I'm not there
stand auf dem Programm der Zeise-Kinos. - Und in der Tat, nicht
Bob, sondern Stephenie
war da. Lenz hatte sich mit Bella verabredet, um an einer Lesung teilzunehmen, obwohl er eigentlich zur
gleichen Zeit am gleichen Ort ins Kino gehen wollte. Was war das wieder für eine Koinzidenz zweier entlegener
Ereignisse? Ströme von Schülerinnen drängten sich in den Kinosaal. Auch einige schwarze Gestalten mit weißen
Gesichtern, umschatteten Augenhöhlen und blutroten Lippen waren darunter. War das nicht Emily? Lenz meinte die
niedliche Nihilistin ausgemacht zu haben, die ihn kürzlich in Ottensen angebettelt hatte, obwohl sie zwar
leichenblass, aber sonst ganz propper aussah. Sie war unverhofft am Spritzenplatz aus der Gruppe herumlungernder
Punker hervorgestoßen worden. Um sie nicht umzurennen, hatte er sie in den Arm heben und mitnehmen müssen. Die
schwarzen Irokesen quittierten seine Reaktion mit lautem Gejohle. Von welchem Stern bist du mir
denn zugefallen? Seine Ansprache verschlug ihr für einen Moment die Sprache. Ich wollte bloß
einen Euro, brachte sie kleinlaut hervor. Und ich wollte gerade zum Essen ins Eisenstein; komm
doch einfach mit. Zu seiner Verblüffung hatte sie die Einladung abgelehnt und
sich lieber ein Buch gewünscht: Eclipse von Stephenie Meyer. Daraus würde die Autorin heute
vorlesen. Bella drängte ungestüm nach vorne und Emily verschwand im Gewühl. Nach einigem Gedränge
fanden sie zwei Plätze im Mittelteil. Langsam trat Ruhe ein und Lenz schaute sich um. Er war der einzige
Mann hier unter den vielen Mädchen. Die Situation schien ihm so unwirklich wie in einem Traum. Lenz
sah zur Seite. Bella hatte ihr Buch dabei, um es später signieren zu lassen. Sie las ihm das einleitende
Gedicht Fire and Ice
von Robert Frost
vor. Es war leitmotivisch für das ganze Buch gemeint, in dem
kalthäutige Vampire mit heißblütigen Werwölfen unter den Menschen lebten. In zwei von ihnen hatte sich
Bella verliebt, so dass sie als wohltemperiertes Menschenkind zwischen Feuer und Eis schwankte. Lenz musste
bei den Mataphern nicht nur an den möglichen Kältetod des Universums durch fortgesetzte Entropiezunahme
denken, sondern auch an die Überlagerung von Liebe und Hass im menschlichen Gefühlsspektrum. Waren nicht
Feuer und Eis zwei weitere Metaphern für das Wechselspiel im Temperament der Warmblütler? Als christliche
Moralistin plädierte die Autorin geschickt für die Balance zwischen den Gefühlsextremen und hielt den
Spannungsbogen der Geschichten stets auf einem Niveau, das pubertierende oder noch von der großen Liebe
schwärmende Mädels bei der Stange hielt. Fieberhaft erwarteten sie den für August angekündigten
vierten Band Breaking Dawn.
Nach der Finsternis des Unverständlichen, Verborgenen und Rätselhaften brach mit der Morgenröte die Erlösung
an. Der Unterirdische, der Wühler, der Maulwurf konnte wieder Mensch werden.
Nietzsche untergrub die
christliche Moral aus Moralität, maß sie an ihrem eigenen Anspruch und erreichte das Jenseits von Gut und
Böse. Während Bella in der langen Schlange darauf wartete, ihr Buch signiert zu bekommen, machte Lenz sich
auf den Heimweg und hing seinen Gedanken nach. Es dämmerte bereits, aber den Sternen gleich brachte der tolle
Mensch den Menschen das Licht sogar bei Tage. Am klaren Himmel waren die ersten Lichtpunkte der fernen Sonnen
auszumachen. Lenz musste an Emily denken, die ihm einst vor die Füße gefallen war. Er wagte seinen Augen nicht
zu trauen. Denn geradewegs vor ihm ging sie langsam den Erdmannsweg in Richtung Elbe hinunter. Sie hatte seine
Schritte gehört und sich umgedreht. Hi Emily, rief Lenz erfreut. Na, hat's dir gefall'n? Sie
verstand nicht gleich, was er meinte. Some say the world will end in fire / some say in ice, half er ihr
auf die Sprünge. Sie lächelte ihn an und war erstaunt darüber, dass er auch auf der Lesung gewesen war.
Eigentlich wollte ich in den Dylan-Film. Sie wandten sich zum Weitergehen und nach einer Weile
bedeutungsvollen Schweigens fragte er, ob sie nicht später noch mitkommen wolle in die Nachtvorstellung.
Eigentlich, begann sie ironisch, dachte nach und erwog wohl ihre Alternativen: Ok, um halb elf
werde ich wieder da sein. Jetzt muss ich aber weiter. Nachdem sie sich verabschiedet hatte, blieb er noch
eine Weile stehen und schaute ihr unschlüssig nach. Warum hatte er Bella eigentlich alleine warten lassen?
Hatte sie ihn vielleicht weggeschickt? Oder war er einer seiner seltsamen Ahnungen gefolgt?
Er konnte sich keinen Reim darauf machen. Kurz entschlossen ging er zurück und traf sie noch in der
Schlange der sich freudig erregt unterhaltenden Mädels an. Beide hatten nicht zu Abend gegessen. Im Eisenstein
war zum Glück noch ein Tisch frei. Sie setzten sich einander gegenüber. Bella schaute von der Speisekarte auf
und hinter ihren großen braunen Augen lag - ja, was eigentlich? Der Untergrund, das Rätselhafte?
Seine Herkunft? Lenz fühlte sich auf den Schoß seines Opas versetzt, dem er fasziniert in seine
großen braunen Augen schaute. Hatte Bella ihn wieder auf eine Zeitreise geführt? Lenz rutschte Opa
vom Schoß und stand auf einer Waldlichtung einem Reh gegenüber, sah sich während einer Klassenfahrt im
Zelt mit Lo vergnügen und in der Disko Mira umklammern, sich mit Ellis in ihr WG-Zimmer zurückziehen und -
auf dem Weg zu Bella: Wo wohnst du eigentlich? Soll ich dir später ein Taxi rufen? Anna blickte Lenz
amüsiert an. Er sorgte sich wie ein Vater um sie. Nicht nötig, ich nehme die S-Bahn.
Im Dylan-Film war Emily das einzige Mädchen unter alten Männern. Die komplementäre Situation hinsichtlich
Alter und Geschlecht galt auch für die Besetzungszahl. Stephenie las im überfüllten großen Saal,
I'm not there lief im spärlich besuchten kleinen Kino. Lenz fühlte sich in seine Jugendzeit
versetzt und Emily erlag ihrer morbiden Schwäche für Gruftis, die in vielfältigen Verwandlungen erschienen.
Bob Dylan wurde als Folk-Hobo und Beat-Poet, Liebhaber und Spaßmacher, Outlaw und Folk-Rocker verkörpert.
Die beste Darstellung des Folk-Rockers gelang ausgerechnet einer Frau, Cate Blanchett. Lenz musste an Eva
Mattes denken, die einmal ähnlich souverän
Rainer Werner Fassbinder
auf die Leinwand gebracht hatte. Der
war allerdings schwul und damit dem Frauenhirn näher als ein heterosexueller Mann. Emily entflammte für den
charmant ergrauten Richard Gere, der sich in der Rolle des Outlaws gefiel. There must be some way out of
here, war eine Liedzeile, die in ihr nachwirkte. Wie oft hatte sie nicht schon aus sich und ihrer Welt
herauskommen wollen. Die beiden waren in den Vogel gegangen und saßen beim Bier an einem Ecktisch
zusammen. Du bist doch Physiker. Wie können wir unserem Sein entfliehen?, wandte sie sich an Lenz.
Physikalisch ist mit Sein das gemeint, was erhalten bleibt im Wandel. Letztlich die Energie,
die in allem wirkt und alles schafft. Sprachphilosophisch wird das Sein durch die Analyse des Sprachgebrauchs
des Wortes ,,ist`` bestimmt. Und existentialistisch legen unsere Handlungen fest, was wir sind.
Lenz nahm einen großen Schluck vom Bier und hörte erfreut, dass der Wirt gerade den Soundtrack zum Film
als Background-Musik aufgelegt hatte. Nach Sartre sind wir zur Freiheit verurteilt und können wählen.
Aber ist das wirklich so? Jetzt griff auch Emily zu ihrem Glas und trank gierig vom flüssigen Brot.
Bevor sie sich den herzigen Schaumbart aus ihrem kindlichen Antlitz wischen konnte, hatte Lenz sich erkühnt,
ihn ihr liebkosend abzuküssen. Zunächst war sie zusammengezuckt und hatte erwogen, sich ihm zu entziehen. Aber
schließlich war es nicht unangenehm und so ließ sie es geschehen. Unterdessen hatte Lenz sich mit den Lippen
ihrem linken Ohr genähert. Ich war so frei, flüsterte er wie zur Erläuterung der These Sartres.
Wir sind, was wir tun. Aber was bleibt erhalten in unserem Handeln? Gier? Neugier? Information? Was sind
die Handlungsinvarianten? Mit dieser Frage leitete er beiläufig vom
Existentialismus zur Physik über.
Unserem Genom wohnt eine Tendenz zur Weitergabe inne, die mich bewogen hat, dich zu küssen,
weil ich ein Mann bin und du eine Frau. Emily lachte hell und laut auf, umschäumte und befeuchtete
erneut ihr Gesicht und schaute Lenz herausfordernd an. Bin ich jetzt noch frei?, wollte er
wissen. Warst du es denn vorher? Sie schaute ihn schelmisch an. Kosmische und
menschliche Natur legen den Rahmen fest, der unser Handeln einschränkt. Zudem sind es die anerzogenen
Verhaltensweisen und Gewohnheiten, die unseren Freiheitsspielraum begrenzen. Die beiden bestellten noch
zwei Bier. Billy, they don't like you be so free. Neben den äußeren Zwängen des Gesetzes sind es
vor allem die Zwangsneurosen des zivilisierten Menschen, die ihn einschränken. Zu den Enen und Genen
kommen noch die Meme, die selbstkonsistenten Replikatorgleichungen genügen, um sich fortzeugend zu
erhalten, setzte Lenz seinen Gedanken fort und kam endlich zu einer Antwort ihrer Frage: Letztlich
kannst du deinem Sein nicht entfliehen, brauchst es aber auch nicht, da es sich ständig selber wandelt.
Das gilt für die physische, lebende und mentale Ebene gleichermaßen. Genau genommen sind nicht
einmal die Genome eineiiger Zwillinge identisch. Emily befriedigte diese Antwort nicht, aber sie hatte
das Leben noch vor sich und gewann daraus immerhin die Perspektive, dem Wandel in ihrem Sein auf der
Spur bleiben zu wollen. Der Wirt stellte zwei aufgeschäumte Halbe auf den Tisch und drehte die Musik
lauter. Lenz und Emily hingen noch einige Zeit ihren Gedanken nach - bis ein Song sie mitgehen ließ:
She's gone with the man in a long black coat.
Lenz schlief bis tief in den nächsten Morgen hinein. Es war Freitag und am frühen Nachmittag stand lediglich
eine Führung von Schülerinnen eines Physik-Leistungskurses auf seinem Terminkalender.
DESY und andere
Forschungsinstitutionen und Universitäten waren seit einigen Jahren dazu übergegangen, bereits in den
Schulen um den wissenschaftlich-technischen Nachwuchs zu werben. Unter den Mädchen war das Potential
besonders groß, da es aufgrund der unsäglichen deutschen Geschichte für Frauen immer noch die Regel war,
sich eher für sprachliche, soziale oder ökonomische Berufe zu interessieren als Begeisterung für
mathematische, natur- oder ingenieurwissenschaftliche Betätigungsfelder aufzubringen. Da die Bierschwere
aus dem Kopf in die Blase gesackt war, erwachte Lenz mit Harndrang und wollte gerade schwungvoll aus dem
Bett federn, als er durch das lieblich-verträumte Antlitz eines schlafenden Mädchens zum Innehalten genötigt
wurde. Gerührt verharrte er in stiller Betrachtung. Emilys Gesichtszüge waren weich und entspannt,
den Mund mit ihren noch immer blutroten Lippen hatte sie leicht geöffnet, atmete aber in langen Zügen
durch ihre zierliche Nase, die sich in einem leichten Höhenschwung über der Mundpartie erhob. Sie lag
auf der Seite und ihre kurzen schwarzen Haare verdeckten nicht das vortrefflich mit dem Kieferknochen und der
Halslinie harmonisierende Ohr. Emilys Liebreiz zog Lenz in seinen Bann, aber er widerstand der Versuchung,
ihr etwas einzuflüstern. Umsichtig glitt er vom Lager und schlich ins Bad.
Nach dem Pinkeln und Duschen setzte er die Kaffeemaschine in Betrieb und schaute durchs Küchenfenster
in einen diesigen Wintermorgen. Auf der Wiese vor dem Haus hatten sich einige Krähen niedergelassen und am
Rande einer Hecke schlich sich eine zierliche, schwarz-weiße Katze geschmeidig an eine arglos im Gras pickende
Amsel heran. Sollte seine Schülerin nicht längst in der Schule sein? It's healthy to ditch class now and
then. Hatte Edward damit nicht immer wieder Bella zu Unternehmungen überreden können?
Lenz startete um der Gesundheit willen für seine sweet señorita
den elegisch-melancholischen Soundtrack zu Pat Garrett & Billy, the kid. Nachdem er die angemessene
Lautstärke gewählt hatte, schlüpfte er in seine Stadtschuhe, warf sich den langen, schwarzen Mantel über und
ging zum Bäcker. Als er mit knackigen Mehrkornbrötchen zurückkam, lief gerade Knocking on heavens's door
und die kleine Punkerin saß in schwarzer Unterwäsche am gedeckten Küchentisch. Sie hatte sich einen Kaffee
eingeschenkt und schaute verträumt in den mit beiden Händen umschlossenen Becher. Na, ausgeschlafen?,
fragte Lenz jovial. Emily blickte verständnislos auf. Einen Moment sahen sie sich schweigend an und erforschten
ihre Gesichtszüge. Während er sich zur Garderobe wandte, fragte sie ihn, ob er nicht zur Arbeit müsse.
Ich habe gleitende Arbeitszeit und einen festen Termin erst später. Sie nahm sich ein Brötchen,
brach es an, höhlte es aus und stopfte Camembert mit Marmelade hinein. Als sie genüsslich hineinbiss,
quollen die süße Frucht und das herbe Fett hervor und verteilten sich als schmierige Paste auf Kinn,
Mundpartie, Nasenspitze und Wangen. Behaglich kauend schaute sie ihn mit verschmitzt sprühenden Augensternen
an. Lenz lief nicht nur das Wasser im Mund zusammen. Ich hätte heute eigentlich in die Berufsberatung
des Arbeitsamtes gehen wollen, brachte sie in herzig kindlicher Manier etwas zäh und klebrig hervor.
Wie passend. Vorstellen kannst du dich auch bei DESY. Was willst du denn werden? Sie schaute ihn
ratlos an: Das weiß ich noch nicht genau. Und nach einer Pause setzte sie gedehnt hinzu: Ich
habe meiner Mutter immer die Haushaltsgeräte repariert und mir macht das Zeichnen von Comics Spaß.
Lenz hatte Emily geraten, technische Zeichnerin werden zu sollen. Am Abend war er darüber allerdings
in tiefes Nachdenken versunken. Vor 40 Jahren war das noch ein interessanter Lehrberuf; doch heute lernte man
nicht mehr Zeichnen, sondern nur noch die Bedienung von CAD-Programmen. Aber gab es nicht sogar schon ganze
Studiengänge, in denen es kaum mehr als um die Handhabung gerade aktueller Software ging? Lenz saß in seinem
Büro vor dem Computer-Bildschirm und starrte ins Leere. He was amazingly absent, hätte Austen seinen häufiger
werdenden Zustand einer merkwürdigen Entrücktheit umschrieben und hinzugefügt: A something of languid
indifference, or of that boasted absence of mind. Zum Glück liefen die meisten Arbeiten auf dem
Rechner automatisiert ab. Er schaltete den Monitor aus, warf sich seinen black coat
über, löschte das Licht, schloss die Tür ab und trat auf den Flur hinaus. Fast überall in den Büros wurde
noch gearbeitet. Tastengeklapper und Telephongespräche waren zu vernehmen, als er das Rechenzentrum in Richtung
Bistro verließ. Draußen angekommen, empfing ihn eine frisch-feuchte Kühle, eher herbstlich als
Winterwetter. Der Himmel war bedeckt und Nebelschwaden umwaberten die Parkplatzleuchten. Auf Höhe
der Bibliothek warf der helle Lichtschein aus ihren Fenstern lange Schatten auf die Straße. Lenz erreichte
die Treppe zum Bistro hinauf, sprang rasch die Stufen hoch und trat ein. Ein verhaltenes Stimmengewirr
empfing ihn. Im Hintergrund war Norah Jones
zu hören:
The sun does'nt like you, you always get burned ...
Einen Moment hielt Lenz inne und lauschte dem traurig-schönen Song. Er schaute sich um.
Fast alle Tische waren besetzt. Aber am Rand des Aufgangs zur Empore
hin, waren an einem Vierertisch noch drei Plätze frei. Kurzentschlossen steuerte er auf den Tisch zu und
erkannte zu seiner freudigen Überraschung Clarissa, die in ein dickes Buch versunken bei einem Glas Tee
saß. Ihre dichten, dunkelbraunen Haare verdeckten in herabfallenden Wellenformen fast ganz ihr herb-schönes
Gesicht, das bei richtiger Beleuchtung ein geradezu klassisches Ebenmaß aufscheinen ließ.
Wahrscheinlich bereitete sie sich auf den Literaturclub morgen vor. Claire hatte sich für eine
Lehre als Informatikkauffrau entschieden und zugleich das Studium der Literaturwissenschaft aufgenommen.
Für Lenz eine ideale Kombination zur Verbindung der beiden Kulturen. Darf ich mich zu dir setzen?
Sie schaute auf und Lenz drohte wie üblich in ihren großen, tiefblauen Augen zu versinken. Hallo
Lenz, ja klar, bitte. Er legte seinen Mantel über die Stuhllehne und setzte sich ihr gegenüber.
Sie klappte das Buch zu und betrachtete ihn aufmerksam. Ihr Blick schien aus einer anderen Welt zu kommen.
Das war allerdings ein Eindruck, den Lenz Frauen gegenüber häufiger empfand. Claire hatte in
Marisha Pessl's Special topics in calamity physics
geschmökert. Das umfängliche Werk verband in
zugleich unterhaltsamer und bildungsbeflissener Weise literarische und wissenschaftliche Kultur. Als Thema des
Literaturclubs stand die vergleichende Betrachtung an mit dem Buch Dietmar Dath's:
Waffenwetter.
Aber das war Freizeit.
Was hast du denn heute machen müssen?, fragte er interessiert. Claire seufzte gedehnt und rollte
bezeichnend mit den Augen: Betriebssysteme standen auf dem Programm: Installieren und Konfigurieren von
Linux und Windows. Sie nahm das Buch zur Hand: Mit Literatur hat das leider wenig zu tun. Lenz hatte volles
Verständnis für ihren Verdruss. Geschichte und Konzeption der Betriebssysteme sind aber nicht uninteressant,
hob er dozierend an. Der UNiplexed Information and Computing Service, kurz
UNICS oder UNIX, wurde bereits
1969 aus dem Bedürfnis der ortsungebundenen Teamarbeit heraus entwickelt. Zusammen mit UNIX wurde das INTERNET auf
den Weg gebracht und mit C das ABC der Programmiersprachen fortgesetzt. Ein Betriebssystem für mehrere gleichzeitige
Benutzer nach einheitlichem Baukastenprinzip entsprach der antiautoritären Jugendbewegung der damaligen Zeit.
Demgegenüber folgte die in den 1980er Jahren für den IBM-PC entwickelte Bedienungsoberfläche Windows dem
zentralistisch-autoritären Führungsstil des hierarchisch organisierten Linienmanagements. Nicht dezentrales
Baukastenprinzip, sondern zwanghafte Systemintegration wurde fortan von den Anwendungsprogrammen und Nutzern
gefordert. Lenz hätte noch lange so weiter reden können; denn den Wandel der Systemkritik von der Gesellschaft
auf das Betriebssystem, von der kritischen Theorie zur Systemtheorie, sah er eingebettet in die allgemeine
Ökonomisierungstendenz des Kapitalismus. Der Impetus einer Gesellschaftsveränderung zum Besseren hin war zur
bloßen Sozialtechnologie um den Machterhalt in Staat und Wirtschaft verkommen. Einstmals waren die Unis Innovatoren
des gesellschaftlichen Fortschritts und die Studenten erprobten theoriegeleitet neue Lebensformen. Heutzutage war den
Studierenden reibungsloses Funktionieren wichtiger als störende Partizipation. Das Lebensglück und die Sinnenfreude
wurden der Karriere und dem Geld untergeordnet. Claire lächelte Lenz höflich zerstreut an. Ihren Verdruss
hatte er nur noch verstärkt. Möchtest du etwas trinken oder essen? Ich gebe einen aus, sagte er
versöhnlich und ergänzte kleinlaut: Für Politik interessiere ich mich eigentlich gar nicht mehr;
denn die Steuerbarkeit der globalisierten Welt wird allgemein überschätzt. Auf die
Selbstorganisation
sollte es ankommen. Liberalismus und Ökologie gilt es zu verbinden. Claire schaute Lenz belustigt an:
Aber ist dein Ökoliberalismus etwa keine Politik? Da hatte sie wohl nicht ganz unrecht. War die Politik
nicht fast so fundamental wie die Technik und stand bereits am Anfang der Zivilisation? Bedurfte das instrumentelle
Handeln nicht stets des kommunikativen Einverständnisses? Es gibt eine
Stadt in Indien, in der gleichgesinnte
Menschen einfach zusammenleben. Auf der Basis nachhaltiger Technik kommen sie ohne Politik und Religion aus.
Claire schaute Lenz ungläubig an. Auroville,
im Süden Indiens, ist so eine Musterstadt, die aus einer
1968 gegründeten Hippie-Kommune über die Jahre erbaut worden ist.
Lenz hatte sich ein friesisch herbes Jever bestellt und in einem Zug geleert. Er gab der Bedienung ein Zeichen für ein Zweites. Claire nippte an ihrem zweiten Jasmintee, der noch zu heiß war, um getrunken werden zu können. Gemeinsam aßen sie von einem üppigen griechischen Salat, der in der Mitte zwischen ihnen auf dem Tisch stand. Genüsslich ließ sich Lenz die Schafskäse-Würfel schmecken, während Claire vom Fladenbrot nahm und es in den Tsatsiki tauchte. Schwebt dir vielleicht eine Reduktion von Politik auf Technik vor?, nahm die Azubine nach einer Weile den Faden wieder auf. Der Physiker schaute sie verwundert an. Sie hatte sein Anliegen auf den Punkt gebracht. Für die Technik lässt sich in der Tat eine monotone Zunahme von Anzahl und Genauigkeit der Parameter seit der Steinzeit nachweisen. Nehmen wir als Beispiel die Forschungseinrichtung DESY hier. Hinsichtlich der Zweckrationalität ist sie durchaus mit Auroville vergleichbar. Das friedliche und produktive Zusammenleben aller Desyaner wird gewährleistet durch die gemeinsame Zielsetzung, die Grundstruktur der Materie aufklären zu wollen. Das zweite Jever wurde vor Lenz hingestellt und er betrachtete den langsam über den Rand fließenden Schaum. Sollte Deutschland wieder in einen Bund kleiner selbstverwalteter Staatsgebilde zerlegt werden, die jeweils ihren eigenen Zielsetzungen folgen können sollten? Lenz weidete sich am schönen Antlitz Claire's, die ihn fragend anschaute. Ohne den Blick von ihr zu wenden, führte er in ruhigen Worten aus, wie die Beliebigkeit von Bezugssystemen in der allgemeinen Relativitätstheorie vereinbar war mit einer übergeordneten Invarianzforderung. Auf die Politik übertragen konnte sich Einstein aber nur eine Sicherung des Friedens auf Erden durch eine Weltregierung mit alleinigem militärischen Gewaltmonopol vorstellen. Claire blieb skeptisch: Dreh- und Angelpunkt eines weltweiten Gewaltmonopols bleibt natürlich dessen Kontrolle. Wie könnte einer Militärdiktatur vorgebeugt werden? Sie kostete eine Olive und schob amüsiert auch Lenz eine in den Mund. Hatte er sie mit offenem Mund angestarrt? Sollte das Vermögen der Organismen zur Selbstorganisation nicht Vorbild genug sein können für einen Ökoliberalismus, der ein Minimum an Zwang mit einem Maximum an Freiheit zu vereinbaren trachtete? Unter dem Motte: Mehr Freiheit wagen, hatte die Kanzlerin gleichermaßen an die Befreiungsbewegung der DDR von 1989 und an die Regierungserklärung Brandts von 1969 anknüpfen wollen. Aber was war daraus geworden? Ließ die ökologische Weltlage überhaupt noch einen wachsenden Freiheitsspielraum zu? Rund sieben Mrd. Menschen lebten bereits auf der Erde und zur Mitte des Jahrhunderts dürften es etwa zehn Mrd. sein. So viele Menschen würden sich pro Kopf höchstens 1,5 kW nachhaltig leisten können. US-Amerikaner und Westeuropäer, die gegenwärtig 11 bzw. 5,5 kW verschwendeten, würden ihren Lebensstil ändern müssen. Der extrem ineffiziente motorisierte Individualverkehr und die höchst verschwenderische Fleischproduktion hätten keine Zukunft mehr.