Schattenhaftes Geflatter und heftiges Geknatter ließen Lenz aufschrecken. Er starrte geradewegs auf das
Marx-Poster an der gegenüberliegenden Wand: Ein Gespenst geht um in Europa, das Gespenst des Globalismus.
Hieß das nicht einmal anders? Er kniff die Augen zusammen und schaute ein zweites Mal hin. Das Marx-Konterfei
war aus dem Text des kommunistischen Manifestes geschrieben worden und noch immer ging das Gespenst des
Kommunismus um in Deutschland. Aber was hatte Marx da im Auge? Eine Motte hatte sich in seinem Textgesicht
niedergelassen und war als Schmetterling durch Lenzens Traum geraschelt. Das Geknatter hatte die Motte wohl erzeugt
als sie hinter das Plakat geriet und wieder hervorzukommen versuchte. Lenz schloss erneut die Augen und entspannte
sich. Ein interessanter Zufall war es aber schon, den sein Hirn da erträumt hatte; denn am Nachmittag hatte Karl
ihn zu einem Vortrag bei DESY überredet. Hermann Haken
war eingeladen worden, um sein neues Forschungsprogramm
vorzustellen: Synergetik oder die Lehre vom Zusammenwirken. Karl hatte gerade sein Physik-Studium begonnen
und begeistert von der Synergetik
als übergreifendem Forschungsprogramm in der Physik gesprochen, in dem die drei
großen Vorhaben der Kosmologie, Elementarteilchenphysik und statistischen Physik zusammengedacht werden sollten.
Karl hatte von einem Schmetterlingseffekt, der Chaostheorie und einem Versklavungsprinzip gesprochen. Unmerklich
schlummerte Lenz wieder ein und sah sich auf eine Waldlichtung versetzt, durch die ein Schmetterling flatterte.
Dieses Mal ließ er sich aber nicht sanft mitschwingend auf einem Halm nieder; vielmehr zog er spiralförmig in
den Himmel hinauf und schleppte zunehmend dunkler werdende Wolkenfetzen hinter sich her. Lenz verfolgte
fasziniert und besorgt wie sich die Dunstspiralen verdichteten und zu einem gigantischen Tornado formten,
der riesige Staubwolken, Schilder, Tiere, Menschen, Hausdächer, Autos und andere nur lose mit der Erdoberfläche
verbundene Lebewesen und Gegenstände ins Firmament hinaufschleuderte. Als der Tornado auf Lenz zuzukommen schien,
dukte er sich unwillkürlich unter die Decke - und fuhr hoch als es knallte. Verwirrt und angstschweißbenetzt
schaute er zum Fenster. Es war zugeschlagen worden und draußen wirbelte eine Windböhe dumpf rauschend das Laub
auf. Erleichtert legte er sich wieder zurück: es war nur ein Traum gewesen.
Lenz hatte noch Urlaub und sich mit Karl zum Frühstück verabredet. Auf dem Barmbeker Bahnhof holte er sich
ersteinmal eine Zeitung und las in der U-Bahn sitzend den Leitartikel. In Bonn hatte sich unter Willy Brandt
und Walter Scheel eine sozialliberale Koalition gebildet. Wir wollen mehr Demokratie wagen, hatte Brandt
in seiner Regierungserklärung gesagt. Lenz schaute von der Zeitung auf und blickte durch die Waggonscheibe
nach Norden. Vor ihm erstreckten sich die herbstbunten Baumkronen des Stadtparks. Eben darüber erhob sich
im Steigflug eine Boeing und näherte sich den tiefhängenden Wolken. Entsprach der politische Aufbruch zu neuen
Ufern der Gesellschaft der technischen Meisterleistung, drei Astronauten auf dem Mond landen zu lassen? Die
Amerikaner und Russen hatten gemeinsam den Faschismus der Achsenmächte niedergerungen, sich danach aber in
einen kalten Krieg gestürzt, der momentan stellvertretend napalmheiß unter der Zivilbevölkerung Vietnams
wütete. Demokratische Bürgerrechtsbewegung und diktatorischer militärisch-industrieller Komplex standen sich
wohl noch so lange unversöhnlich gegenüber wie es das Feindbild des Sowjetkommunismus gab. Lenzens Blick fiel
auf einen Button, den ein Aktivist auf die Scheibe geklebt hatte: Amis raus aus Vietnam! Kellinghusenstraße
stieg ein Schwung Schüler ein, die vom Schwimmen im Holthusenbad kamen. Mit nassen Haaren und ihre Badesachen
in bunten Beuteln verpackt, drängten sie sich fröhlich-johlend auf die wenigen freien Plätze. Neben Lenz
zwängten sich zwei Mädels, so dass sie ihn an die Wand drückten und seine Zeitung verrutschte. Er faltete sie
zusammen und wandte sich zur Seite. Das heiter-freche Lächeln der jugendlichen Bienen stimmte ihn jedoch
milde und er musste ebenfalls Lachen. Eine schon recht proppere Blondine präsentierte auf ihrem T-Shirt, das
unter dem offenen Parker hervorlugte und sich über dem BH-freien Busen spannte, die Aufschrift: Sonntags nie.
Kess schaute sie ihn an. Was machst du denn sonntags nie?, wollte er wissen. Kichernd wandte sie sich an ihre
drängelnde Freundin. Bist du etwa Christin und hast sonntags deinen Ruhetag?, frotzelte Lenz weiter.
Von gegenüber fiel ein süßer Bengel mit dunklen langen Haaren in die Neckerei ein. Sonntags hat Evi nie
Sex, hob er an, kam aber nicht weiter, da er flugs Evi's Badebeutel an den Kopf bekam. Na warte, rief er
aus und wollte auf sie losgehen. Evi wich aber zur Seite und schmiegte sich hilfesuchend an Lenz. Schmunzelnd
legte er beschützend seinen Arm um sie und erinnerte sich erfreut daran, wie er selbst seinerzeit im Ferienlager
mit den süßen Mädels gebalgt hatte. Na, dann noch viel Spaß ihr beiden. Lenz befreite sich sanft von
der Blondine und stand auf. Vielleicht treffen wir uns mal in der Disko, rief er ihr zu und stieg aus.
Beim Bäcker am Großneumarkt kaufte Lenz einige Brötchen und klingelte bei Karl in der Brüderstraße. Der
hatte bereits in der Küche den Tisch gedeckt und Kaffee gekocht. Als Lenz sich setzte, holte Karl eine Flasche Sekt
aus dem Kühlschrank und reichte sie Lenz zum Öffnen. Von seinen Mitbewohnern war niemand mehr da. Die waren
entweder auf der Arbeit, an der Uni oder in der Schule. Nachdem Karl im Flur verschwunden war, erscholl aus den
Nebenboxen der Stereo-Anlage Good times, bad times, der vielversprechend fetzige Auftakt einer neuen Blues-Rock
Formation: Led Zeppelin.
Die hatten ihren Namen von Keith Moon bekommen, der ihnen prophezeite, brennend wieder
abzustürzen wie einst Graf Zeppelin in New York. Als sich Karl zu Lenz an den Tisch setzte, schenkte der gerade
den Sekt in die Kelche. Erfreut stießen sie an mit dem perlenden Nass: Auf dass wir mehr Bildung wagen.
Sie tranken vom kühl-trockenen Sekt und ließen sich dazu von Rob anschrei'n: Ohh, baby, baby ... .
Im Rhythmus wippend schmierten sie ihre Brötchen und belegten sie mit Käse oder Marmelade. Als die jeweils
fünf dunkel drohenden Bassläufe zu dazed and confused anhoben, drehte Karl die Musik an den Boxen
lauter und ein fühlbares Schallfeld erfüllte die Küche. Take it easy, baby, let them say what they will.
Lenz und Karl dachten dabei schmunzelnd an Marx, der im Kapital das Motto hervorgehoben hatte: Geh deinen
Weg und lass die Leute reden. Und mit dem Orgelauftakt zum nächsten Stück: Your time is gonna come,
stießen sie erneut an - und dachten an eine Zukunft, in der sie es einmal besser haben würden als ihre Eltern,
mit denen sie leider immer wieder in den communication breakdown verfielen. Wenn Lenz nur daran dachte,
welche Konflikte er mit seinem Alten zu bestehen gehabt hatte, nur weil er sich die Haare hatte wachsen lassen und
nicht mehr rasierte. Einfach unglaublich, wie weit die hinterweltlichen Zwangsneurosen reichten. Proleten und
Spießbürger einte der Hass auf alles Abweichende, sich selbst bestimmen Wollende. Die natürliche Unsauberkeit
der Welt konnten sie einfach nicht ertragen. Alles musste so ordentlich und bieder sein wie die banale Blasmusik
oder der dümmliche deutsche Schlager, das nekrophil blankpolierte Auto oder der leichentuchflach gemähte Rasen.
Wie gut nur, dass Lenz ausgezogen war und in einer unaufgeräumten und staubigen Küche laut derbe Rockmusik hören
konnte.
Am frühen Nachmittag machten sich die beiden Bildungshungrigen auf den Weg nach
DESY. Da sie noch etwas Zeit
hatten, gingen sie zu den Landungsbrücken. An der Haltestelle der Linie 1 angekommen, trafen sie unverhofft
auf drei Schnitten, die Lenz bei seinen regelmäßigen Besuchen der Carina Bar kennengelernt hatte.
Wo wollt ihr denn hin?, rief er freudig aus als sie ihn gesehen hatten. Die drei langhaarigen
Mädchen begrüßten ihn fröhlich. Wir hatten mit der Klasse eine Hafenrundfahrt gemacht und waren
danach spazieren gegangen. Jetzt geht's wieder nach Hause. Lenz schaute sie fragend an. Wir wohnen
doch in Schenefeld. Das hatten sie ihm wohl schon einmal gesagt. Er schaute verlegen in die großen Sehsterne
Mirabellas und erinnerte sich mit Behagen daran wie er ihr auf einer Geburtstagsparty einmal sehr nahe gekommen
war. Nachdem er auch Beate und Sigrid mit Karl bekannt gemacht hatte, kam die Straßenbahn herangeschrammt
und die Fünf strebten ans Ende des Anhängers auf die Klappsitze. Hier konnten sie sehr schön auf die Straße
zurückschauen, auf der sie in Richtung Altona an der Elbe entlang fuhren. Während es am Fischmarkt rechts zur
Palmaille hinauf ging, breitete sich noch einmal das Hafenpanorama vor ihnen aus. Gegenüber bei Blom & Voss
lag ein Tanker im Dock, an dessen riesigem Propeller gearbeitet wurde. Davon kündeten das Gerüst und die
blauen Blitze des E-Schweißens. In den Hafen hinein fuhr ein weiß-roter Frachter mit der geschmeidigen
Silhouette der Hamburg-Amerika-Linie. Kommt doch mit. Wir wollen zu einem Vortrag über Synergetik,
einer neuen Forschungsrichtung in der Physik, begann Lenz; aber die Mädels hatten anderes im Sinn.
Physik ist nicht unser Ding, wehrte Bea ab. Wir woll'n uns lieber die letzte LP der Beatles
anhöhr'n: Abbey Road.
Und Lenz stimmte ein: Come together, right now, over me ... . Wieder musste er
Bella in den Blick nehmen und schwelgte mit Wonne in der Erinnerung an das Gefühl, das er beim letzten Engtanz
mit ihr zu Something hatte: And all I have to do is think of her ... . Karl entging nicht, dass
Sigrid still vor sich hin litt als sie Lenzens verliebtes Schwärmen für Bella verfolgte. Schmachtend
selbstversunken starrte sie vor sich hin und musste sich ihm doch zwanghaft aussetzen, ohne von ihm lassen
zu können: I want you, I want you so bad, it's driving me mad, I want you so bad ... . Wer liebt,
der leidet, dachte Karl und sah sein Verständnis in Bea's Antlitz gespiegelt. Da hielt er sich lieber
an die nichtmisstrauenswürdige Ordnung in der Natur und setzte sich nicht den wankelmütigen Launen
anderer Menschen aus - und waren sie auch noch so attraktiv und liebreizend.
Als die beiden Jünglinge Bahrenfeld ausgestiegen waren, sprach Lenz seinen Freund auf die drei Mädchen an.
Sind sie nicht süß? Ich treffe sie fast regelmäßig samstags in der Disko. Da Karl nicht in Tanztempeln
verkehrte und weder die Rock-Musik noch die Disko-Queens anbetete, fehlte ihm der Kontext. Aber sein Unbehagen
musste er los werden. Wie stehst du denn zu ihnen? Sigrid machte einen ziemlich deprimierten Eindruck auf
mich. Sie muss schrecklich verliebt in dich sein und darunter leiden, dass du nur Augen für Bella hast. Lenz
schaute Karl missbilligend an. Der nahm das Leben wieder einmal viel zu ernst. Postpubertär war es ihm noch
ähnlich ergangen und er schwankte jeweils zwischen höchster Verzückung oder tiefster Trübsal, wenn er sich
frisch verliebt hatte oder sich wieder entlieben musste. Unterdessen nahm er es spielerisch und genoss sein
Hochgefühl Bella gegenüber, obwohl sie nicht von ihm schwärmte, sondern lieber auf ihren ersehnten
Märchenprinzen wartete. Er war erstaunt als ich ihm sagte, dass ich ihn liebe. Er habe mir doch gar keine
Hoffnungen gemacht. Das stimmt. Die Hoffnung kam aus mir. Wohin sie auch wieder zurück geht. Karl sah Lenz
fragend an. Die Zeilen hatte mir einmal eine Freundin vorgelesen. Sie hatte sie von ihrem Freund erhalten.
Seitdem bemühe ich mich, das Verliebtsein auch dann zu genießen, wenn es nicht erwidert wird. Sigrid scheint das
nicht zu gelingen. Sie hat offenbar keine wichtigeren oder zumindest gleichrangigen Interessen neben dem Bestreben,
von einem einzigen Mann glücklich gemacht zu werden. Lenz und Karl hatten den Eingang erreicht und meldeten sich
beim Pförtner für die Teilnahme zum Vortrag an. Auf dem Weg zum großen Hörsaal fiel Karl der Rat Einsteins
ein, den der einmal einer Freundin auf die Frage erteilt hatte, ob sie heiraten solle: Glauben Sie denn
wirklich, für die Dauer das Lebensglück durch andere, und sei es auch der einzig geliebte Mann, finden zu
können? Seinem großen Idol folgend, kam Karl zu der Einsicht, dass man sich nie im Leben von den Launen eines
Menschen abhängig machen, sich vielmehr der schönen Kunst oder wahren Wissenschaft widmen sollte, soweit man
sie zu beherrschen vermochte. Das sah Lenz fast genauso; hielt aber neben Kunst und Wissenschaft auch die Erotik
für wesentlich im Leben. Bei Karl war es anders; im Gegensatz zu seinem Idol hatte es ihn noch nie so
richtig erwischt. Der Hörsaal war schon weitgehend besetzt und die beiden Bildungshungrigen ließen sich
erhöht in einer hinteren Reihe nieder. Karl grüßte einige Kommilitonen durch leichtes Kopfnicken oder
zaghaftes Handheben und Lenz ließ die faszinierende Atmosphäre der Wissenschaft auf sich wirken.
Zu erkennen, was die Welt im Innersten zusammenhält. Dieses Goethe-Zitat hatte er auf dem Weg über das
DESY-Gelände von der Wand eines Experimentiergebäudes abgelesen. Ja, das wollte er eigentlich auch ... Bevor er
aber weiter seinen Gedanken nachhängen konnte, wurde er von einer zierlichen Gestalt mit Blondschopf im Gang
zwischen den Sitzreihen in seinen Bann gezogen. Er stieß Karl an und wollte von ihm wissen, ob er sie kenne.
Ja, sie sei ihm schon in den Mathe-Kursen aufgefallen und studiere Mathematik im 1. Semester ...
Hermann Haken,
ein Mann mit vollem Bart und dichtem Haarwuchs, trat ans Mikrophon. Er war aus Stuttgart
eingeladen worden und stellte sich kurz vor. Der theoretische Physiker machte einen souverän-selbstsicheren
Eindruck und schnell trat Ruhe ein im Hörsaal. Den meisten Zuhörern schien er schon bekannt zu sein. Lenz
sah verstohlen zu der Blondine hin, die aufmerksam zum Podium schaute. Synergetics is an interdisciplinary
field of research. It studies self-organization in complex systems. Self-organization means that a system achieves
its spatial structure and/or functions without specific interference from agents outside the system. Complex system
means a system composed of many elements or parts that can produce complicated structures or behaviors. Definition,
Satz, Beweis; worum geht es, wie verhält es sich damit und warum verhält es sich so: das war das eherne Schema
der Mathematik. Lenz befürchtete nicht mehr weiter folgen zu können und schaute verdrießlich zu Karl, aber der
nickte ihm nur ermunternd lächelnd zu. Und in der Tat, Haken griff interessante Beispiele auf: die
Bénard-Instabilität und den LASER. In Verbindung mit dem Problem der Wettervorhersage hatte der
Physiker Edward Lorenz 1963 die ,,Rollenbildung`` bei der Konvektion in dünnen Flüssigkeitsschichten
untersucht, die von unten beheizt wurden. Das war ein Modell für die auf- und absteigenden Luftströme in der
Atmosphäre. Das Interessante dabei war nun, dass Lorenz aus einem komplizierten strömungsdynamischen
System partieller Differentialgleichungen eine wesentlich vereinfachte Modellbeschreibung herleiten konnte,
die nur noch aus drei gewöhnlichen Differentialgleichungen bestand. Aber der Clou kam noch und verblüfft
folgte Lenz den weiteren Ausführungen. Als Lorenz das vereinfachte Gleichungsystem in einen Algorithmus
umgeschrieben und mit dem formula translator FORTRAN in einen Maschinencode übersetzt hatte, ließ
er es auf einem Computer ablaufen und traute seinen Augen nicht; denn oberhalb eines Schwellenwertes
traten in Abhängigkeit winzigster Abweichungen von den Anfangsbedingungen extreme Änderungen in den
Lösungswerten auf. Ein streng deterministisches Gleichungssystem zeigte zufälliges Verhalten! Dieses
Kuriosum hatte Lorenz als butterfly effect bezeichnet, nachdem der Flügelschlag eines Schmetterlings
im Sachsenwald einen Tornado in Florida zur Folge haben konnte. Lenz lehnte sich zurück und fiel in
grenzenloses Staunen. Das war einfach unglaublich! Schwellenwertabhängige Zustandsänderungen in der
Nähe kritischer Bereiche komplexer Systeme glichen universellen Phasenübergängen wie sie vom Wasser
bekannt waren, das durch Erhitzen vom festen Eis in eine Flüssigkeit und weiter in Dampf verwandelt werden
konnte. Dem Mittelteil des Vortrags zum mathematischen Beweis des Versklavungsprinzips konnte Lenz nicht mehr
folgen und vertraute darauf, dass Karl es ihm später noch erklären würde. Haken schloss seinen Vortrag mit
dem Hinweis auf den allgemeinen Zusammenhang von Zufall und Notwendigkeit und in Lenz keimte die Idee einer
allgemeinen kritischen Theorie, die zugleich die Gesellschaft und die Natur umfasste, ganz so wie es sich
schon Engels in seiner Dialektik der Natur gedacht hatte.
Freudig erregt und wie in Trance verließ Lenz mit Karl den Hörsaal. Einverständig hatten sie sich angeschaut und waren schweigend dem Ausgang zugestrebt. Als sie draußen über die breiten Treppen hinuntergehen wollten, wurden die beiden widererwartend von Karls Kommilitonen angesprochen: Na Karl, hast du nicht noch Lust auf eine Fete? In der Bar des Wohnheims Othmarschen steigt heute abend eine Party. Karl wollte gerade absagen, aber Lenz drängte ihn, doch einmal eine Ausnahme machen zu können. Bestimmen nicht Ausnahmen die Regel?, rief Lenz viel zu laut aus - und verfehlte seine Wirkung nicht; allerdings anders, als er sich das vorgestellt hatte. Was soll denn der Schwachsinn?, fuhr ihn die Blondine an, trat aus der Studentengruppe heraus und setzte bestimmt hinzu: Ein Gegenbeispiel widerlegt einen Allsatz! Das saß. Lenz war sprachlos und glotzte sie nur verlegen an. Er hätte im Boden versinken können, aber leider tat sich keine Erdspalte vor ihm auf. Zum Glück rettete Karl die Situation: Das gilt doch nur in den Idealwissenschaften Logik und Mathematik. Im Alltag und in den Realwissenschaften gibt es immer Ausnahmen von der Regel, da jede Wahrnehmung oder Messung fehlerbehaftet ist, und sei sie auch noch so genau. Verblüfft wandte Lenz seinen Blick von der Studentin auf Karl. Wenn er jetzt nur an seiner Stelle wäre; denn mit einem charmanten Lächeln wandte sie sich ihm zu. Ich habe dich schon in den Übungen gesehen. Wie heißt du? Ich bin Candela. Sie reichte ihm die Hand, Karl ergriff sie gelassen und nannte auch seinen Namen. Aha, Karl, ja, dann bist du ab jetzt mein Gauß, sagte sie scherzhaft und die beiden wandten sich mit den Anderen zum Gehen. Candela, wiederholte Lenz gedehnt, was für ein schöner Name - und so passend! Im bereit stehenden VW-Bus, der schon so manche Reise überstanden hatte, fanden schnell alle einen Platz. Mit aufheulendem Motor fuhren sie vom Parkplatz. Wie Karl so gelassen bleiben konnte, war Lenz ein Rätsel; verstohlen beobachtete er sie. Lenz war auf die hinterste Sitzbank geraten und die beiden saßen vorne nebeneinander und schienen sich gut zu verstehen. Lange hielt er es so nicht aus. Er musste irgendetwas sagen. Schlimmer konnte es für ihn eh nicht werden: Kann mir vielleicht jemand das Versklavungsprinzip erklären? Ich bin weder Mathematik- noch Physikstudent. Mit Schwung bog der Fahrer in die Osdorfer Landstraße ein und Lenz wurde an die Wand gedrückt. Er beneidete Karl darum, dass ihm Candela fast auf den Schoß rutschte. Lachend löste sie sich wieder von ihm und drehte sich nach hinten, indem sie sich auf die Rückenlehne stützte: Das Versklavungstheorem besagt grob gesprochen, dass es in hinreichend komplexen, nichtlinearen dynamischen Systemen, kritische Bereiche gibt, in deren Nähe die Dynamik durch wenige Ordnungsparameter bestimmt wird. Bei der Musterbildung in Gasen oder Flüssigkeiten ,,konkurrieren`` dabei unzählige mögliche Muster unter den gegebenen Randbedingungen, je nach Geometrie oder Temperatur, um die stabilsten Formen. Bis sich schließlich, was auch sehr schnell gehen kann, ein stabiles Muster ausbildet. Das erinnert natürlich stark an einen Darwin'schen Algorithmus. Und so vermute ich, dass sich zwischen Versklavungstheorem und Darwin'scher Optimierung ein Zusammenhang herstellen lassen müsste, ähnlich dem zwischen Boltzmann'scher und Darwin'scher Optimierung. Candela hatte langsam und betont verständlich gesprochen, sich lächelnd umgedreht und wieder Karl zugewandt. Sie hatte Lenz offensichtlich nichts übel genommen. Wie selbstverständlich sie von Darwin sprach! Stand der Darwinismus nicht unter Faschismus-Verdacht? Die Mathematik verschaffte einem offensichtlich grenzenloses Selbstvertrauen. Und das schon im 1. Semester. Was für eine Frau! Lenz musste sie unbedingt näher kennenlernen, nicht nur um der vereinheitlichten kritischen Theorie willen. Sinnend in sich hinein lächelnd schloss er die Augen und begann von der Synthese aus Erotik und Wissenschaft zu träumen.