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Vom Kritischen Rationalismus zur
Strategie der Vernunft

Frankfurter und Kopenhagener haben die einseitig analytische Auffassung der Wissenschaft bei den Wienern durch Verweis auf den sozialen und experimentellen Zusammenhang kritisiert, in dem Theorien zu sehen sind. Karl Raimund Popper , der Begründer des kritischen Rationalismus, hat Anstoß am Begründungsdenken der Neopositivisten genommen. Nicht beweisen, sondern widerlegen! war sein Motto. Popper wurde am 28.7.1902 in Wien geboren. Er wuchs in einem liberalen Elternhaus auf. Sein Vater war Jurist und unterhielt eine umfangreiche Hausbibliothek. Er arbeitete als Anwalt und engagierte sich in der Sozialfürsorge. Karls Mutter war sehr musikalisch und spielte wunderbar Klavier. Karl hatte eine behütete Kindheit. Im Rückblick bezeichnet er sich als ein bißchen brav, nennt sich sanftmütig und hebt sein starkes Gefühl des Mitleids hervor. Bereits in der Kindheit beschäftigten ihn die Probleme des unendlichen Weltraums und der Herkunft der Lebens. Als Folge einer frustrierenden Diskussion mit seinem Vater, versuchte Karl sich eine erste Maxime einzuprägen: niemals über Worte und ihre ,,wahre`` Bedeutung zu argumentieren. So entstand in ihm eine erste Abneigung gegen die Philosophie: Laß dich nie dazu verleiten, Probleme ernst zu nehmen, bei denen es um Worte und ihre Bedeutung geht. Was man ernst nehmen muß, sind Fragen und Behauptungen über Tatsachen: Theorien und Hypothesen; Probleme, die sie lösen; und die Probleme, die sie aufwerfen. Seine spätere Begegnung mit dem Marxismus bestärkte ihn in seiner kritischen Haltung, machte ihn zum Fallibilisten und lehrte ihn, wie wichtig intellektuelle Bescheidenheit sei.

Den wohl wichtigsten Einfluß auf Karls Denken übte Einstein aus. 1919 bestätigte eine britische Expedition erstmals die allgemeine Relativitätstheorie. Karl war beeindruckt von Einsteins populärwissenschaftlicher Feststellung, daß er seine Theorie als unhaltbar aufgeben würde, wenn sie den Überprüfungen nicht standhielte. Die Begegnung mit der Relativitätstheorie machte Popper zum Falsifikationisten, führte ihn zu dem Schluß, daß die wissenschaftliche Haltung, die nicht auf Verifikation ausging, sondern kritische Überprüfungen suchte: Überprüfungen, die die Theorie falsifizieren konnten, aber nicht verifizieren. Denn sie konnten die Theorie niemals als wahr erweisen.

1922 legte Popper seine Reifeprüfung als Privatschüler ab und begann das Studium zum Hauptschullehrer. Er träumte davon, eines Tages eine Schule zu gründen, in der junge Menschen lernen konnten, ohne sich zu langweilen; in der sie angeregt würden, Probleme aufzuwerfen und zu diskutieren. Neben dem Studium absolvierter Karl eine Tischlerlehre und begann, sich mit den Problemen der Abgrenzung und der Induktion in den empirischen Wissenschaften zu beschäftigen: Wie konnte man wissenschaftliche Theorien (wie die Einsteins) von pseudowissenschaftlichen (wie die von Marx, Freud und Adler) abgrenzen? Wie konnte man lernen ohne Induktion? fragte er sich. Die Lösung des Abgrenzungsproblems sah er in der Falsifizierbarkeit und das Induktionsproblem löste er durch die Methode von Versuch und Irrtum. Erst später erkannte er, daß das Induktionsproblem im wesentlichen aus einer falschen Lösung des Abgrenzungsproblems entsteht.

Nach der Tischlerlehre arbeitete Popper mit sozial gefährdeten Kindern und begann am neugegründeten pädagogischen Institut bei Karl Bühler Psychologie zu studieren. Bühlers Funktionstheorie der Sprache und seine Denkspychologie übten nachhaltigen Einfluß auf seinen Schüler aus. Dem waren die drei Sprachfunktionen (Ausdruck, Appell, Darstellung) allerdings nicht ausreichend; und so ergänzte er sie um die argumentative Funktion, die er als Grundlage von allem kritischen Denken ansah. Die Denkpsychologen gingen ebenfalls davon aus, daß Denken nicht mithilfe von Bildern erfolge, sondern von Problemen und Lösungsvorschlägen handele. In seiner Dissertation Zur Methodenfrage in der Denkpsychologie wandte Popper sich dann von der Psychologie zur Methodologie. Sein Grundlagenwerk Logik der Forschung veröffentlichte er 1934 nach intensiven Auseinandersetzungen mit der wissenschaftlichen Weltauffassung des Wiener Kreises. Nachdem Karl 1930 eine Lehrerkollegin geheiratet hatte und seine Logik der Forschung ein großer Erfolg wurde, gab er 1937 seine Stellung als Lehrer auf, um eine Professur in Neuseeland anzutreten. Die Faschisten machten einen weiteren Aufenthalt in Wien ohnehin unmöglich. Im März 1938 fielen Hitlers Truppen in Österreich ein und verleibten des Führers Heimat dem Deutschen Reich ein. Unter dem Eindruck des Totalitarismus übertrug Popper seine Gedanken aus der Erkenntnistheorie auf die Sozialphilosophie. Er wurde zu einem leidenschaftlichen Verfechter von Objektivität und Freiheit, um das Elend des Historizimus aufzuzeigen und die Feinde der offenen Gesellschaft bloßzustellen. Dem Systemdenken gegenüber trat er für eine Politik der kleinen Schritte ein. Sein Problemlöse-Ansatz arbeitete Popper zu einer Stückwerk-Technologie aus. 1946 siedelte er nach England über, um eine Professur an der London School of Economics anzutreten. Popper wirkte bis an sein Lebensende im Jahre 1994 als unermüdlicher Protagonist für die Werte des kritischen Rationalismus .

Im Rückblick ist hervorzuheben, daß sich Poppers Denken aus seiner Abneigung gegenüber wortreicher Philosophie und dogmatischer Pseudowissenschaft herausbildete. Sein zentrales Wissenschaftskriterium der Falsifizierbarkeit übernahm er von Einstein; allerdings ohne zu sehen, daß er nur die halbe Wahrheit bedacht hatte. Denn Einsteins Wissenschaftsideal war die innere Vollkommenheit einer Theorie; die äußere Bewährung war ihm sekundär. Er schrieb : Es ist klar, daß man im allgemeinen eine Theorie als umso vollkommener beurteilen wird, eine je einfachere Struktur sie zugrunde legt und je weiter die Gruppe ist, bezüglich welcher die Feldgleichungen invariant sind. Also am Widerstreit der Einfachheit (der mathematischen Struktur) und der Reichhaltigkeit (der Transformationsgruppe) sind physikalische Theorien zu entwickeln. Einsteins Maxime hat sich bis heute bewährt und zu einer großen Vereinheitlichung der Quantenfeldtheoien geführt. Ihre Verbindung mit der allgemeinen Relativitätstheorie steht allerdings noch aus. Wie Heisenberg aber bereits 1948 hervorhob, werden abgeschlossene physikalische Theorien nicht durch Falsifikation widerlegt, sondern lediglich in ihrem Gültigkeitsbereich eingeschränkt. So nimmt es nicht wunder, daß auch die klassischen Theorien Galileis, Newtons, Maxwells und Boltzmanns nach wie vor Geltung beanspruchen. Der weltweite Erfolg Poppers ist also schwerlich wissenschaftlich zu verstehen. Er scheint vielmehr politisch motiviert zu sein, da seine Leidenschaft für Objektivität und Freiheit, kritische Prüfung und Stückwerk-Technologie eher zum demokratischen Politikverständnis als zur Logik der Forschung beiträgt. Folgerichtig ist Poppers Philosophie unterdessen zur Strategie der Vernunft verallgemeinert worden. Kritisch rationales Problemlösen vermag sicher den pseudowissenschaftlichen Nebel in Erkenntnistheorie, Ethik und Metaphysik zu lichten; in den Wissenschaften taugt es aber lediglich als Heuristik.

Der Popperfan Hans Joachim Niemann schreibt in seinem Buch: Die Strategie der Vernunft: Die Technik, Probleme zu lösen, wurde nirgendwo besser entwickelt als in den Wissenschaften ... Eine Übertragung der wissenschaftlichen problemlösenden Vernunft auf andere Bereiche des menschlichen Lebens ist das erklärte Programm des kritischen Rationalismus. Damit wird Poppers Übertragung der Denkpsychologie auf die Logik der Forschung wieder rückübertragen; wohl mit der Absicht, den kritischen Rationalismus als wissenschaftliche Methodologie auszuweisen. Ein allerdings überzogener Anspruch. Denn kritische Rationalisten haben sich weder durch ein mathematisch-theoretisches noch um ein experimentell-praktisches Verständnis der Naturwissenschaften ausgezeichnet. Trotz aller Kritik an wortreicher Philosophie und analytischer Selbstbeschränkung, sind die Strategen der Vernunft auch nur der Sprache verhaftet geblieben. Gleichwohl bleibt ihr Ansatz äußerst fruchtbar: Vernunft ist eine universelle Problemlösestrategie. Ihre Basis ist der Realismus des Alltagsdenkens. Wahrheit ist eine regulative Idee, die die Richtung des Voranschreitens bestimmt. Die Suche nach Wahrheit ist dasselbe wie die Suche nach der besseren Alternative: korrigierende Kritik lebt von der Alternative. Und Rationalität gilt schlicht als der Wille zur unparteiischen Problemlösung: Finde heraus, worin genau dein Problem besteht, und suche unparteiisch nach der bestmöglichen Lösung! Dieser erfrischend alltagstaugliche Imperativ macht die Philosophie der vielen Worte zu bloßem Brimborium.

So symphatisch und verständlich der Niemann'sche Imperativ auch scheinen mag, er bleibt blind gegenüber der gesellschaftlichen Totalität und dem Holismus des Mikro- und Makrokosmos. Der individuell gemeinte Imperativ wird aber zwanglos ergänzt durch die gesellschaftskritische Maxime der Frankfurter: unter den gegebenen technischen Bedingungen eine Veränderung der Gesellschaft zum Richtigen zu erstreben. Die Stückwerk-Technologie ist durch Systemanalyse zu bereichern. Und wie die drohende Klimakatastrophe zeigt, ist eine Gesellschaftsanalyse nur sinnvoll im Rahmen der Ökosystemforschung: Global denken und lokal handeln!

Die Aufforderung zu unparteiischer Problemlösung läßt sich aber noch weiter fassen. Genau genommen handelt es sich nämlich um eine Invarianzforderung wie sie in Physik und Technik gang und gäbe sind und in Politik und Gesellschaft als Forderung an die Menschenrechte zu stellen wäre, nämlich kulturinvariant zu sein.

Im Anschluß an die Evolutionstheorie kann Leben schlechthin als Problemlösen verstanden werden. Entwicklungsbestimmend ist dabei aber eine Vernunft, die dem Darwin'schen Optimierungsverfahren zur Genverteilung folgt. Im Rahmen der Naturgeschichte ergänzt es das Boltzmann'sche Optimierungsverfahren zur Energieverteilung. Insofern setzen Menschen fort, was mit der Selbstentwicklung der Energie und der Gene begann; denn Optimierung ist die einfachste Form von Veränderung. Als Extremalprinzip bei der Variation sogenannter Wirkungsintegrale erlaubt die Optimierung sogar die Ableitung der grundlegenden physikalischen Feldgleichungen. Den Invarianten der Gleichungen entsprechen dabei Erhaltungssätze physikalischer Größen. Die auch als Symmertrien formulierbaren Invarianzen sind es, die aus dem Quantenbit den dreidimensionalen Raum entstehen lassen. D.h. die Rotationsymmetrie des Raumes kann als Folge der sogenannten unitären Ur-Symmetrie aufgefaßt werden.

Und Invarinzforderungen sind es auch, die in nachvollziehbarer Weise ein Abstrahieren und Idealisieren möglich machen, das sogar den Begründungsansprüchen der methodisch vorgehenden Konstruktivisten genügt. Schauen wir zu, wie sich damit die Alltagspraxis zur Wissenschaft verfeinern läßt.


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Ingo Tessmann
4/11/1999