Als ob Nietzsche sein nahes Ende ahnte, ist das Jahr 1888 von zunehmender Produktivität
geprägt. Safranski zufolge entwickeln die veröffentlichten Spätwerke aber keinen neuen
Gedanken mehr; sie umkreisen verstärkt Nietzsches Selbst und seine Stilisierungen als
Zarathustra oder Dionysos. Ende Dez. schließt er seine Autobiographie Ecce Homo
ab: Ich habe die Frage, wer ich bin, mit der Schrift, Ecce Homo, für die nächste
Ewigkeit ad acta gelegt. Man soll sich fürderhin nie um mich bekümmern, sondern um die Dinge,
derentwegen ich da bin. Seine Wirtin sieht ihn nackt in seinem Zimmer tanzen und
Anfang Jan. 1889 umarmt er mitleidsvoll ein Droschkenpferd, um es vor den Schlägen des
Kutschers zu schützen. Am Ende verschickt der selbsternannte ,,Gott`` sogenannte
,,Wahnsinnsbriefe``: Jacob Burchhardt erhält folgende Zeilen: Zuletzt wäre ich
sehr viel lieber Basler Professor als Gott, aber ich habe es nicht gewagt, meinen Privat-Egoismus
so weit zu treiben, um seinetwegen die Schaffung der Welt zu unterlassen. Sie sehen, man muß Opfer
bringen, wie und wo man lebt. In Manhattan wird Allen diese Verstiegenheit unterhaltsam
parodieren. Nietzsche fällt kurz darauf der fortschreitenden Paralyse zum Opfer und wird in eine
Nervenheilanstalt nach Jena gebracht. Im Mai 1890 nimmt ihn seine Mutter nach Naumburg in ihre
Pflege. Nach ihrem Tod 1897 wird Friedrich von seiner Schwester in die
Villa Silberblick
nach Weimar verlegt, wo er am 25. Aug. 1900 stirbt.
Und so erzähle ich mir mein Leben, schreibt der noch euphorische Jünger des Philosophen Dionysos am 15. Okt. 1888, seinem 44. Geburtstag, in das Manuskript seines gerade begonnenen Ecce Homo: Wie man wird, was man ist. Die ersten Abschnitte seiner Schrift verhehlen kaum eine gewisse Überheblichkeit: Warum ich so weise bin. Warum ich so klug bin. Warum ich so gute Bücher schreibe. Nach einem Überblick über seine Werke endet Zarathustra mit dem Bekenntnis: Warum ich ein Schicksal bin. Damit schließt sich gleichsam ein Kreis, den der Jüngling einst mit Fatum und Geschichte begonnen hatte. Nietzsche beginnt seine Autobiographie mit der Einsicht: Das Glück meines Daseins, seine Einzigkeit vielleicht, liegt in seinem Verhängniss: ich bin, um es in Räthselform auszudrücken, als mein Vater bereits gestorben, als meine Mutter lebe ich noch und werde alt. Diese Klage über den frühen Tod seines Vaters und das lange Leben seiner Mutter spitzt er als Einwand gegen seinen ,,Wiederkunftsgedanken`` zu: Ich bekenne, dass der tiefste Einwand gegen die ,,ewige Wiederkunft``, mein eigentlich abgründlicher Gedanke, immer Mutter und Schwester sind. Nach dieser Herabsetzung von Mutter und Schwester idealisiert er den Vater: Julius Cäsar könnte mein Vater sein - oder Alexander, dieser leibhafte Dionysos. Seine gleichsam doppelte Herkunft aus der obersten und untersten Sprosse an der Leiter des Lebens hat ihm eine besondere Sensibilität verliehen: Ich habe für die Zeichen von Aufgang und Niedergang eine feinere Witterung als je ein Mensch gehabt hat. Auch den häufigen Wechsel von Gesundheit und Krankheit in seinem Leben sieht er rückblickend als Geschenk, wobei sich gerade im Ausklang des Leidens alles in ihm verfeinerte: Der Instinkt der Selbst-Wiederherstellung verbot mir eine Philosophie der Armuth und Entmuthigung ... Und woran erkennt man im Grunde die Wohlgerathenheit! Dass ein wohlgerathner Mensch unsern Sinnen wohlthut: dass er aus einem Holze geschnitzt ist, das hart, zart und wohlriechend zugleich ist. Mit Wohlgerathenheit bestimmt Nietzsche auch den ,,Übermenschen`` näher und verwendet das Wort ,,Übermensch`` zur Bezeichnung eines Typus höchster Wohlgerathenheit, im Gegensatz zu ,,modernen`` Menschen, zu ,,guten`` Menschen, zu Christen und andren Nihilisten.
Als Krankheitsgewinn erscheint bei Nietzsche nunmehr auch der Ansatz seiner Moralkritik: Die Freiheit vom Ressentiment, die Aufklärung über das Ressentiment - wer weiss, wie sehr ich zuletzt auch darin meiner langen Krankheit zu Dank verpflichtet bin! Denn mit nichts brennt man rascher ab, als mit den Ressentiment-Affekten. Ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber den sogenannten ,,selbstlosen`` Affekten, wie der Nächstenliebe und dem Mitleiden, prägen sich ihm ein, ja, ,,einverleibt`` er sich geradezu. Dabei hat ihn die Forderung nach Härte und Reinheit bei sich und anderen zu einem nicht gerade umgänglichen Zeitgenossen gemacht: Meine Humanität besteht nicht darin, mitzufühlen, wie der Mensch ist, sondern es auszuhalten, dass ich ihn mitfühle ... Meine Humanität ist eine beständige Selbstüberwindung.- Für eine Genesung und Rückkehr zu sich selbst, hat er Einsamkeit nötig: Mein ganzer Zarathustra ist ein Dithyrambus auf die Einsamkeit, oder, wenn man mich verstanden hat, auf die Reinheit ... Zum Glück nicht auf die reine Thorheit.- Wer Augen für Farben hat, wird ihn diamanten nennen.- Der Ekel am Menschen, am ,,Gesindel`` war immer meine grösste Gefahr ... Und so hütete er sich davor, gegen den Wind zu speien.
Eine doppelte Herausforderung aus Höherem und Niederem, Gesundheit und Krankheit hat ihn weise gemacht. Klug ist er geworden, weil er sich nicht verschwendet und in seiner ,,Bildung`` nicht die ,,Realitäten`` aus den Augen verloren hat. Die Fragen der Ernährung, des Wohnortes und des Klimas sind ihm stets wichtig gewesen; denn alle Vorurtheile kommen aus den Eingeweiden. Gegenüber dem deutschen Idealismus und dem Kulturverfall in der Reichseinheit schätzt Nietzsche die französische Bildung, die spottende Dichtung Heinrich Heines und die herzzerreißende Dramaturgie Shakespeares.
Wie man wird, was man ist; dieser Frage stellt sich Nietzsche mit grosser Besinnung und rekapituliert den Weg seines Umlernens: Das, was die Menschheit bisher ernsthaft erwogen hat, sind nicht einmal Realitäten, blosse Einbildungen, strenger geredet, Lügen aus den schlechten Instinkten kranker, im tiefsten Sinne schädlicher Naturen heraus alle die Begriffe ,,Gott``, ,,Seele``, ,,Tugend``, ,,Sünde``, ,,Jenseits``, ,,Wahrheit``, ,,ewiges Leben`` ... Aber man hat die Grösse der menschlichen Natur, ihre ,,Göttlichkeit`` in ihnen gesucht. Um die vorurteilsfreie Anerkennung der Realitäten in der menschlichen Natur geht es Nietzsche, indem er sogar mit Liebe sein Schicksal anzunehmen weiß: Meine Formel für die Grösse am Menschen ist amor fati: dass man Nichts anders haben will, vorwärts nicht, rückwärts nicht, in alle Ewigkeit nicht. Das Nothwendige nicht bloss ertragen, noch weniger verhehlen - aller Idealismus ist Verlogenheit vor dem Nothwendigen -, sondern es lieben ... In diesem Sinne ist es dem Neo-Kyniker auch wichtig, einen Satz gegen das Laster mitzuteilen: ,,die Predigt der Keuschheit ist eine öffentliche Aufreizung zur Widernatur. Jede Verachtung des geschlechtlichen Lebens, jede Verunreinigung desselben durch den Begriff ,,unrein`` ist das Verbrechen selbst am Leben,- ist die eigentliche Sünde wider den heiligen Geist des Lebens.``- In der westlichen Zivilisation sollte die Verachtung des geschlechtlichen Lebens erst mit der Kulturrevolution in den swinging sixties überwunden werden. Die Filme Allens werden es zu einem Dauerthema seines anarchischen Humors machen.
Warum ich ein Schicksal bin, überschreibt Nietzsche den letzten Abschnitt seiner Lebenserinnerungen: Ich kenne mein Loos. Es wird sich einmal an meinen Namen die Erinnerung an etwas Ungeheures anknüpfen,- an eine Krisis, wie es keine auf Erden gab, an die tiefste Gewissens-Collision, an eine Entscheidung heraufbeschworen gegen Alles, was bis dahin geglaubt, gefordert, geheiligt worden war. Ich bin kein Mensch, ich bin Dynamit.- Und mit Alledem ist Nichts in mir von einem Religionsstifter - Religionen sind Pöbel-Affairen, ich habe nöthig, mir die Hände nach der Berührung mit religiösen Menschen zu waschen ... Ich will keine ,,Gläubigen``, ich denke, ich bin zu boshaft dazu, um an mich selbst zu glauben, ich rede niemals zu Massen ... Ich habe eine erschreckliche Angst davor, dass man mich eines Tags heilig spricht: man wird errathen, weshalb ich dies Buch vorher herausgebe, es soll verhüten, dass man Unfug mit mir treibt ... Ich will kein Heiliger sein, lieber noch ein Hanswurst. Gegen die Pöbel-Affairen der Religionen fordert der Hanswurst die Umwerthung aller Werte und stilisiert sich dabei als froher Botschafter und erster Immoralist in der Figur Zarathustras: Die Selbstüberwindung der Moral aus Wahrhaftigkeit, die Selbstüberwindung des Moralisten in seinen Gegensatz - in mich - das bedeutet in meinem Munde der Name Zarathustra. Es war der Perser Zarathustra, der die Moral von ,,Gut`` und ,,Böse`` ins Metaphysische überhöhte - und so ist es gerade sein ,,Wiedergänger``, der diesen verhängnisvollsten Irrthum erkennt und überwindet. Die frohe Botschaft dabei ist, dass vielleicht nicht die ganze Menschheit, sondern nur ihre Priesterkaste ,,entartet`` sei: Die Entselbstungs-Moral ist die Niedergangs-Moral par excellence, die Thatsache ,,ich gehe zu Grunde``, in den Imperativ übersetzt: ,,ihr sollt alle zu Grunde gehn`` - und nicht nur in den Imperativ! ... Diese einzige Moral, die bisher gelehrt worden ist, die Entselbstungs-Moral, verräth einen Willen zum Ende, sie verneint im untersten Grunde das Leben.- Hier bliebe die Möglichkeit offen, dass nicht die Menschheit in Entartung sei, sondern nur jene parasitische Art Mensch, die des Priesters, die mit der Moral sich zu ihren Werth-Bestimmern emporgelogen hat,- die in der christlichen Moral ihr Mittel zur Macht errieth ... Nietzsche beendet seinen Ecce Homo mit dem Gegensatz von Lebensfreude und Entsagung: Dionysos gegen den Gekreuzigten ...
Die Gegenüberstellung von Dionysos und dem Gekreuzigten kann als charakteristisch für das ganze
Leben Nietzsches angesehen werden. Freuden sind nicht ohne Leiden zu haben und Lust ist stets mit
Unlust verbunden; beide Extreme hängen untrennbar miteinander zusammen, sind einartig oder
zwei Seiten einer Medaille: Die Welt ist verklärt, denn Gott ist auf der Erde. Sehen Sie
nicht, wie alle Himmel sich freuen? Ich habe eben Besitz ergriffen von meinem Reich, werfe den Papst
ins Gefängnis und lasse Wilhelm, Bismarck und Stöcker erschießen.- Der Gekreuzigte ... Diesen
,,Wahnsinnsbrief`` schreibt Nietzsche am 3. Jan. 1889 an Meta von Salis-Marschlins. Nietzsches
Euphorie seines letzten Schaffensjahres ist im Wahn fortschreitender Paralyse untergegangen. Und am
Schluss endet er als ,,Ausstellungsstück`` in der Devotionalien-Sammlung seiner Schwester, die
ihn nunmehr ganz unter ihre Gewalt gebracht hat: Sie wollte aus Nietzsche einen deutsch-nationalen
Chauvinisten, Rassisten und Militaristen machen, und bei einem Teil des Publikums, besonders bei den
orthodoxen Marxisten, ist ihr das gelungen, bis zum heutigen Tage, gibt Safranski zu bedenken. Friedrich
hat zeitlebens unter Mutter und Schwester gelitten und am Ende pflegen sie ihn ,,aufopferungsvoll``
bis in den Tod. Der vom ,,Entlarvungspsychologen`` in der ,,Selbstlosigkeit`` enttarnte
Egoismus und Wille zur Macht wird besonders in der perfiden deutsch-nationalen bis
antisemitisch-faschistischen Vermarktungsstrategie Elisabeth Nietzsches deutlich.
Der dumpfe Hass, den Friedrich gegen Mutter und Schwester hegte, aber nie offen austrug, mag wesentlich zu seinen gelegentlichen Ausfällen gegen die Frauen insgesamt beigetragen haben. Aus der Frauenherrschaft seiner Kindheit hat er sich nie befreien können. Schon als Jungendlicher ist ihm die Macht der Gewohnheit und der Erziehung gänzlich bewusst geworden, wenn er in Fatum und Geschichte schreibt: Von unsern ersten Tagen an eingeengt in das Joch der Gewohnheit und der Vorurtheile, durch die Eindrücke unsrer Kindheit in der natürlichen Entwicklung unsers Geistes gehemmt und in der Bildung unsres Temperaments bestimmt, glauben wir es fast als Vergehn betrachten zu müssen, wenn wir einen freieren Standpunkt wählen, um von da aus ein unparteiisches und der Zeit angemessenes Urtheil über Religion und Christentum fällen zu können.
Konträr zu seinem immer wieder stilisierten Einsamkeits-Heroismus hat Friedrich in seinem Leben nicht nur mehrere langjährige Freunde gehabt, sondern auch häufigen Umgang mit Damen gepflegt; allerdings nicht in leiblich-erotischer, sondern nur in verbal-intellektueller Weise. Frauen, die ihm nachstellten, verschmähte er, und Damen, denen er Heiratsanträge machte, lehnten sie ab. Und so ist wohl abschließend dem Urteil Hedwig Dohms beizupflichten: Dieser keusche, frauenfremde Mann, der sicher nie die kleinste weibliche Tigerkralle an seinem eigenen Leibe gespürt, nie erfahren hat, wie diese raubthierartigen Kreaturen, gleich der Tragödie ,,entzücken, indem sie zerreißen``. Vielleicht hat er gerade deshalb von ihnen geträumt, wie der heilige Antonius von den verführerischen Teuflinnen: Haluzinationen einer zu großen Enthaltsamkeit.