Verblüfft verfolgte Alberto wie sich das Tau zu lockern begann. Erst kaum
merklich, dann plötzlich wie von selbst! Da trieb das Boot auch schon auf die See
hinaus. Eher vergnügt als verägert sprangen Hilde und der Major ins Wasser, um ihr
Boot wieder einzufangen.
,,Sollte die Viele-Welten-Theorie doch nicht ganz so unsinnig sein wie ich
bisher angenommen habe?`` murmelte Alberto, noch immer erstaunt darüber, was
geschehen war.
,,Was hast Du gesagt?`` Sofie wandte ihren Blick vom Boot ab und sah Alberto
fragend an.
,,In der Physik gibt es eine Theorie, nach der die Existenz unendlich vieler
Welten möglich sein soll.``
,,Wie bitte?``
,,Wie mir scheint, kommen wir nicht darum herum, den Philosophiekurs mit der
Analytischen Philosophie fortzusetzen. Denn nur eine genaue Analyse
unserer Situation wird uns aus dem Schwebezustand unserer Existenz befreien
können.``
,,Ich verstehe nur Bahnhof!``
,,Und ich versuche mir Klarheit über unsere Situation zu verschaffen. Durch
Abtauchen ins Unterbewußtsein des Majors haben wir uns offensichtlich
verselbständigen können. Obwohl wir nur Gedanken seines Bewußtseins
waren, haben wir es vermocht ins Sein einzugreifen! Welchem Geheimnis in
SOFIES WELT sind wir auf der Spur?``
Hilde und der Major hatten unterdessen ihr Boot erreicht und machten sich lachend
daran, es zu entern.
,,Wenn ich mein philosophisches Wissen bisher dem Bewußtsein des Majors
verdankte``, fuhr Alberto fort, ,,muß ich mich doch jetzt fragen, wer es
mir ermöglicht, den Philosophiekurs fortzusetzen? Könnte nicht sogar ich
ein Buch schreiben, das vom Major handelt, der als UN-Soldat im Libanon
ein Buch über den Philosophielehrer Alberto Knox verfaßt? Wenn auch Albert
Knag nur eine Romanfigur ist, braucht es uns nicht zu wundern, wenn sich
unsere Welten überlappen. Mich beunruhigt allerdings die Vorstellung, mit
dem Major und allen anderen Fabelwesen, Märchengestalten und Comic-Figuren
wiederum lediglich den Gedanken eines anderen Autors zu entspringen! Gibt es
neben den parallelen Welten womöglich noch beliebig viele über- und
untergeordnete Welten?``
,,Das mußt Du mir genauer erklären!``
Während Sofie und Alberto es sich auf der Hollywoodschaukel im Garten der Knags
bequem machten, fiel Alberto auf, daß sich die Schaukel zwar kaum merklich,
aber immerhin doch spürbar bewegte ...
,,Vermutungen über die Existenz weiterer Welten kommen ja schon in den
Mythen
vor. Im antiken Griechenland gab es neben der Menschenwelt den
Olymp als Sitz der Götter und den Hades, das Reich der Toten. Die Mythen der
Nordgermanen erzählen von Midgard, der mittleren Welt der Menschen, und Utgard,
dem Reich der Riesen. Innerhalb der Menschenwelt erhob sich Asgard mit der
Götterburg Walhall. Die Christen entnahmen den Mythen die Vorstellung von
Himmel und Hölle. Aber schon für die antiken Naturphilosophen waren die
Welten der Mythen nicht real, sondern bloß erdacht.``
,,Bis heute hat man ja auch keine der Welten in unserem Planetensystem
gefunden.``
,,Genau. Gleichwohl ist es aber höchstwahrscheinlich, daß es im Universum
viele weitere Lebensformen gibt. Bereits Giordano Bruno verbreitete im
16. Jahrhundert seine Vermutung, daß es im Kosmos unendlich viele Welten geben
müsse. Die Christen verbrannten ihn dafür auf dem Scheiterhaufen!``
,,Nur gut, daß die Religionen seitdem an Einfluß verloren haben!``
,,Da wäre ich mir nicht so sicher. Durch unseren Ausflug in die
Analytische Philosophie können wir natürlich dazu beitragen,
den religiösen Nebel in den Köpfen der Menschen weiter zu lichten.
Was hältst Du davon, wenn wir Hilde den Fortsetzungskurs irgendwie
zukommen ließen?``
,,Eine prima Idee!``
,,Das meine ich auch. Zurück zur Sache. Ihren Namen hat die
Analytische Philosophie von der sprachanalytischen Methodik, derer
sie sich bedient. Deshalb wird sie oft einfach Sprachphilosophie genannt.
Im Gegensatz zur Chemie geht es bei der philosphischen Analyse nicht um
die Zerlegung eines Stoffes, sondern um die Zergliederung der von den Philosophen
benutzten Sprache. Philosophie sei
Sprachkritik
lautet das Motto. Im Unterschied zu den Fachwissenschaften ist die Philosophie damit auch
auf sich selbst anwendbar. Sie ist reflexiv. Die chemischen Analysetechniken sind
natürlich nicht auf die Chemie selbst anwendbar.``
,,Aber Philosophie ist auf die Chemie anwendbar.``
,,Richtig. Das Philosophieren über die Fachwissenschaften wird
Wissenschaftstheorie genannt. Aber davon später. Gegenüber den
Faschwissenschaften ist die Philosophie zwar reflexiv, hat aber keinen
empirischen Gehalt. Kennst Du auch nichtempirische Fachwissenschaften?``
,,Eine Wissenschaft ohne Bezug zur Erfahrung ... natürlich Mathe!``
,,Das ist wohl auch der Grund, warum so viele Menschen Schwierigkeiten
damit haben. Dennoch stellt die Mathematik Rechenverfahren zur Verfügung,
die nicht nur in den Natur- und Ingenieurwissenschaften unentbehrlich sind.
Seit Galilei gilt die Mathematik als Sprache der Natur und wird in der
Physik zur Formulierung der Theorien benutzt.
Je nach Forschungsrichtung teilen sich in der Sprachphilosophie
sogenannte Idealsprachler und Umgangssprachler die Arbeit. Die erste
Richtung wurde wesentlich von dem Engländer Bertrand Russell (1872-1970)
geprägt. Bestimmend für die zweite Richtung war der Österreicher
Ludwig Wittgenstein
(1889-1951). Russell ging es vornehmlich um die Verbesserung der
Philosophie- und Wissenschaftssprachen, indem er sich am Ideal der Logik
orientierte. Ausgehend von Untersuchungen Russells konzentrierte Wittgenstein
sein Bemühen demgegenüber auf den Zusammenhang zwischen Umgangssprache und
Lebensweise. Er versuchte herauszufinden, was wir eigentlich tun, wenn wir
sprechen ...``
,,Die zweite Richtung hört sich interessanter an.``
,,Warum?``
,,Weil sie lebensnaher ist. Sie betrifft uns doch alle, nicht nur die
Wissenschaftler.``
,,Bevor ich Dir etwas über die beiden
Sprachphilosophen erzähle, müssen wir uns aber noch die Krisensituation
in Mathematik und Physik um die letzte Jahrhundertwende vergegenwärtigen.
Ohne die geistreiche Krisenbewältigung der Fachwissenschaftler wäre die
Sprachphilosophie schwerlich so erfolgreich gewesen.
Die Analytische Philosophie ist natürlich nicht vom Himmel gefallen.
Verständnis- und Verständigungsprobleme haben die Menschen seit Urzeiten.
Die babylonische Sprachverwirrung ist schon sprichwörtlich. So beruht
die im Christentum folgenschwere Annahme, Eva sei aus einer Rippe Adams
entstanden, schlicht auf einem Übersetzungsfehler!``
,,Derartigen Unsinn hab' ich `eh nie erst genommen.``
,,Schon die Sophisten konfrontierten ihre antiken Zeitgenossen mit so vertrackten
Äußerungen wie etwa Epimenides, der Kreter, als er sagte: ,,Alle Kreter
lügen!`` Log er als er das sagte?``
,,Das ist in der Tat verwirrend. Wenn er lügt, sagt er die Wahrheit und
umgekehrt!``
,,Die Lösung dieses Lügnerparadoxons gelang Russell zu Beginn
dieses Jahrhunderts. Als Paradoxien werden allgemein Widersprüche bezeichnet,
in die wir bei unachtsamen Gebrauch der Sprache geraten.``
,,Heißt das, wenn wir nur achtsam genug reden, verschwinden alle
Widersprüche?``
,,Natürlich nicht. Das wäre ja langweilig. Es verschwinden nur die
scheinbaren Widersprüche. Aber auch die Hoffnung auf das Ausmerzen
der vielen Scheinprobleme ist schon utopisch genug.
Du hast eben selbst ein Beispiel unachtsamer Rede gegeben. Denn aus der
Annahme, daß unachtsame Rede zu Widersprüchen führe folgt logisch, daß
fehlende Widersprüche auf achtsame Rede schließen lassen. Du hattest
die umgekehrte Folgerung angenommen. Ein Trugschluß, der weit
verbreitet ist. Ich werde darauf zurückkommen.``
,,Ohhh...``
,,Als Paradoxien sogar in der exaktesten aller Wissenschaften, der Mathematik,
auftraten, erhielt die Sprachphilosophie ungeheuren Aufschwung.``
,,Es ist beruhigend zu hören, daß auch Mathematiker Fehler machen.
Die Mathelehrer sind meist so arrogant. Jetzt mußt Du mir aber ein
Beispiel geben!``
,,Nichts einfacher als das. Du erinnerst Dich noch an die Mengenlehre?``
,,Vage.``
,,Mengen sind Zusammenfassungen irgendwelcher Dinge, den Elementen,
zu einem Ganzen. Die Lösungsmenge einer Gleichung hängt z.B. davon ab,
in welcher Zahlenmenge man nach der Lösung sucht ...``
,,Es fällt mir wieder ein. Fahre fort!``
,,Als der Logiker Gottlob Frege (1848-1925)
die von Georg Cantor (1845-1918) zur
Grundlegung der Mathematik eingeführte Mengenlehre in eine streng logische
Form gebracht hatte, bekam er von dem erwähnten Russell eine Postkarte, die
ihn entsetzte. Russell hatte nämlich darauf hingewiesen, daß die Mengenlehre
widersprüchlich sei! Das gelang ihm durch Angabe der Menge aller Mengen, die
sich nicht selbst als Element enthalten. Diese sogenannte Russellmenge
ähnelt der Frage nach dem Barbier, der alle Männer rasiert, die sich nicht
selber rasieren. Wer rasiert den Barbier? Kann es einen solchen Barbier überhaupt
geben?``
,,Ich hoffe, die Sprachphilosophen werden mir darauf eine Antwort geben.``
,,Und nicht nur das. Denn die Lösung der Paradoxien durch Präzisierung
der Sprache wird auch unser Existenzproblem klären.``
,,Hoffentlich haben wir nur ein Scheinproblem. Ich bin gespannt wie'n
Flitzbogen!`` Paradoxien und Grundlagenkrisen