurfs sind vielfältig: So wird auf Platos Symposion, die Bibel, Pascals divertissement, Mozarts Don Giovanni und Stendals De l'amor angespielt, wie im Handbuch hervorgehoben wird.
Bereits Plato lässt Sokrates als einen Erkenntnis-Erotiker der Idee des Schönen
teilhaftig werden. Im Ideenhimmel droht allerdings der Hungertod. Und so findet man
idealistische Theorien am sichersten bei den unbedenklichen Praktikern; denn sie
brauchen deren Lichtglanz für ihren Ruf, lästert Nietzsche und fährt streitlustig fort:
Worauf phantastische Ideale rathen lassen.- Dort, wo unsere Mängel liegen, ergeht
sich unsere Schwärmerei. Den schwärmerischen Satz ,,liebet eure Feinde!`` haben
Juden erfinden müssen, die besten Hasser, die es gegeben hat, und die schönste
Verherrlichung der Keuschheit ist von Solchen gedichtet worden, die in ihrer Jugend
wüst und abscheulich gelebt haben. Wer sich zur strengsten Theorie der Moral bekennt,
dem sieht man viele Schwächen nach. Dagegen hat man das Leben der freigeistischen
Moralisten immer unter das Mikroskop gestellt: mit dem Hintergedanken, dass ein Fehltritt
des Lebens das sicherste Argument gegen eine unwillkommene Erkenntniss sei. Ausnahmen
bestätigen die Regel;- jedoch nur, wenn sie das eigene Machtgefühl steigern, könnte man
mit Voltaire ergänzen. Andernfalls wird in dümmlicher Weise mit der Ausnahme gegen die Regel
argumentiert: als ob es empirisches Wissen ohne Ausnahmen gäbe! Aber mit der Wichtigtuerei bei der
Behandlung von Ausnahmen lässt sich leicht Geld verdienen. Ist das Denken dem Machtgefühl gewachsen?
Kann es die Redlichkeit mit der Macht aufnehmen? Mit seinem Anspruch an die Redlichkeit
des Denkens nimmt Nietzsche jedenfalls eine Maxime des kritischen Rationalismus vorweg:
Inwiefern der Denker seinen Feind liebt.- Nie Etwas zurückhalten oder dir verschweigen,
was gegen deinen Gedanken gedacht werden kann! Gelobe es dir! Es gehört zur ersten Redlichkeit
des Denkens. Du musst jeden Tag auch deinen Feldzug gegen dich selber führen. Ein Sieg und
eine eroberte Schanze sind nicht mehr deine Angelegenheit, sondern die der Wahrheit,-
aber auch deine Niederlage ist nicht mehr deine Angelegenheit! Liebe deine Feinde um des
Erkenntinsfortschritts willen! Verwerfe Theorien, die nicht widerlegbar sind!
Das FÜNFTE BUCH beginnt Nietzsche Im grossen Schweigen. Im Angesicht des schweigenden Meeres wird ihm das Sprechen, ja das Denken verhasst: Höre ich denn nicht hinter jedem Worte den Irrthum, die Einbildung, den Wahngeist lachen? Muss ich nicht meines Mitleidens spotten? Meines Spottes spotten?- Oh Meer! Oh Abend! Ihr seid schlimme Lehrmeister! Ihr lehrt den Menschen aufhören, Mensch zu sein! Soll er sich euch hingeben? Soll er werden, wie ihr es jetzt seid, bleich, glänzend, stumm, ungeheuer, über sich selber ruhend? Über sich selber erhaben? Der Mensch erwächst der Natur und geht wieder in sie über. Dieses Gefühl der Naturverbundenheit ist auch eines der existentiellen Gefährdung, das einen veranlassen kann, ins Meer hineinzugehen: dem Schwindel am Abgrund gleich.
Unser Trieb zur Erkenntins ist eine Leidenschaft, die uns vielleicht zu unglücklich Liebenden macht: Die Erkenntniss hat sich in uns zur Leidenschaft verwandelt, die vor keinem Opfer erschrickt und im Grunde Nichts fürchtet, als ihr eigenes Erlöschen; wir glauben aufrichtig, dass die gesammte Menschheit unter dem Drange und Leiden dieser Leidenschaft sich erhabener und getrösteter glauben müsste als bisher, wo sie den Neid auf das gröbere Behagen, das im Gefolge der Barbarei kommt, noch nicht überwunden hat. Neben dem Schicksal Don Juans nimmt Nietzsche auch das Thema des redlichen Denkens wieder auf: Um zu messen, wie fein oder wie schwachsinnig von Natur auch die gescheitesten Köpfe sind, gebe man darauf Acht, wie sie die Meinungen ihrer Gegner auffassen und wiedergeben: dabei verräth sich das natürliche Maass jedes Intellectes. Ebenso kehrt das Motiv des Wanderns und Seefahrens wieder: Wir Forscher sind wie alle Eroberer, Entdecker, Schifffahrer, Abenteuerer von einer verwegenen Moralität und müssen es uns gefallen lassen, im Ganzen für böse zu gelten. Das Schönste am Forschen ist dabei das Schauspiel jener Kraft, welche ein Genie nicht auf Werke, sondern auf sich als Werk verwendet, das heisst auf seine eigene Bändigung, auf Reinigung seiner Phantasie, auf Ordnung und Auswahl im Zuströmen von Aufgaben und Einfällen.
Die Morgenröte klingt aus, indem sie sich gleichsam in der hellen Luft des Morgens
verflüchtigt: Wir Luftschifffahrer des Geistes, so nimmt Nietzsche den Flug mit den Vögeln
über das Meer auf und fragt sich dabei: Wohin wollen wir denn? Wollen wir denn über
das Meer? Wohin reisst uns dieses mächtige Gelüste, das uns mehr gilt als irgend eine Lust?
Warum doch gerade in dieser Richtung, dorthin, wo bisher alle Sonnen der Menschheit untergegangen
sind? Wird man vielleicht uns einstmals nachsagen, dass auch wir, nach Westen steuernd, ein Indien
zu erreichen hofften,- dass aber unser Loos war, an der Unendlichkeit zu scheitern? Oder,
meine Brüder? Oder?- Im Handbuch wird die ,,Indien-Fahrt`` als Metapher
des Wiederkunftsgedankens gedeutet; da sich West und Ost, Sonnenuntergang und Sonnenaufgang,
Tod und Leben zur Kreisfigur zusammenschließen. Der erhabenen Schwere dieses Gedankens möchte ich
zum Ausgleich die heitere Leichtigkeit der Seraphine Heines entgegensetzen:
Das Fräulein stand am Meere
Und seufzte lang und bang,
Es rührte sie so sehre
Der Sonnenuntergang.
Mein Fräulein! Sein sie munter,
Das ist ein altes Stück;
Hier vorne geht sie unter
Und kehrt von hinten zurück.