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Jenseits von Gut und Böse

Der lyrisch-prosaischen Dichtung Zarathustra lässt Nietzsche 1886 Jenseits von Gut und Böse folgen, sein Vorspiel einer Philosophie der Zukunft. Das wieder aphoristisch stilisierte Vorspiel kann gleichsam als philosophische Untermauerung der prophetischen Dichtung angesehen werden. Das Buch ist in neun Hauptstücke gegliedert, die eine Vorrede einleitet und ein Nachgesang ausklingen lässt:

Jenseits von Gut und Böse

Vorspiel einer Philosophie der Zukunft.

Vorrede

1. Hauptstück: Von den Vorurtheilen der Philosophen

2. Hauptstück: Der freie Geist

3. Hauptstück: Das religiöse Wesen.

4. Hauptstück: Sprüche und Zwischenspiele.

5. Hauptstück: Zur Naturgeschichte der Moral.

6. Hauptstück: Wir Gelehrten.

7. Hauptstück: Unsere Tugenden.

8. Hauptstück: Völker und Vaterländer.

9. Hauptstück: was ist vornehm?

Nachgesang

In der VORREDE unterscheidet Nietzsche drei Hauptrichtungen seiner Kritik an den Dogmatikern der Metaphysik: die historische, die sprachanalytische und die psychologische:- irgend ein Volks-Aberglaube aus unvordenklicher Zeit (wie der Seelen-Aberglaube, der als Subjekt- und Ich-Aberglaube auch heute noch nicht aufgehört hat, Unfug zu stiften), irgend ein Wortspiel vielleicht, eine Verführung von Seiten der Grammatik her oder eine verwegene Verallgemeinerung von sehr engen, sehr persönlichen, sehr menschlich-allzumenschlichen Thatsachen. Für den schlimmsten aller Dogmatiker-Irrtümer gilt ihm Platos Erfindung vom reinen Geiste und vom Guten an sich. Plato verkenne das Perspektivische, die Grundbedingung alles Lebens. Ein Neo-Kyniker gewinnt dem Kampf gegen Plato aber auch heitere Seiten ab: der Kampf gegen Plato, oder, um es verständlicher und für's ,,Volk`` zu sagen, der Kampf gegen den christlich-kirchlichen Druck von Jahrtausenden - denn Christenthum ist Platonismus für's ,,Volk`` - hat in Europa eine prachtvolle Spannung des Geistes geschaffen. Als freien, sehr freien Geist versteht Nietzsche sich zum Abschluss der Vorrede ausdrücklich als einen guten Europäer.

Neben einer Einführung in die Hintergründe des Zarathustra war das Vorspiel einer Philosophie der Zukunft auch als Hinführung zu seinem geplanten Hauptwerk Der Wille zur Macht gedacht. Dieser Versuch einer Umwerthung aller Werthe wurde aber erst 1906 aus dem Nachlass veröffentlicht.

Das ERSTE HAUPTSTÜCK des Vorspiels handelt Von den Vorurtheilen der Philosophen. Als Grundglaube der Metaphysiker gilt Nietzsche der Glaube an die Gegensätze der Werthe. Für jenen, der sich jenseits von Gut und Böse stellt, gehören Irrtum, Täuschung, Eigennutz, Begehren zur Lebensbedingung.- Die bisherigen großen Philosophien sind lediglich Selbstbekenntnisse ihrer Urheber gewesen: es ist endlich an der Zeit, die Kantische Frage ,,Wie sind synthetische Urtheile a priori möglich?`` durch eine andre Frage zu ersetzen ,,warum ist der Glaube an solche Urtheile nöthig?`` Den Willen Schopenhauers, das Ding an sich Kants, die unmittelbare Gewissheit oder die absolute Erkenntnis, all das hält Nietzsche für eine Verführung der Worte und fordert eine Philosophie der Grammatik. Auch beim Selbsterhaltungstrieb handelt es sich nicht um ein Grundprinzip, sondern bloß um eine Folge des Willens zur Macht im Leben; denn Leben selbst ist Wille zur Macht. Einer Philosophie der Grammatik fiele auch die ,,Freiheit des Willens`` und die ,,Gesetzmäßigkeit der Natur`` zum Opfer. Schließlich ist für Nietzsche noch die gesamte Psychologie als Morphologie und Entwicklungslehre des Willens zur Macht zu fassen!

Im ZWEITEN HAUPTSTÜCK stilisiert Nietzsche sich als Der freie Geist. Den lebt er zunächst isoliert und einsam aus: Jeder auserlesene Mensch trachtet instinktiv nach seiner Burg und Heimlichkeit, wo er von der Menge, den Vielen, den Allermeisten erlöst ist, wo er die Regel ,,Mensch`` vergessen darf, als deren Ausnahme. So ein Eigenbrötler fühlt sich auch nicht mehr von Freunden verstanden: so thut man gut, ihnen von vornherein einen Spielraum und Tummelplatz des Missverständnisses zuzugestehn:- so hat man noch, zu lachen;- oder sie ganz abzuschaffen, diese guten Freunde,- und auch zu lachen! Lachend rechnet sich der freie Geist zu den Immoralisten, der die Absichten-Moral als Vorurteil entlarvt hat und bekennt: Es hilft nichts: man muss die Gefühle der Hingebung, der Aufopferung für den Nächsten, die ganze Selbstentäusserungs-Moral erbarmungslos zur Rede stellen und vor Gericht führen: ebenso wie die Aesthetik der ,,interesselosen Anschauung``. Als real ,,gegeben`` setzt er einzig unsre Welt der Begierden und Leidenschaften und entwickelt daraus erneut seinen Grundsatz des Willens zur Macht: Gesetzt endlich, dass es gelänge, unser gesammtes Triebleben als die Ausgestaltung und Verzweigung Einer Grundform des Willens zu erklären - nämlich des Willens zur Macht, wie es mein Satz ist -; gesetzt, dass man alle organischen Funktionen auf diesen Willen zur Macht zurückführen könnte und in ihm auch die Lösung des Problems der Zeugung und Ernährung - es ist Ein Problem - fände, so hätte man damit sich das Recht verschafft, alle wirkende Kraft eindeutig zu bestimmen als: Wille zur Macht. Die Welt von innen gesehen, die Welt auf ihren ,,intelligiblen Charakter`` hin bestimmt und bezeichnet - sie wäre eben ,,Wille zur Macht`` und nichts ausserdem.- Hinter der Maske des ,,Immoralisten`` verlacht der Machtphilosoph die lieblichen ,,Idealisten`` und erkühnt sich, eine neue Gattung Philosophen als Versucher zu bezeichnen, die als sehr freie Geister und Freunde der Einsamkeit die Philosophen der Zukunft sein sollten.

Das DRITTE HAUPTSTÜCK behandelt Das religiöse Wesen und findet es in der religiösen Neurose beheimatet: Wo nur auf Erden bisher die religiöse Neurose aufgetreten ist, finden wir sie verknüpft mit drei gefährlichen Diät-Verordnungen: Einsamkeit, Fasten und geschlechtlicher Enthaltsamkeit,- doch ohne dass hier mit Sicherheit zu entscheiden wäre, was da Ursache, was Wirkung sei, und ob hier überhaupt ein Verhältniss von Ursache und Wirkung vorliege. Der alten Religion begegnet die neuere Philosophie mit erkenntnistheoretischer Skepsis: Ehemals nämlich glaubte man an ,,die Seele``, wie man an die Grammatik und das grammatische Subjekt glaubte: man sagte, ,,Ich`` ist Bedingung, ,,denke`` ist Prädikat und bedingt - Denken ist eine Thätigkeit, zu der ein Subjekt als Ursache gedacht werden muss. Nun versuchte man, mit einer bewunderungswürdigen Zähigkeit und List, ob man nicht aus diesem Netze heraus könne,- ob nicht vielleicht das Umgekehrte wahr sei: ,,denke`` Bedingung, ,,Ich`` bedingt; ,,Ich`` also erst eine Synthese, welche durch das Denken selbst gemacht wird. Die alte Religion war lebensverneinend und grausam. Erst wurden dem ,,Gotte`` Menschen, dann des Menschen Natur und endlich für das ,,Nichts Gott`` geopfert. Jenseits von Gut und Böse scheint der neuen Philosophie dagegen das umgekehrte Ideal auf: das Ideal des übermüthigsten lebendigsten und weltbejahendsten Menschen;- kurz ein ewiges Kind!

Der Philosoph, wie ihn freie Geister verstehen, wird sich der Religion zu seinem Züchtungs- und Erziehungswerke bedienen; denn den allermeisten Menschen, welche zum Dienen und allgemeinen Nutzen da sind und nur insofern da sein dürfen, giebt die Religion eine unschätzbare Genügsamkeit mit ihrer Lage und Art, vielfachen Frieden des Herzens, eine Veredelung des Gehorsams, ein Glück und Leid mehr mit Ihres-Gleichen und Etwas von Verklärung und Verschönerung, Etwas von Rechtfertigung des ganzen Alltags, der ganzen Niedrigkeit, der ganzen Halbthier-Armuth ihrer Seele. Und hinter der Maske des Rassisten macht sich der spottlustige Neo-Kyniker auch noch über die Komödie des europäischen Christentums lustig; denn ohne philosophische Anleitung haben die Christen mit ihrem Züchtungs- und Erziehungsprogramm aus dem heldenhaften Griechentum der Antike nur eine sublime Mißgeburt des Menschen gemacht, bis endlich eine verkleinerte, fast lächerliche Art, ein Heerdenthier, etwas Gutwilliges, Kränkliches und Mittelmässiges, herangezüchtet ist, der heutige Europäer ... Wer denkt nach dieser Karikatur des modernen Europäers als eines Herdentiers nicht an die Satire Heinrich Manns vom Untertan?

Im VIERTEN HAUPTSTÜCK lässt Nietzsche dem maskierten Ernst im religiösen Wesen heitere Sprüche und Zwischenspiele folgen. Ich beschränke mich auf eine Auswahl:

Wer von Grund aus Lehrer ist, nimmt alle Dinge nur in Bezug auf seine Schüler ernst,- sogar sich selbst.

Die Liebe zu Einem ist eine Barbarei: denn sie wird auf Unkosten aller Übrigen ausgeübt. Auch die Liebe zu Gott.

,,Das habe ich gethan`` sagt mein Gedächtniss. Das kann ich nicht gethan haben - sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich - giebt das Gedächtniss nach.

Unter friedlichen Umständen fällt der kriegerische Mensch über sich selber her.

Wenn der Entschluss einmal gefasst ist, das Ohr auch für den besten Gegengrund zu schliessen: Zeichen des starken Charakters. Also ein gelegentlicher Wille zur Dummheit.

Es giebt gar keine moralischen Phänomene, sondern nur eine moralische Ausdeutung von Phänomenen ...

Die Advokaten eines Verbrechers sind selten Artisten genug, um das schöne Schreckliche der That zu Gunsten ihres Thäters zu wenden.

Ein Volk ist der Umschweif der Natur, um zu sechs, sieben grossen Männern zu kommen.- Ja: und um dann um sie herum zu kommen.

Von den Sinnen her kommt erst alle Glaubwürdigkeit, alles gute Gewissen, aller Augenschein der Wahrheit.

Der Einwand, der Seitensprung, das fröhliche Misstrauen, die Spottlust sind Anzeichen der Gesundheit: alles Unbedingte gehört in die Pathologie.

Der Irrsinn ist bei Einzelnen etwas Seltenes,- aber bei Gruppen, Parteien, Völkern, Zeiten die Regel.

Mitleiden wirkt an einem Menschen der Erkenntniss beinahe zum Lachen, wie zarte Hände an einem Cyklopen.

Man liebt zuletzt seine Begierde, und nicht das Begehrte.

,,Er missfällt mir.`` - Warum? - ,,Ich bin ihm nicht gewachsen.`` - Hat je ein Mensch so geantwortet?

Das FÜNFTE HAUPTSTÜCK ist ein Beitrag Zur Naturgeschichte der Moral. Zu Beginn zitiert Nietzsche den eigentlichen Grundsatz der Ethiker: Verletze niemanden, sondern hilf allen, soviel du kannst. In einer Welt, deren Essenz Wille zur Macht ist, hält er ihn allerdings für abgeschmackt-falsch und sentimental. Ethik und Moral konfrontiert er lieber mit Vernunft und Natur: Jede Moral ist ein Stück Tyrannei gegen die ,,Natur``, auch gegen die ,,Vernunft``. Die Glücksversprechen der Moralen hält der Neo-Kyniker demgemäß für Verhaltensvorschläge im Verhältnis zum Grade der Gefährlichkeit, in welcher die einzelne Person mit sich selbst lebt; Recepte gegen ihre Leidenschaften, ihre guten und schlimmen Hänge, so fern sie den Willen zur Macht haben und den Herrn spielen möchten. Der Wille zur Macht beherrscht Herr und Sklave gleichermaßen. Historisch gesehen, beginnt mit dem jüdischen Volk der Sklaven-Aufstand in der Moral. Die ursprüngliche Herden-Nützlichkeit der Moral kannte noch keine ,,Nächstenliebe``, sondern nur Herden-Furchtsamkeit; und alles, was den Einzelnen über die Heerde hinaushebt und dem Nächsten Furcht macht, heisst von nun an böse; die billige, bescheidene, sich einordnende, gleichsetzende Gesinnung, das Mittelmaass der Begierden kommt zu moralischen Namen und Ehren. Da die demokratische Bewegung die Erbschaft der christlichen angetreten hat, gilt Nietzsche der Satz: Moral ist heute in Europa Herdentier-Moral. Den neuen Philosophen fällt damit die Aufgabe zu, dieser Vermittelmässigung und Werth-Erniedrigung des Menschen, seiner Verthierung zum Zwergthiere der gleichen Rechte und Ansprüche, entgegenzuwirken.

Das SECHSTE HAUPTSTÜCK unter dem Titel Wir Gelehrten hebt an mit - Moralisieren! Nietzsche behagt nicht die ,,Rangverschiebung``, die zwischen Wissenschaft und Philosophie eingetreten ist. Eine auf Positivismus oder Erkenntnistheorie reduzierte Philosophie kann doch nicht herrschen! Beim Philosophen handelt es sich um einen cäsarischen Züchter und Gewaltmenschen der Kultur. Nicht um einen idealen Gelehrten, der als objektiver Mensch nur zum Handlanger der Mächtigen wird, ein Werkzeug, ein Stück Sklave. Der Jesuitismus der Mittelmässigkeit macht noch aus jedem Gelehrten eine alte Jungfer: Im Verhältnisse zu einem Genie, das heisst zu einem Wesen, welches entweder zeugt oder gebiert, beide Worte in ihrem höchsten Umfange genommen -, hat der Gelehrte, der wissenschaftliche Durchschnittsmensch immer etwas von der alten Jungfer. Demgegenüber kommt es darauf an, Werte zu schaffen und Gesetze zu geben: Die eigentlichen Philosophen sind Befehlende und Gesetzgeber: sie sagen ,,so soll es sein!`` Dabei hat Nietzsche in erster Linie an ,,Philosophen`` wie Cäsar, Napoleon oder Bismarck gedacht: Ihr ,,Erkennen`` ist Schaffen, ihr Schaffen ist eine Gesetzgebung, ihr Wille zur Wahrheit ist - Wille zur Macht. Statt einer demokratischen ,,Gleichheit der Rechte`` schwebt ihm das Ideal herrschaftlicher ,,Größe`` vor: der soll der Grösste sein, der der Einsamste sein kann, der Verborgenste, der Abweichendste, der Mensch jenseits von Gut und Böse, der Herr seiner Tugenden, der überreiche des Willens.

Im SIEBTEN HAUPTSTÜCK behandelt Nietzsche Unsere Tugenden und denkt dabei an die Tugenden der Europäer von Übermorgen, der Erstlinge des zwanzigsten Jahrhunderts. In Abgrenzung zum feierlichen Wort einer Tugend-Formel verfällt unser Neo-Kyniker sogleich wieder Musik und Tanz: Es ist die Musik in unserm Gewissen, der Tanz in unserm Geiste, zu dem alle Puritaner-Litanei, alle Moral-Predigt und Biedermännerei nicht klingen will. Den Enthemmungen und dem Spaß im dionysischen Rausch stehen die Moral-Predigten der geistig beschränkten Christen gegenüber: Das moralische Urtheilen und Verurtheilen ist die Lieblings-Rache der Geistig-Beschränkten an Denen, die es weniger sind, auch eine Art Schadenersatz dafür, dass sie von der Natur schlecht bedacht wurden, endlich eine Gelegenheit, Geist zu bekommen und fein zu werden:- Bosheit vergeistigt. Für ,,Immoralisten`` hat nur das ,,Lachen`` noch Zukunft, keine Mitleids-Predigten. Und eingedenk der Tugend der Redlichkeit verlangt unser intellektuales Gewissen auch die Anerkennung der Grausamkeit, die ,,höhere Kultur`` erst möglich gemacht hat. Fast Alles, was wir ,,höhere Cultur`` nennen, beruht auf der Vergeistigung und Vertiefung der Grausamkeit - dies ist mein Satz. Dieser ,,Satz`` eines neuen Europäers und Gewaltmenschen der Zukunft wird noch ergänzt durch die Natur - des schwachen Geschlechts: Das, was am Weibe Respekt und oft genug Furcht einflösst, ist seine Natur, die ,,natürlicher`` ist als die des Mannes, seine ächte raubthierhafte listige Geschmeidigkeit, seine Tigerkralle unter dem Handschuh, seine Naivetät im Egoismus, seine Unerziehbarkeit und innerliche Wildheit, das Unfassliche, Weite, Schweifende seiner Begierden und Tugenden ... Was, bei aller Furcht, für diese gefährliche und schöne Katze ,,Weib`` Mitleiden macht, ist, dass es leidender, verletzbarer, liebebedürftiger und zur Enttäuschung verurtheilter erscheint als irgend ein Thier. Furcht und Mitleiden: mit diesen Gefühlen stand bisher der Mann vor dem Weibe, immer mit einem Fusse schon in der Tragödie, welche zerreisst, indem sie entzückt. Zum dionysischen Rausch in der Tragödie, welche zerreißt, indem sie entzückt gesellt sich noch die schöne Katze ,,Weib`` - aus der Tugend der Redlichkeit?

Das ACHTE HAUPTSTÜCK Völker und Vaterländer enthält eine Warnung vor der ,,Zivilisation`` oder ,,Vermenschlichung`` oder dem ,,Fortschritt``; oder auf eine politische Formel gebracht: vor der demokratischen Bewegung Europas. Die ,,Vermittelmäßigung`` des Menschen zum ,,Herdentier`` wird furchtbare Folgen haben; denn die Demokratisirung Europa's ist zugleich eine unfreiwillige Veranstaltung zur Züchtung von Tyrannen,- das Wort in jedem Sinne verstanden, auch im geistigsten. Dem Massenwahn wird ein Tyrannenwahn entsprechen: Die selben neuen Bedingungen, unter denen im Durchschnitt eine Ausgleichung und Vermittelmässigung des Menschen sich herausbilden wird - ein nützliches arbeitsames, vielfach brauchbares und anstelliges Heerdenthier Mensch -, sind im höchsten Grade dazu angethan, Ausnahme-Menschen der gefährlichsten und anziehendsten Qualität den Ursprung zu geben. Entsprach bereits im ersten großen Krieg der Massenwahn der jungen Freiwilligen der Grausamkeit ihrer Heerführer, so zeigte sich das volle Ausmaß der demokratischen Tyrannenzucht erst im italienischen und deutschen Faschismus Mussolinis und Hitlers. Und wie im Faschismus war es auch im Kommunismus die Herdenmoral der Massen, die ihre Entsprechung in der grausamen Herrschaft ihrer Tyrannen Stalin und Mao fand.

Im NEUNTEN HAUPTSTÜCK stellt Nietzsche die Frage: was ist vornehm? Damit bereitet er die Lösung des Problems der Demokratisierung vor. Der Sklavenmoral stellt er die Herrenmoral, der Demokratie die Aristokratie gegenüber: Die vornehme Kaste war im Anfang immer die Barbaren-Kaste: ihr Übergewicht lag nicht vorerst in der physischen Kraft, sondern in der seelischen,- es waren die ganzeren Menschen (was auf jeder Stufe auch so viel mit bedeutet als ,,die ganzeren Bestien``). Wir sind die Nachfahren der Überlebenden im ,,Kampf ums Dasein`` unserer Vorfahren. Rassenkonflikte und Religionskriege, Klassenkämpfe und Wirtschaftskriege standen schon am Beginn der Zivilisation und ziehen sich wie eine Zündschnur durch die Kulturen - bis hin zu den großen Kriegen des 20. Jahrhunderts. Für Nietzsche gehört die Ausbeutung nicht einer verderbten oder unvollkommnen und primitiven Gesellschaft an: sie gehört in's Wesen des Lebendigen, als organische Grundfunktion, sie ist eine Folge des eigentlichen Willens zur Macht, der eben der Wille des Lebens ist.- Gesetzt, dies ist als Theorie eine Neuerung,- als Realität ist es das Ur-Faktum aller Geschichte: man sei doch so weit gegen sich ehrlich!- In der Moral-Entwicklung der Völker sieht er stets zwei Grundtypen ausgeprägt: Herden-Moral und Sklaven-Moral. Herr und Sklave, Aristokrat und Leibeigener, Bonze und Prolet bilden jeweils die herrschende und die arbeitende Klasse. Dabei fühlt sich die vornehme Art Mensch als werthbestimmend, sie hat nicht nöthig, sich gutheissen zu lassen, sie urtheilt ,,was mir schädlich ist, das ist an sich schädlich``, sie weiss sich als Das, was überhaupt erst Ehre den Dingen verleiht, sie ist wertheschaffend. Dem Herrenrecht, Werte zu schaffen, steht die Sklavenpflicht zur Nützlichkeit gegenüber: Der Blick des Sklaven ist abgünstig für die Tugenden des Mächtigen: er hat Skepsis und Misstrauen, er hat Feinheit des Misstrauens gegen alles ,,Gute``, was dort geehrt wird -, er möchte sich überreden, dass das Glück selbst dort nicht ächt sei. Umgekehrt werden die Eigenschaften hervorgezogen und mit Licht übergossen, welche dazu dienen, Leidenden das Dasein zu erleichtern: hier kommt das Mitleiden, die gefällige hülfbereite Hand, das warme Herz, die Geduld, der Fleiss, die Demuth, die Freundlichkeit zu Ehren -, denn das sind hier die nützlichsten Eigenschaften und beinahe die einzigen Mittel, den Druck des Daseins auszuhalten. Die Sklaven-Moral ist wesentlich Nützlichkeits-Moral. Ausnahmemenschen mit besonderen Begabungen und herausragenen Fähigkeiten gedeihen besser im ,,vornehmen`` Geltungsbereich der Herrenmoral. Sie fördert außergewöhnliche Leistungen in Wissenschaft und Kunst, schätzt Erfindergeist und Wagemut in Technik und Wirtschaft.

Hinter der Maske des Aristokraten singt Nietzsche ein Loblied auf die Herrenmoral und preist ihre segensreichen Wirkungen für die Zukunft Europas. Für die Sklavenmoral der Mittelmäßigkeit dagegen hat er nur Hohn und Spott übrig: Die Mittelmässigen allein haben Aussicht, sich fortzusetzen, sich fortzupflanzen,- sie sind die Menschen der Zukunft, die einzig überlebenden; ,,seid wie sie! werdet mittelmässig!`` heisst nunmehr die alleinige Moral, die noch Sinn hat, die noch Ohren findet.- Aber sie ist schwer zu predigen, diese Moral der Mittelmässigkeit!- sie darf es ja niemals eingestehn, was sie ist und was sie will! sie muss von Maass und Würde und Pflicht und Nächstenliebe reden,- sie wird noth haben, die Ironie zu verbergen! - Eine vornehme Seele ergeht sich nicht in Kleinmut und Mitleid, Neid und Missgunst, sondern pflegt den Egoismus und die Selbstliebe, fördert Härte und Heiterkeit. Was eine vornehme Seele letztlich ausmacht, sind aber nicht die Leistungen, sondern die Haltung: Es sind nicht die Werke, es ist der Glaube, der hier entscheidet, der hier die Rangordnung feststellt, um eine alte religiöse Formel in einem neuen und tieferen Verstande wieder aufzunehmen: irgend eine Grundgewissheit, welche eine vornehme Seele über sich selbst hat, Etwas, das sich nicht suchen, nicht finden und vielleicht auch nicht verlieren lässt.- Die vornehme Seele hat Ehrfurcht vor sich.-

Da reicht keine Philosophie heran; allenfalls die Schriften eines Einsiedlers: Jede Philosophie ist eine Vordergrunds-Philosophie - das ist ein Einsiedler-Urtheil: ,,es ist etwas Willkürliches daran, dass er hier stehen blieb, zurückblickte, sich umblickte, dass er hier nicht mehr tiefer grub und den Spaten weglegte,- es ist auch etwas Misstrauisches daran.`` Jede Philosophie verbirgt auch eine Philosophie; jede Meinung ist auch ein Versteck, jedes Wort auch eine Maske. Dem olympischen Laster verfallen, setzt sich Nietzsche am Ende die Maske des Dionysos auf: Götter sind spottlustig: es scheint, sie können selbst bei heiligen Handlungen das Lachen nicht lassen. Als der letzte Jünger und Eingeweihte des Gottes Dionysos schließt der Neo-Kyniker mit vornehmer Ironie und leicht verwundert sein Vorspiel ab: Ach, was seid ihr doch, ihr meine geschriebenen und gemalten Gedanken! Und mit Wehmut gedenkt er seiner Einsamkeit: Und nur euer Nachmittag ist es, ihr meine geschriebenen und gemalten Gedanken, für den allein ich Farben habe, viel Farben vielleicht, viel bunte Zärtlichkeiten und fünfzig Gelbs und Brauns und Grüns und Roths:- aber Niemand erräth mir daraus, wie ihr in eurem Morgen aussahet, ihr plötzlichen Funken und Wunder meiner Einsamkeit, ihr meine alten geliebten - schlimmen Gedanken!

Der Nachgesang AUS HOHEN BERGEN klingt aus mit Versen, die noch einmal an Zarathustra erinnern:

Dies Lied ist aus,- der Sehnsucht süsser Schrei

Erstarb im Munde:

Ein Zaubrer that's, der Freund zur rechten Stunde,

Der Mittags-Freund - nein! fragt nicht, wer es sei -

Um Mittag war's, da wurde Eins zu Zwei ...

Nun feiern wir, vereinten Siegs gewiss,

Das Fest der Feste:

Freund Zarathustra kam, der Gast der Gäste!

Nun lacht die Welt, der grause Vorhang riss,

Die Hochzeit kam für Licht und Finsterniss ...

Während Nietzsche unter ,,Licht`` und in ,,Finsternis`` weiter an seinem Hauptwerk Der Wille zur Macht schreibt, veröffentlicht er 1887 Zur Genealogie der Moral, Eine Streitschrift. Mit ihr beabsichtigt er eine Ergänzung und Verdeutlichung seines Vorspiels. Die erste Abhandlung der Genealogie nimmt einen zentralen Gedanken der Morgenröte auf, wie Safranski hervorhebt: Von der Geburt der Moral aus dem Geist des Ressentiments. In der folgenden Abhandlung wendet sich Nietzsche der Psychologie des Gewissens zu, das er als Instinkt der Grausamkeit ansieht und nicht als die Stimme höherer Mächte im Menschen. Im Handbuch wird zusammengefasst: Nachdem die erste Abhandlung das nach außen gewendete Ressentiment und die zweite die Verinnerlichung der aktiven Grausamkeit dargelegt hat, zeigt die dritte die vom asketischen Priester eingeleitete ,,Rückwärtsbewegung des Ressentiments``, d.i. jenen Prozeß, in dem das Ressentiment sich nach innen wendet und die Gestalt eines Schuldgefühls annimmt. Auch der priesterliche Asket ist nur ein verkappter Machtmensch.

Im Herbst 1888 vollendet Nietzsche das erste Buch seiner Umwerthung aller Werthe: DER EUROPÄISCHE NIHILISMUS, in dem er die Heraufkunft des Nihilismus prophezeit. Die Formel Der Wille zur Macht drückt für ihn nunmehr eine ,,Gegenbewegung`` aus, welche in irgendeiner Zukunft jenen vollkommenen Nihilismus ablösen wird. Dabei beginnt er mit einer ersten Bestimmung von Nihilismus: Was bedeutet Nihilismus?- Daß die obersten Werte sich entwerten. Es fehlt das Ziel; es fehlt die Antwort auf das ,,Warum``? Helfen nur Werte gegen Nihilismus? Für Nietzsche war die Moral das große Gegenmittel gegen den praktischen und theoretischen Nihilismus. Aber einschränkend fügt er sogleich hinzu: Unter den Kräften, die die Moral großzog, war die Wahrhaftigkeit: diese wendet sich endlich gegen die Moral, entwickelt ihre Teleologie, ihre interessierte Betrachtung. Die in der Morgenröte vielfach umschriebene Selbstaufhebung der Moral spitzt er nunmehr in einer Antinomie zu: Sofern wir an die Moral glauben, verurteilen wir das Dasein. Eine Moral, die der Leiblichkeit widerspricht, ist letztlich lebensfeindlich und die Abkehr vom Willen zum Dasein ...


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Ingo Tessmann 2007-04-15