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Vom Konstruktivismus zur
Struktur technischer Innovationen

Während Popper die Logik des Denkens auf die vermeintliche Logik der Forschung zu übertragen versuchte, bemühen sich die methodischen Konstruktivisten , aus den vorwissenschaftlichen Praxen heraus die Wissenschaften als Kulturleistungen zu rekonstruieren. Sie folgen damit lediglich der Einsicht Einsteins, nach der die Wissenschaft bloß eine Verfeinerung des alltäglichen Denkens sei. Erste Ausarbeitungen des Versuchs, die Wissenschaften konsequent aus den Lebenspraxen heraus zu entwickeln, gehen auf Hugo Dingler zurück. Seine Methodische Philosophie folgt dem schlichten Prinzip der pragmatischen Ordnung. Danach sind die Handlungschritte in einer linearen Folge so anzuordnen, daß sie auch tatsächlich ausgeführt werden können. Dieses einfache und für den Lebensalltag selbstverständliche Prinzip hat für die Wissenschaften allerdings weitreichende Konsequenzen. Jeder Koch hält sich stets an die Reihenfolge der im Rezept angegebenen Zutaten seiner Speise. In der wissenschaftlichen Literatur dagegen ist viel von der wissenschaftlichen Methodik die Rede, vom Aufbau komplizierter Experimente. Eine dem Prinzip der pragmatischen Ordnung genügende Handlungsfolge aber nie zu finden. Wer die Wissenschaften erlernen möchte, habe mitzumachen und die Experimentierhandlungen nachzuahmen. Anders ginge es nicht, wird gesagt. Ähnlich verhalte es sich mit der Sprache. Wer verstehen wolle, muß am Sprachspiel teilnehmen, wird gesagt. Die Situation sei ähnlich der, eine fremde Kultur kennenzulernen. Das könne man nicht durch zuschauen, sondern nur im Zusammenleben. Da nun aber die Wissenschaften lehrbar und nachvollziehbar sein sollten, müßten sie einen (zumindest im Prinzip) geordnenten Aufbau erkennen lassen. D.h. schrittweise und zirkelfrei vorgehen, damit die Theorie experimentell begründet werden kann.

Nach Ansicht der an Dingler anknüpfenden Methodischen Konstruktivisten der Erlanger Schule um Paul Lorenzen (1915-1994) zieht die pragmatische Ordnung eine methodische Ordnung der Wissenschaften nach sich. Lorenzen hatte Mathematik, Physik, Philosophie und Chemie studiert. Ab 1952 war er Professor für Mathematik in Bonn. 1962 ging er nach Erlangen, um mit Wilhelm Kamlah die Arbeit am Konstruktivismus in Angriff zu nehmen. Ihr methodischer Aufbau der Wissenschaften beginnt mit einer Vorschule des vernünftigen Redens. D.h. im Medium der Umgangssprache werden elementare Sprachhandlungen rekapituliert und Normierungen zum Identifizieren und Charakterisieren der Dinge vorgenommen. Die Logik folgt dabei der Alltagspraxis des Gesprächs und wird als Dialogische Logik konstruiert. Es werden also nicht von vornherein die Beschränkungen der klassischen zweiwertigen Logik übernommen. Aus der Alltagspraxis des Zählens wird die Arithmetik konstruiert. Nicht die Peano-Axiome stehen am Anfang, sondern Strichlisten mit Zählzeichen, wie sie schon seit der Steinzeit überliefert sind. Die Geometrie als zweite Grundlagendisziplin der Mathematik wird aus der Handwerkspraxis konstruiert. D.h. die Punkte, Geraden und Ebenen werden aus den Ecken, Kanten und Seiten bearbeiteter Gegenstände gewonnen, indem von den Herstellungsmängeln abgesehen wird.

Es dürfte das prinzipielle Vorgehen der methodischen Konstruktivisten klar geworden sein. Zentral sind ihnen die Herstellungsregeln, die praktisch durchführbar sein müssen. Daher der Name Konstruktivismus. Aber lassen wir Lorenzen selbst zu Wort kommen: Für alle konstruktiven Wissenschaften gilt, daß sie den Ausgangspunkt aller Begründungen in den vorwissenschaftlichen Praxen der Menschen suchen. Vor den Hochkulturen des Altertums gab es nur vorwissenschaftliche Praxen. Aus ihnen haben sich, insbesondere seit den Griechen, alle Wissenschaften entwickelt. Der Konstruktivismus versucht, kritisch diese Entwicklungen nachzuvollziehen, indem als konstruktive Wissenschaft nur das anerkannt wird, was methodisch, also schrittweise ohne Sprünge und Zirkel, aus einer auch für uns wichtigen Praxis begründet wird. Wir können uns auf zwei Praxen beschränken:

In Unterscheidung der üblichen Machtpolitik möchte ich eine Politik, die am friedlichen Konsens orientiert ist, eine ethische Politik nennen. Gegenüber der technischen Praxis zur Wahl der Mittel, geht es in der politischen Praxis um das Setzen der Zwecke. Nach dem Prinzip der methodischen Ordnung sind natürlich erst die Zwecke zu setzen und dann die Mittel zu wählen. Die Praxis des Miteinanderredens unterliegt dem Vernunftprinzip der Transsubjektivität. Die Forderung, seine eigene Subjektivität zu überwinden, ist nur eine andere Formulierung des Kant'schen kategorischen Imperativs: Handle so, daß die Norm deines Handelns gegenüber jedem verteidigt werden kann. Nun hat aber bereits Hegel dieses Prinzip als bloß formal kritisiert. Es ist durch die dialektische Methode der sogenannten normativ-faktischen Genese zu ergänzen. D.h. in einer Art von Spiralbewegung sind die Handlungsnormen in einer konkreten Situation zu rechtfertigen. Die aus der unmittelbaren Lebenspraxis gewonnenen Redenormen z.B. werden eingesetzt, um ein Stück Geschichte zu verstehen. Das Geschichtsverständnis wiederum modifiziert die Redenormen, mit denen dann weitere Genesen erschlossen werden können. Ein nie endendes Kulturverstehen.

Während Niemann munter drauflos plaudert, um nicht das Problemlösen aus den Augen zu verlieren, reflektiert Habermas die Bedingungen gelingender Rede im Anschluß an die Sprechakttheorie. Auch Weizsäcker verbindet seine quantentheoretische Interpretation mit der Srechakttheorie. Lorenzen geht noch einen Schritt weiter zurück. Gleich einem Schiffbrüchigen, der auf hoher See aus den herumschwimmenden Planken ein neues Boot zimmern muß, geht es ihm darum, im Meer der problematisch gewordenen Umgangssprache die Konstruktion einer rationalen Grammatik zu versuchen. Im Vergleich mit der Universalpragmatik gilt auch Lorenzens Sprachnormierung der Vorbereitung dreier Diskurse bzw. Beratungen, um folgende Leistungen zu erbringen:

Bevor ich auf die einzelnen Beratungsteile eingehe, haben wir dem Prinzip der methodischen Ordnung folgend, Einigung über unser lebenspraktisches Vorverständnis herbeizuführen. Lorenzen beginnt mit der Rekonstruktion einer rationalen Grammatik, die wie folgt unterteilt werden kann:

Bei den Einwort-Sätzen genügt zum Verständnis die Unterscheidung von Imperativ- und Indikativ-Sätzen. Ich denke, jeder kennt solche meist von Kindern geäußerten Sätze wie Haben!, Komm!, Heiß., Hart. Worte, die man Gegenständen zu- oder absprechen kann, werden Prädikatoren genannt. Gegenstände werden durch Nominatoren identifiziert und durch Prädikatoren charakterisiert. Kindern macht es viel Spaß, die Wort-Einführungs-Situation ständig durch die Wort-Verwendungs-Situation zu festigen. In einer Sprachgemeinschaft übliche Weisen der Wort-Verwendung werden Prädikatorenregeln genannt. Kinder vermögen ihnen zu folgen, ohne sie explizit zu kennen: Hunde bellen, Steine sind hart, Pferde bellen nicht (sie wiehern), Kissen sind weich (nicht hart) usw. Um Wort-Verwendungen zu vereinfachen, werden Definitionen eingeführt, z.B. Schimmel für weißes Pferd. Oder Elementarsatz für einen Satz, der nur aus einem Prädikator und einem Nominator besteht. Ein Satz, der aus Elementarsätzen besteht, die durch logische Partikel miteinander verbunden sind, wird komplexer Satz genannt. Bevor wir zur Logik übergehen, ist es wichtig, im Auge zu behalten, daß nicht die Indikativ-, sondern die Imperativsätze primär sind. Entsprechendes gilt auch für die zugrunde liegenden Handlungen. Kinder lernen sprechen in Verbindung mit ihrer Bedürfnis-Befriedigung. Zunächst schreien sie bloß (nach den Zitzen); später äußern sie Mama! oder Haben! Und erst wenn sie befriedigt sind und sich geborgen fühlen, wenden sie ihr Augenmerk in neutraler Weise den Dingen zu, die sie umgeben. Dieses normative Fundament ist auch in den Wissenschaften zentral. Seine Anerkennung scheidet die kritischen von den analytischen Wissenschaftstheorien.

Allen Wissenschaften geht bekanntlich die Logik voran. Sie beginnt mit der Normierung von Modalitäten und logischen Partikeln:

In der konstruktiven Logik werden Beweise weder syntaktisch durch Axiome und Ableitungsregeln noch semantisch durch Wahrheitstafeln und Boole'sche Algebra vorgenommen. Dem Primat der Praxis folgend, werden logische Begründungen vielmehr pragmatisch nach Dialogregeln geführt. Neben allgemeinen Rahmenregeln der Dialogführung werden die logischen Partikel durch besondere Angriffs- und Verteidigungsregeln eingeführt. Die Verneinung einer Behauptung kann z.B. nicht verteidigt, sondern nur durch einen Gegenangriff behauptet werden. Wer eine mit und verknüpfte Behauptung verteidigen möchte, hat beide Teilbehauptungen zu verteidigen. Für die Widerlegung eines Allsatzes genügt der Angriff mit einem Gegenbeispiel.

Die methodischen Konstruktivisten unterscheiden nach dem Vorbild der Mathematik und Physik Formal- und Realwissenschaften. Wesentlich zum Verständnis der Formalwissenschaften ist das Abstrahieren, Grundlage der Realwissenschaften das Ideieren. Das Abstrahieren ist ein methodisch nachvollziehbares Verfahren. Es besteht darin, verschiedene Dinge als äquivalent zu betrachten und sich fortan darauf zu beschränken, bezüglich der Äquivalenzrelation invariant zu reden. Das hört sich komplizierter an als es ist. Denn schließlich gehört es zu den Grundvermögen aller Lebewesen.

Immer wenn sich Organismen von ihrer Umwelt abgrenzen, sind sie gezwungen, den für ihr Überleben wichtigen Stoffwechsel mit ihrer Umgebung aufrechtzuerhalten. Damit reduzieren sie aber ihre Umwelt auf einige für sie wesentliche Eigenschaften. Dieses grundlegende biologische Verfahren der Invariantenbildung bzgl. eines Energie- und Stoffaustausches ist auch in der Sinnesphysiologie wirksam. Unsere Sinne abstrahieren ständig aus der Fülle der Sinneseindrücke Gestalten oder Muster, die unter den verschiedendsten Bedingungen als äquivalent erkannt werden müssen. Andernfalls könnten wir keine Gesichter oder Stimmen wiedererkennen. Man denke nur `mal daran, welch ein Verrechnungsaufwand dahintersteckt, das Gesichtsfeld konstant zu halten, obwohl der Kopf bewegt wird.

Die Erfolge in der Vereinheitlichung der physikalischen Theorien beruhen ebenfalls auf Abstraktion. Einstein führte mit dem Relativitätsprinzip eine Äquivalenzrelation zwischen Bezugssystemen ein, bzgl. der die physikalischen Sätze invariant sein sollten. Die Physiker übertrugen das Prinzip von der Gravitation auf die anderen Wechselwirkungen . Die physikalische Basis des Abstrahierens liegt im Bosonen-Austausch zwischen Fermionen. Auf der Ebene des Sozialsystems wird von der Reichhaltigkeit der Lebenswelt bzgl. der Steuerungsmedien abstrahiert. Aufgrund der Austauschbeziehung kann die Abstraktion auch umgekehrt gesehen werden. Durch die Sozialsysteme werden die Menschen auf wenige Eigenschaften reduziert. Diese durch Geld und Macht vermittelte Invariantenbildung hat Habermas Realabstraktion genannt. Der Ausdruck deutet an, daß es sich um einen realen Vorgang handelt.

Lorenzen rekonstruiert das Abstrahieren als logisches Verfahren. Er beginnt mit der Definition einer Äquivalenzrelation ($\sim $), die (1) reflexiv und (2) komparativ sein muß:

(1)
$x \sim x $
(2)
$x \sim z \land y \sim z \rightarrow x \sim y $
Eine Aussageform A(z) heißt invariant bzgl. $\sim $, wenn gilt:

\begin{displaymath}
x \sim y \rightarrow (A(x) \leftrightarrow A(y)) \end{displaymath}

Mindestens zwei Äquivalenzrelationen dürften allgemein bekannt sein: die Gleichheit (=) und die Bijunktion ($\leftrightarrow $). Die Tragweite des Abstraktionsverfahrens sei durch einige Beispiele erläutert:

Die philosophische Bedeutung des konstruktiven Abstraktionsverfahrens liegt in zweierlei. Zunächst ist es wichtig hervorzuheben, daß es beim Abstrahieren nicht um das Absehen-von etwas geht, wie es traditionell so gerne metaphorisch umschrieben wird. Vielmehr kommt es auf das Hinsehen-auf etwas an. Lebewesen abstrahieren aus ihrer Umwelt bzgl. des Stoffwechsels die Nährstoffe, die sie für ihr Überleben brauchen. Würden sie von etwas absehen, kämen sie nie zu einem Ende, da es potentiell unendlich viel wäre. Möglich wäre ein Abstrahieren durch Absehen nur bzgl. endlicher Gegenstandsbereiche. Aber auch dann wäre es noch extrem ineffizient. Zum anderen ist darauf hinzuweisen, daß mit dem Abstrahieren keine realen Objekte erzeugt werden. Es wird lediglich über bereits vorhandene Dinge bzgl. einer Äquivalenzrelation invariant geredet. Abstrakte Gegenstände werden bloß fingiert, sie existieren nur aufgrund ihres Bezuges zu realen Dingen. Natürlich kann man auch Abstraktionshierarchien bilden, z.B. Blut - Rot - Farbe oder Strich - Zählzeichen - Zahl. Analytische Wissenschaftstheoretiker halten Farbe oder Zahl für irreduzibel abstrakt, nur weil es sich um eine Meta-Abstraktion handelt.

Aber betrachten wir die Zahlabstraktion etwas genauer. Zahlem werden abstrahiert aus Zählzeichen. Zählzeichen werden abstrahiert aus Strichlisten. Strichlisten werden hingeschrieben oder gelesen. Wie werden sie erzeugt? Vielleicht nach folgenden Regeln ($\Rightarrow $): (1) $\Rightarrow \mid $, (2) n $\Rightarrow n\mid $. D.h. es ist erlaubt, einen Strich hinzuschreiben. Wenn bereits n-Striche hingeschrieben wurden, darf ein weiterer hinzugefügt werden. So weit, so gut. Worin besteht denn dabei der erste Abstraktionsschritt? Die Strichliste $\mid \mid \mid \mid \mid $ z.B. stellt das Ergebnis des Zählens bis fünf dar. Statt Strichlisten könnte ich auch Steine oder Muscheln als Zählzeichen verwenden. Und indem ich Dinge zum Zählen verwende, abstrahiere ich sie zu Zählzeichen. Der erste Abstraktionsschritt meint also einen Aspekt des jeder Handlung zugrunde liegenden Handlungsschemas. Ein Handlungschema umfaßt Invarianten der Sensorik, der zentralen Verarbeitung und der Motorik. Dem Prinzip methodischer Ordnung folgend, können wir natürlich nicht die Ergebnisse empirischer Wissenschaften, wie der Hirnphysiologie, in Anspruch nehmen. Deshalb beginnt Lorenzen seine Rekonstruktion der Zahlabstraktion bei den Zählzeichen und verweist auf das lebenspraktische Faktum, daß schon Kinder mühelos zählen können. Setzen wir also die Abstraktion vom physikalisch-sinnlichen Signal zum philosophisch-sprachlichen Zeichen voraus. Wie kommen wir vom Zählzeichen zur Zahl? Bezüglich der Äquivalenzrelation der Gleichheit verschiedener Zeichen: $\mid \mid \mid \mid \mid = 5 = V = 101 (dual)$. Die Rechenregeln der Arithmetik sind dann invariant bzgl. dieser Gleichheit zu formulieren.

Wir sollten im Auge behalten, daß das Abstrahieren letztlich immer von konkreten Gegenständen ausgeht und daß mit dem Abstrahieren keine neuen Dinge erzeugt werden, sondern lediglich metasprachlich in neuer Weise über die Dinge gesprochen wird. Erst kommen die Zählzeichen, dann die Zahlen; erst die Worte, dann die Begriffe; erst die Elemente, dann die Mengen. In der axiomatischen Mengenlehre wird demgegenüber z.B. ein Auswahlaxiom für plausibel gehalten. D.h. es wird allen Ernstes davon ausgegangen, daß es zulässig sein soll, Elemente aus einer Menge auszuwählen, ohne sicher sein zu können, ob Elemente überhaupt vorhanden sind! Ebenso bleibt schleierhaft, was mit der Leer- und Allmenge gemeint sein mag. Auch die sogenannte Überabzählbarkeit der reellen Zahlen ist bloß eine Stilblüte des Mengenplatonismus ...

Aber kommen wir wieder zu den natürlichen Zahlen zurück. Wie geht es weiter? Über die ursprünglichen Motive des Zählens können wir nur spekulieren. Warum ritzten unsere Vorfahren Strichlisten in Knochen? In den frühen Hochkulturen war das Zählen dann ein etabliertes Handlungsschema der Statistiker und Händler. Es diente dem Eintreiben von Steuern und der Festlegung von Tauschwerten. Was motivierte nun den Übergang zu den ganzen Zahlen? Das Schuldenmachen! Die negativen Zahlen wurden nicht zufällig in Verbindung mit dem aufblühenden Handel in Norditalien der Renaissance eingeführt. Schulden sind quasi negatives Einkommen. Sie erleichern wesentlich die Geldgeschäfte per Kredit oder Wechsel. Es gibt aber auch ein innermathematisches Motiv zur Abstraktion negativer Zahlen. Die Addition natürlicher Zahlen liefert immer wieder eine natürliche Zahl. D.h. hinsichtlich der Addition sind die natürlichen Zahlen abgeschlossen. Aber was passiert, wenn wir die Addition umkehren und subtrahieren? Wie lautet das Ergebnis für m - n, wenn n größer m ist? Die Subtraktion sprengt offensichtlich den Rahmen. Adorno würde sagen: Der Immanenz ist die Transzendenz immanent. Im Modell der Ebenen und Krisen handelt es sich um ein mit der Subtraktion eingeführtes Strukturproblem. Wie lösen wir die Subtraktionskrise? Durch Abstraktion! Die mit der Subtraktion weitergeführte Differenzierung des Rechnens motiviert einen erweiterten Zusammenschluß. Wir definieren folgende Äquivalenzrelation ($\sim $) zwischen Paaren natürlicher Zahlen (m,n):

\begin{displaymath}
(m_1,n_1) \sim (m_2,n_2) := (m_2 + n_1 = m_1 + n_2) \end{displaymath}

Damit können z.B. 1, 0 und -1 durch folgende Äquivalenzklassen definiert werden:

1
:= $(2,1) \sim (3,2) \sim (4,3) ... $
0
:= $(1,1) \sim (2,2) \sim (3,3) ... $
-1
:= $(0,1) \sim (1,2) \sim (2,3) ... $

Den aus der Vereinigung positiver und negativer Zahlen hervorgegangenen Zusammenschluß zu den ganzen Zahlen nennen die Mathematiker eine Gruppe. Der Leser wird sich denken können, wie es weitergeht. Das nächste Problem in der algebraischen Struktur tritt auf bei der Umkehrung der Multiplikation: Was ist das Ergebnis einer Division zweier ganzen Zahlen, wenn der Nenner gößer als der Zähler ist? Und was kommt heraus, wenn der Nenner 0 ist? Wir definieren eine Äquivalenzrelation ($\sim $) zwischen Paaren ganzer Zahlen (m,n):

\begin{displaymath}
(m_1/n_1) \sim (m_2/n_2) := (m_1 * n_2 = m_2 * n_1) \end{displaymath}

Die so definierten Äquivalenzklassen von Brüchen heißen rationale Zahlen:

\begin{displaymath}
1/3 \sim 2/6 \sim 4/12 \sim 8/24 ... \end{displaymath}

Das zweite Strukturproblem der Division durch 0 ist schwerwiegender. Denn wir können nicht einfach n/0 unendlich setzen, da unendlich überhaupt nicht existiert und die Division beliebig vieldeutig werden würde. Mathematische Objekte müssen aber kennzeichenbar, d.h. existent und eindeutig sein. Bei Termen n/0 handelt es sich überhaupt nicht um Zahlen, sondern bloß um Pseudokennzeichnungen . Pseudokennzeichnungen sind in der Sprache weit verbreitet und sollten von redlichen Philosophen und Wissenschaftlern gemieden werden.

Die Vereinigung zweier Gruppen nennen Mathematiker einen Körper. Die rationalen Zahlen bilden bzgl. der Addition und Multiplikation also einen Körper. Die nächsten Strukturprobleme will ich nur andeuten. Die Umkehrung des Potenzierens motiviert die Abstraktion irrationaler und imaginärer Zahlen. Bzgl. geeignet definierter Äquivalenzklassen lassen sich die rationalen und irrationalen Zahlen zu den reellen Zahlen und die reellen und imaginären Zahlen zu den komplexen Zahlen vereinigen. Geeignet sind Äquivalenzklassen, die die algebraische Struktur erhalten, so daß weiter mit den gleichen Rechenregeln gearbeitet werden.

Worauf ich noch hinweisen möchte, ist, daß wir im Fortgang des Auftretens und Lösens der mathematischen Strukturprobleme eine leicht nachvollziehbare Interpretation von Dialektik im Modell der Ebenen und Krisen erhalten haben. Das Abstrahieren als Lösungsmethode von Strukturproblemen bewährte sich nicht nur in der Mathematik, sondern auch in vielen anderen Wissenschaften, wie der Physik und Informatik sowie der Psychologie und Ökonomie. Das Konzept der Typenlogik Russells zur Unterscheidung unvereinbarer Sprachebenen und die Gruppentheorie zur Auszeichnung abgeschlossener Strukturen übertrug Paul Watzlawick auf die Psychotherapie. Und die Dialektik von Arbeit und Kapital läßt sich im Fortgang des Abstrahierens von Arbeits- und Tauschwerten rekonstuieren.

Kommen wir von der Grundlegung der Formalwissenschaften zu den Realwissenschaften. In ihnen geht es nicht nur um das theoretische Argumentieren mit Formeln, sondern um das praktische Handhaben von Realien. Das Sprachhandeln kann dafür nicht hinreichend sein. Wesentlich zur Gewinnung von empirischem Wissen ist das Tathandeln. Nach der Sprachpraxis des Miteinanderredens ist die Handwerkspraxis in den Werkstätten zu rekonstruieren. Im Unterschied zur Sprache, die der intersubjektiven Kontrolle bedarf, sind es beim Werken die Eigenheiten der Dinge selbst, die eine Erfolgskontrolle gestatten. Geräte funktionieren zweckmäßig - oder eben nicht. Gleichwohl bedarf natürlich die wissenschaftliche Redlichkeit der ständigen Überprüfung durch die scientific community. Unseren Vorfahren gelang z.B. der Bau von Mammutfallen, das Fertigen von Speeren, das Aushöhlen von Einbäumen so gut, daß sie überlebten und sich behaupten konnten. Bis heute sind wir lebenspraktisch an die Periodizität von Tag und Nacht gewöhnt. Neben der Bestimmung von Dauern, z.B. durch das Zählen der Sonnenaufgänge oder der Mondzyklen, lernten unsere Vorfahren auch die Abschätzung von Entfernungen, z.B. durch Vergleich mit Fußlängen oder Wurfweiten. Den Realwissenschaften ging also eine langjährige Meßpraxis zur Bestimmung von Dauern, Entfernungen und Gewichten voran. Sie gilt es zu rekonstruieren. Denn im Selbstverständnis der methodischen Konstruktivisten ist Wissenschaft bloß hochstilisierte Lebenspraxis. Schauen wir zu, was darunter zu verstehen ist.

Im Gegensatz zur unmittelbar über Leben und Tod entscheidenden Erfolgskontrolle im Lebensalltag unserer Vorfahren, entstand die Wissenschaft im Schutz hoher Stadtmauern der frühen Hochkulturen, z.B. mit der Beobachtung des Sternenhimmels oder der Ausmessung von Baugelände. Neben kontrollierter Beobachtung und Messung ist seit Galilei das Experiment zentraler Bestandteil der Erfolgskontrolle empirischer Hypothesen. Was es zu rekonstruieren gilt, ist also die Physik als quantitative Experimentalwissenschaft. Quantitativ ist das Messen durch Vergleich von Entfernungen, Dauern und Gewichten mit Standard-Einheiten. Das Messen liefert also dimensionslose Verhältniszahlen. Z.B. wie häufig ein Fuß als Wegeinheit in der Entfernung zum Tempel enthalten ist. In der Schule wird erzählt, daß physikalische Größen immer aus einem Zahlenwert und einer Maßeinheit bestehen. Genaugenommen ist das nicht ganz richtig. Es soll lediglich daran erinnern, welche Einheit der Messung zugrunde gelegt wurde. In der Meßpraxis entstand übrigens ein Einheitenproblem, das als Inkommensurabilitätsproblem in die Wissenschaftsgeschichte einging. Was ist zu tun, wenn z.B. die Zahl der Wegeinheiten nicht ganzzahlig in der zu messenden Entfernung aufgeht? Es sind die rationalen Zahlen zu abstrahieren oder die Einheiten zu verkleinern. Bereits in der Antike trat zudem das Problem auf, daß Entfernungen sogar irrational sein konnten. Ich will hier die mathematische Fragestellung nicht weiter vertiefen, aber auf den Euklidischen Algorithmus verweisen, mit dem die Kommensurabilität zweier Zahlen durch Bestimmung des größten gemeinsamen Teilers gelingt.

Kommen wir zum Experiment. Es dient der Erfolgskontrolle und muß reproduzierbar sein. Die Reproduzierbarkeit ist eine sehr starke Forderung und setzt viel Geschick und Erfindungsreichtum beim Experimentieren voraus. Bei den heutigen Experimenten in der Hochenergiephysik z.B. sind jeweils weltweit mehrere hundert Wissenschaftler und eine Vielzahl von Ingenieuren und Technikern beteiligt. Aus dem Zwang zur weltweiten Teamarbeit heraus ist ja auch das WWW entstanden. Ich komme zum Grundproblem einer methodischen Rekonstruktion der Physik. Das Experiment dient der Bestätigung einer Hypothese, z.B. der Voraussage, daß die Fallbeschleunigung unabhängig vom Gewicht des fallenden Steins ist. Galilei übertrug das Problem auf die schiefe Ebene. Die so meßbaren Falldauern bestimmte er in Einheiten seines Pulses oder indem er sie mit der Wasserstandsänderung in einem Behälter verglich, aus dem er zugleich kontinuierlich Wasser auslaufen ließ. Man muß sich zu helfen wissen; denn es gibt ein grundsätzliches Meßproblem. Wie kann ich die Konstanz und Invarianz der Maßeinheiten garantieren, ohne bereits auf wissenschaftliche Hypothesen zurückgreifen zu können? Die Antwort der Konstruktivisten lautet: durch Ideation. Wie gelangen wir zur Auszeichnung einer geraden Linie oder ebenen Fläche als Basis der Geometrie? Wie konstruieren wir eine gleichförmige Bewegung zur Grundlegung der Chronometrie? Im Schulunterricht werden Raum und Zeit einfach als Grundgrößen unterstellt. Wissenschaftstheoretiker können sich diese Nachlässigkeit nicht erlauben. Lorenzen hat nun ein Ideationsverfahren vorgeschlagen, daß aus zwei Schritten besteht:

1.
Es werden Homogenitätsprinzipien für reale Ecken, Kanten und Seiten von Dingen formuliert.
2.
Die Ideation von einer realen Seite eines Dinges zur idealen Ebene eines Körpers erfolgt durch logische Ableitung aus dem Homogenitätsprinzip.

Es ist wichtig hervorzuheben, daß es sich beim Homogenitätsprinzip um eine Norm handelt. Zur Auszeichnung einer Ebene wird z.B. die Ununterscheidbarkeit aller Bereiche einer Seite gefordert. Diese Norm wird z.B. realisiert durch das Dreiplattenverfahren des aufeinander Abschleifens je zweier Steine. Zwei Seiten werden dadurch hinsichtlich ihres Passens durch Verschiebung aufeinander ununterscheidbar. Wesentlich beim Ideieren ist das Realisierungsverfahren. Ideale existieren nur bzgl. einer Realisierung. Genau wie beim Abstrahieren werden auch beim Ideieren keine neuen Gegenstände erzeugt. Es wird lediglich so getan, als ob die (ideale) Norm (real) erfüllt worden sei. In logischer Formulierung:

\begin{displaymath}
(H(r) \rightarrow A(r)) \Rightarrow (A(r) \Rightarrow A(i)) \end{displaymath}

H(r) steht für ein Homogenitätsprinzip bzgl. eines realen Terms r. A(i) meint eine Aussageform bzgl. eines idealen Terms i. Reale Terme, wie Ecken und Kanten, sind Bestandteil der Handwerkspraxis. Ideale Terme, wie Punkte und Geraden, sind Ausdrücke der Geometrie. Die Ideation ($\Rightarrow $) von Aussageformen mit realen Termen zu Aussageformen mit idealen Termen kann vollzogen werden, wenn die Aussageform logisch aus dem Homogenitätsprinzip folgt.

Die Erlanger haben das Ideationsverfahren mit Erfolg zur methodisch geordneten Auszeichnung von Strecken, Dauern, Massen und Ladungen angewandt. Die Details können ihrer Protophysik entnommen werden. Ich will hier nur noch anmerken, daß auch die Bestimmung von Dauern durch uhrenfreien Vergleich der Gleichförmigkeit von Bewegungen möglich ist. Neben Raum und Zeit gehören zur Realisierung von Experimenten natürlich noch eine Fülle weiterer Normen. Die quantitative Reproduzierbarkeit als Leitforderung des Experimentierens jedenfalls ist allein technisch, d.h. vorwissenschaftlich erfüllbar. Der Physik als Experimentalwissenschaft gehen nicht nur Sprachpraxis und Mathematik voran, sondern auch Handwerk und Technik. Das ist der Grund, warum die Konstruktivisten die Physik lediglich als Hilfsdisziplin der Ingenieurwissenschaften einstufen.

Zu Realien werden die schlicht vorgefundenen Dinge, indem wir sie bearbeiten, Hand anlegen. Betrachten wir als Beispiel einen Tisch. Der Weg seiner Herstellung führt aus dem Wald über verschiedene Transportwege, das Sägewerk, die Möbelfabrik und das Möbelgeschäft zum Nutznießer in die Wohnung. Den Wald finden wir zunächst einfach vor. Egal ob wir die Bäume als Schattenspender nutzen oder roden, um Möbel herzustellen. Es gehört zu den Eigenheiten von Holz, daß es nicht lichtdurchlässig ist und schwimmt, so daß wir als Transportwege auch Flüsse wählen können. Ein durch Blitzschlag getroffener Baum falle ins Wasser und werde mit der Strömung fortgerissen. Das Holz des Baumes ist in beiden Fällen leichter als Wasser, egal ob wir den Baum rodeten oder ein Unwetter ihn niederriß (sofern es sich nicht um Eisenholz handelt). Mit Eigenheiten sind die quasi zweckinvarianten Eigenschaften des Holzes gemeint. Und daß wir Rohstoffe wie Holz einfach vorfinden, ist eine Erfahrungstatsache der Lebenspraxis. Als sicher erweisen sich also lediglich methodisch geordnete Verfahren hinsichtlich ihrer Zweckmäßigkeit. Wenn wir uns auf den Zweck der Physik als einer quantitativen Experimentalwissenschaft geeinigt haben, kommen wir nicht um eine normative Bestimmung des Experimemtieraufbaus herum. Empirisch am Ausgang eines Experiments ist lediglich die Quantität einer Meßgröße; ihre Qualität ist normativ und kann mit den Mitteln des Experiments natürlich nicht in Zweifel gezogen werden. Normative Gewißheit und empirische Fehlbarkeit ergänzen einander, sie widersprechen sich nicht.

Zum Abschluß seien stichwortartig die Lebenspraxen benannt, aus denen neben Mathematik und Physik Informatik, Biologie und Soziologie hochstilisiert werden können:

Der Konstruktivismus Lorenzens ist unterdessen von seinem Schüler Peter Janich zu einem methodischen Kulturalismus weiterentwickelt worden. Um dem Kulturrelativismus zu entgehen, hat er das Vernunftprinzip zum Kulturprinzip erweitert: Alle Begründungen und Rechtfertigungen finden zulässige Anfänge in präaktiven und prädiskursiven Konsensen, die durch eine schon erreichte Kulturhöhe ausgezeichnet sind. Neben der alltagspraktisch eingespielten Umgangssprache im prädiskursiven Konsens ist es die ebenfalls alltagspraktisch funktionierende Technik, die den präaktiven Konsens fundiert. Die hochstilisierten Redenormen der rationalen Grammatik regulieren das Sprachhandeln im Diskurs. Die instrumentell bewährten Herstellungsregeln der Technik regulieren das Tathandeln innerhalb der erreichten Kulturhöhe. Die praktische Bewährtheit instrumentellen Handelns ist letztlich der Dreh- und Angelpunkt des Begründungsproblems. Im Gegensatz zum Kulturrelativismus Kuhns und Feyerabends sieht Janich in der Struktur technischer Innovationen einen Bezug zur kultur-invarianten Auszeichnung der Kulturhöhe: Technikentwicklung in einem handlungstheoretischen Verständnis soll dabei als Modell für das Erreichen von Kulturhöhen dienen, in die sich jedes Individuum einzuleben hat. Das wesentliche Argument für die Auszeichnung von Kulturhöhen ist in der Tatsache zu finden, daß die gesamte Geschichte der messenden und experimentierenden Wissenschaften nur eine monoton steigende Zunahme von Zahl und Genauigkeit der meßbaren Parameter kennt.

Wenngleich die Problematik dieses technikbezogenen Ansatzes noch zu diskutieren sein wird, liefert er gleichwohl die praktisch-tätige Basis für einen analytischen Materialismus, der den Intentionen der ursprünglichen kritischen Theorie näher steht als die Universalpragmatik im Rahmen kommunikativen Handelns. Nach dem linguistic turn zur analytischen Philosophie und dem pragmatic turn zum methodischen Konstruktivismus geht es Janich mit dem Vorschlag zur kulturalistischen Wende um einen Weg zwischen metaphysischem Naturalismus und gescheiterter Postmoderne. Dieses Anliegen kann als erneuter Versuch gewertet werden, den Graben zwischen den beiden Kulturen der Wissenschaft und der Literatur einzuebnen. Zudem eignen sich Invarianten wie die kumulative Entwicklung der Technik und der Naturwissenschaften auch zur Überwindung der Gräben zwischen einander fremden Kulturformen auf der Erde.


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4/11/1999