Einstein interpretierte das Naturgeschehen in der Sprache der Mathematik. Mann gestaltete seine
Natur in den Masken und Formen der Epik. Der kleine Herr Friedemann bildet dabei den
Anfang seines Weges in die Literatur. Fangen wir also an: Die Amme hatte die Schuld, lautet
der erste Satz der Novelle. Und am Ende des ersten Absatzes heißt es: Als die Mutter und
ihre drei halbwüchsigen Töchter eines Tages von einem Ausgange zurückkehrten, lag der kleine,
etwa einen Monat alte Johannes, vom Wickeltische gestürzt, mit einem entsetzlichen Wimmern am
Boden, während die Amme stumpfsinnig daneben stand. Um die vorletzte Jahrhundertwende hatten
die Bürgerhäuser ihre Last mit dem Personal, zumal wenn es dem Alkohol zusprach. Der Sturz des
Säuglings folgte kurz nach dem Tod des Gatten: Die arme Frau hatte es noch vor der Geburt
des Kindes erleben müssen, daß ihr Gatte, der niederländische Konsul, von einer ebenso plötzlichen
wie heftigen Krankheit dahin gerafft wurde ... . Schlimmer als die Mutter hatte es aber den kleinen
Johannes getroffen: Mit seiner spitzen und hohen Brust, seinem weit ausladendem Rücken und
seinen viel zu langen, mageren Armen bot er einen höchst seltsamen Anblick. Was wunder,
daß der Verkrüppelte zum verspotteten Sonderling geriet, die Musik liebte, über alles das Theater
verehrte und - in Sehnsucht schwelgte. Als der kleine Herr Friedemann herangewachsen war, trug es
sich zu, daß im Stadttheater der Lohengrin aufgeführt wurde. Johannes kam in der Loge neben
Frau von Rinnlingen zu sitzen, die nebst Gatten erschienen war. Im Verlauf der Aufführung geschah
es nun, daß Frau von Rinnlingen sich ihren Fächer entgleiten ließ und daß derselbe neben
Herrn Friedemann zu Boden fiel. Beide bückten sich gleichzeitig, aber sie ergriff ihn selbst
und sagte mit einem Lächeln, das spöttisch war: ,,Ich danke.`` Ihr Köpfe waren ganz
dicht beieinander gewesen, und er hatte einen Augenblick den warmen Duft ihrer Brust atmen
müssen. Die Wirkung überwältigte ihn nachhaltig, so daß er sich nach vielen Vorwürfen,
Selbstzweifeln und Alpträumen eines Tages ermannte, sie zu besuchen. In der Folge ergaben sich
einige weitere Gelegenheiten zu lockerem Geplauder. Anläßlich eines Sparzierganges in der Allee
durch einen Park nun aber, hatten sich die beiden auf einer Bank niedergelassen. Und hier geschah es.
Überwältigt von seiner Sehnsucht nach mitmenschlicher Wärme und Geborgenheit sank er mit einem
Klagelaut vor ihr auf die Knie und drückte sein Gesicht in ihren Schoß. Einen Moment verharrte
sie in Ruhe. Und dann, plötzlich, mit einem Ruck, mit einem kurzen, stolzen, verächtlichen
Lachen hatte sie ihre Hände seinen heißen Fingern entrissen, hatte ihn am Arm gepackt, ihn seitwärts
vollends zu Boden geschleudert, war aufgesprungen und in der Allee verschwunden. Friedemann war
gerichtet - und ließ sich ins nahe Wasser fallen. Bei dem Aufklatschen des Wassers waren
die Grillen einen Moment verstummt. Nun setzte ihr Zirpen wieder ein, der Park rauschte leise auf,
und durch die lange Allee herunter klang gedämpftes Lachen.
Können Damen so herzlos sein? Natürlich; aber neben der Dämonisierung des Weibes in
einer bloß erzählten Geschichte geht es dem Autor noch um etwas anderes. Das Grundmotiv der
Heimsuchung durch den Sturz, die Verwachsung, wiederholte Verspottung und Demütigung bis hin
zur endgültigen Verachtung durch die Angebetete hat eine künstlerische Gestalt angenommen,
in der auch Selbsterfahrung steckt. Im Februar 1896 schreibt Thomas an seinen auch homosexuellen
Freund Otto Grautoff: Du hast Zeit, und der Trieb zur Ruhe und Selbstzufriedenheit wird die
Hunde im Souterrain schon an die Kette bringen.- Auch Thomas Mann zügelte seine Heimsuchung
durch die Homosexualität in der Leidenschaft für die Musik, das Theater und die Literatur:
Die guten Bücher sind noch das Beste auf der Welt. Im November 1896 sprudelt es geradezu
aus ihm heraus: Ich denke an mein Leiden, an das Problem meines Leidens. Woran leide ich?
An der Wissenschaft ... Wird sie mich denn zu Grunde richten? Woran leide ich? An der
Geschlechtlichkeit ... Wird sie mich denn zu Grunde richten? Thomas weilt erstmals in Venedig
und unterbricht seinen Brief. Am Abend fährt er fort: Und draußen auf dem ,,Toledo``!
Wagen und Menschen, Wagen und Menschen. Hier und da, unter tausend anderen Verkäufern, schlau
zischelnde Händler, die einen auffordern, sie zu angeblich ,,sehr schönen`` Mädchen
zu begleiten, und nicht nur zu Mädchen ... Klaus Harpprecht spekuliert in seiner Biographie
Thomas Manns darüber, ob der mit seiner Geschlechtsidentität hadernde Jungschriftsteller sich
nicht vielleicht das eine oder andere hübsche Knäblein habe verkaufen lassen. Wir wissen
es nicht. Das spätere Romanmotiv des syphilitischen Künstlers mag gleichwohl seinen Grund
in der Angst vor den Folgen ungehemmten Auslebens jugendlichen Überschwangs haben.
Die leidvolle Erfahrung, durch eine ,,körperliche Abart`` gezeichnet zu sein, teilten
Autor und Novellenfigur. Auch die Demütigungen, als Liebender schroff abgewiesen und verachtet
zu werden, hat Thomas wiederholt erfahren müssen. Die Reihe beginnt mit dem 14jährigen Armin
Martens, der als Hans Hansen in die Novelle Tonio Kröger eingeht. Kurzke schreibt
darüber: An einem großen Tag seine Leidenschaft eingestehen, Gedichte schreiben und
herumzeigen, sich winden zwischen Glück und Peinlichkeit: wie gut versteht das jeder Verliebte!
Das frühe Outing endet mit einer tiefen Erniedrigung. Andere stecken so etwas weg, ein
hochempfindlicher Poet wie Thomas Mann nicht. Die ,,Prosa-Ballade`` Tonio Kröger
erschien erstmals 1903 in dem Novellenband Tristan. Die von Thomas Mann besonders geschätzte
Erzählung gilt den durch nihilistischen Erkenntnisekel in ihrer ,,Künstlereinsamkeit``
geplagten Schriftstellern noch heute als Bekenntnisschrift. Für Reich-Ranicki handelt es sich
geradezu um eine ,,Jahrhunderterzählung``, der er in Thomas Mann und die Seinen ein
eigenes Kapitel widmet. Thomas Mann selbst nannte das kleine Werk auch seinen ,,Werther``.
Es habe mehr als eine Generation geprägt und diese einsamen Intellektuellen, die sich mit
der Gesellschaft, der sie angehören, nicht abfinden können und daher wie Fremdlinge im eigenen
Haus leben, diese Gezeichneten inmitten der Harmlosen,- sie alle seien, wie Reich-Ranicki
scheinen will, nahe Verwandte Tonio Krögers. Die Geschichte des Schriftstellers Tonio Kröger
sei sogar die Keimzelle des Lebenswerks von Thomas Mann. Obwohl es sich um eine
programmatische Erzählung handele, in der nicht die ,,Darstellung``, sondern die
,,Mitteilung`` im Vordergrund stehe, dessen musikalische Methode die ständige
Wiederholung sei, endet Reich-Ranickis Kritik gleichwohl mit einer Heiligsprechung: So
wurde Thomas Manns Erzählung zur Bibel der Heimatlosen, die letztlich ein Asyl oder vielleicht
doch eine Heimat und nicht die schlechteste gefunden haben: die Literatur.
Folgen wir ein Stück weit der Jahrhunderterzählung: Die Wintersonne stand nur als armer Schein, milchig und matt hinter Wolkenschichten über der engen Stadt. Naß und zugig war's in den giebeligen Gassen, und manchmal fiel eine Art von weichem Hagel, nicht Eis, nicht Schnee. Die Szenerie des nordischen Winters in Lübeck wird heraufbeschworen. In den Schulen werden die Kinder drangsaliert und harren ihrer Befreiung: Die Schule war aus. Über den gepflasterten Hof und heraus aus der Gartenpforte strömten die Scharen der Befreiten ... Auf dem Bahndamm hatte Tonio Kröger lange auf Hans Hansen zu warten, der die Verabredung zu vergessen drohte, auf die sich Tonio beinahe unausgesetzt gefreut hatte. Denn die Sache war die, daß Tonio Hans Hansen liebte und schon Vieles um ihn gelitten hatte. Wer am meisten liebt, ist der Unterlegene und muß leiden,- diese schlichte und harte Lehre hatte seine vierzehnjährige Seele bereits vom Leben entgegengenommen.
Das erste Kapitel kann gleichsam als Overtüre gelesen werden, in der bereits alle Themen anklingen, die noch wiederholend und variierend ausgeführt werden sollen. Neben der Asymmetrie einseitiger Liebe ist es die Diskrepanz zwischen nordischer Kühle und südlicher Wärme als Metapher für rationale Männlichkeit und emotionale Weiblichkeit; vereint im italienisch-deutschen Namen Tonio Kröger. Hinzu kommt die grüblerisch-nachdenkliche Haltung des Literaturfreundes Tonio, der z.B. von Schillers Don Carlos begeistert ist; und dem die geradlinig-naive Art Hansens gegenübersteht, der bloß Pferdebücher mag. Dabei steht der helle Blondschopf Hansens wiederum in Kontrast zum dunklen Antlitz Tonios, der immer wieder eine neidische Sehnsucht empfand, wenn er ihn erblickte: Wer so blaue Augen hätte, dachte er, und so in Ordnung und glücklicher Gemeinschaft mit aller Welt lebte, wie du! Nach ihrem gemeinsamen Nachhauseweg ging Tonio ganz verklärt und beschwingt von dannen. Das Vorspiel endet mit einer ersten Reprise: Damals lebte sein Herz; Sehnsucht war darin und schwermütiger Neid und ein klein wenig Verachtung und eine ganze keusche Seligkeit.
Die erste Variation des Grundthemas widerfährt Tonio durch seine Liebe zu Ingeborg Holm, der blonden Inge, die er liebte als er sechzehn Jahre alt war. Gesten und Stimme weiblicher Grazie übermannten ihn und ein Entzücken ergriff sein Herz, weit stärker als jenes, das er früher zuweilen empfunden hatte, wenn er Hans Hansen betrachtete, als er noch ein kleiner dummer Junge war. Der schwermütige Tonio verlor sich an die lustige Inge, die ihn während der Tanzstunde allerdings kaum beachtete. Dafür liebte ihn Magdalena Vermehren, die beim Tanzen oft hinfiel, aber zu ihm kam bei Damenwahl mit ihren großen, dunklen, blanken Augen voll Ernst und Schwärmerei. Mit Magdalena hätte er Gedichte lesen können;- aber er liebte Inge Holm, die blonde, lustige Inge, die ihn sicher darum verachtete, daß er poetische Sachen schrieb ... Damals lebte sein Herz und das Glück, sagte er sich, ist nicht, geliebt zu werden; das ist mit Ekel gemischte Genugtuung für die Eitelkeit. Das Glück ist, zu lieben ... Und so gestand Tonio heimlich seiner Inge die Treue;- wenngleich er voll Staunen und Enttäuschung einsehen mußte, daß Treue auf Erden unmöglich war. Er verließ seine winklige Heimatstadt in dem Bewußtsein, daß er die Möglichkeiten zu tausend Daseinsformen in sich trage: allerdings gepaart mit der Einsicht, daß es im Grunde lauter Unmöglichkeiten seien ... Er war voller Spott für das plumpe und niedrige Dasein, das ihn so lange in seiner Mitte gehalten hatte. Und so ergab er sich der Macht des Geistes, die ihm die Augen öffnete. Was er aber sah, war dies: Komik und Elend - Komik und Elend. Als Schaffender arbeitete er fortan voller Verachtung für jene Kleinen, denen das Talent ein geselliger Schmuck war, wissend, daß man gestorben sein muß, um ganz ein Schaffender zu sein.
Verständnis findet Tonio Kröger bei seiner Kunstfreundin Lisaweta Iwanowna. Anläßlich eines Besuches in ihrem Atelier zur schönsten Jahreszeit, ergeht sich Tonio in Betrachtungen über den Ausschluß von Sinneslust und Schaffenskraft: Man arbeitet schlecht im Frühling, gewiß, und warum? Weil man empfindet. Und weil der ein Stümper ist, der glaubt, der Schaffende dürfe empfinden. In einem längeren Monolog über die Frage, was der Künstler sei, folgert er dann keck, daß es nötig sei, in irgendeiner Art von Strafanstalt zu Hause zu sein, um zum Dichter zu werden. In Vorwegnahme des Felix Krull fährt er fort, im Künstler einen Hochstapler, wenn nicht gar einen Kriminellen zu sehen: Aber drängt sich nicht der Verdacht auf, daß seine Erlebnisse im Zuchthause weniger innig mit den Wurzeln und Ursprüngen seiner Künstlerschaft verwachsen gewesen sein möchten, als das, was ihn hereinbrachte-? Die Russin Lisaweta kann es sich erlauben, demgegenüber die reinigende, heiligende Wirkung der Literatur hervorzuheben, die Zerstörung der Leidenschaften durch die Erkenntnis und das Wort, die Literatur als Weg zum Verstehen, zum Vergeben und zur Liebe, die erlösende Macht der Sprache, der literarische Geist als die edelste Erscheinung des Menschengeistes überhaupt, der Literat als vollkommener Mensch, als Heiliger,- ... Zwar verehrt Tonio die anbetungswürdige russische Literatur über alle Maßen, kann sich aber nicht des nihilistischen Einwandes erwehren: Alles verstehen hieße alles verzeihen? Ich weiß doch nicht. Es gibt etwas, was ich Erkenntnisekel nenne, Lisaweta: Der Zustand, in dem es dem Menschen genügt, eine Sache zu durchschauen, um sich bereits zum Sterben angewidert (und durchaus nicht versöhnlich gestimmt) zu fühlen,- der Fall Hamlets, des Dänen, dieses typischen Literaten. Er wußte, was das ist: zum Wissen berufen werden, ohne dazu geboren zu sein. Nach dieser mit Bezug auf Goethes Wilhelm Meister beginnenden Hamlet-Interpretation ringt Tonio sich zu einem Geständnis seiner verstohlenen und zehrenden Sehnsucht durch nach den Wonnen der Gewöhnlichkeit, nach den Anderen, den Blauäugigen, die den Geist nicht nötig haben! ... Lisawetas Fazit ist niederschmetternd: Sie sind ein Bürger auf Irrwegen, Tonio Kröger,- ein verirrter Bürger. Der Besuch endet nach einer Zeit des Stillschweigens: Ich danke Ihnen, Lisaweta Iwanowna; nun kann ich getrost nach Hause gehen. Ich bin erledigt. Freundinnen sind dazu da, einem die Wahrheit zu sagen. Für Tonio beginnt der Weg zur Läuterung mit dem Ziel, Kunst und Leben, Ästhetizismus und Bürgerlichkeit in Einklang zu bringen.
Im Herbst drängte es ihn wieder zur Reise. Diesmal aber nicht in den Süden, sondern nach Dänemark. Auf der Fahrt in den Norden würde er auch seine Heimatstadt wiedersehen. Der Aufenthalt in Lübeck verlief allerdings nicht ohne Unbill. Zunächst mußte er feststellen, daß sein Elternhaus zu einer Volksbibliothek umgebaut worden war und im Hotel geriet er in eine peinliche Polizeikontrolle. Man suchte einen Hochstapler aus München, der auf der Flucht nach Dänemark sein sollte. Handelte es sich vielleicht um Thomas Mann alias Felix Krull? Der Polizist hieß Petersen; einst in der Schule gerichtet, richtete er nun über unbescholtene Bürger. Für Tonio Kröger ein höchst seltsamer Aufenthalt in seiner Vaterstadt. Auf der Nachtfahrt über die Ostsee erfüllte ihn eine schaukelnde und still entrückte Stimmung; er war ein wenig niedergeschlagen gewesen, daß man ihn daheim als Hochstapler hatte verhaften wollen, ja,- obgleich er es gewissermaßen in der Ordnung gefunden hatte. An Deck sprach ihn ein Passagier an: Die Sderne, Gott sehen Sie doch bloß die Sderne an. Tonio reagierte nicht und so fuhr der Mitreisende ehrfürchtig fort: Wir Menschen haben den Telegraphen erfunden und das Telephon und so viele Errungenschaften der Neuzeit, ja, das haben wir. Aber wenn wir da hinaufsehen, so müssen wir doch erkennen und versdehen, daß wir im Grunde Gewürm sind, elendes Gewürm und nichts weiter,- ... Noch immer antwortete Tonio nicht, sondern dachte bloß: Au ... nein, der hat keine Literatur im Leibe! Dabei erinnerte er das recht feine ,,Geschwätz`` eines französischen Schriftstellers über kosmologische und psychologische Weltanschauung. So wie den Mitreisenden der Zauber des nächtlichen Sternenhimmels tief bewegte, erging es Tonio in Kopenhagen im Angesicht der Augen, die so blau, Haare, die so blond, Gesichter, die von eben der Art und Bildung waren, wie er sie in den seltsam wehen und reuigen Träumen der Nacht geschaut.
Nach diesem Zwischenspiel zog es Tonio ins Seebad nach Aalsgaard. Brandungsrauschen und Krähengeschrei im Ohr, genoß er in der feucht-frischen Salzluft ein tiefes Vergessen, ein erlöstes Schweben über Raum und Zeit, und nur zuweilen war es, als würde sein Herz von einem Weh durchzuckt, einem kurzen, stechenden Gefühl von Sehnsucht oder Reue, das nach Namen und Herkunft zu fragen er zu träge und versunken war. Am Tag darauf sollte im Festsaal seines Gasthauses ein Tanzabend veranstaltet werden, zu dem eine bunte und lustige Menschenmenge aus der Stadt angereist war. Auf der Veranda vor dem Haus sitzend, hatte Tonio eine Vision: Hans Hansen und Inge Holm gingen durch den Saal.- Die beiden gingen ihm nicht mehr aus dem Sinn; - frei vom Fluch der Erkenntnis und der schöpferischen Qual leben, lieben und loben in seliger Gewöhnlichkeit! ... Noch einmal anfangen? Sollte er sich ihnen nähern? Aber sie würden ihn nicht verstehen, würden befremdet auf das horchen, was er zu sagen vermöchte. Denn ihre Sprache war nicht seine Sprache. In des Wortes doppelter Bedeutung: sie sprachen nicht nur dänisch, sondern lebten auch in der ,,unbeseelten`` Alltagswelt. Ihm fiel eine vertraute Verszeile Storms ein, die so gut die melancholisch-nordische, innig-ungeschickte Schwerfälligkeit der Empfindung ausdrückte: Ich möchte schlafen, aber du mußt tanzen.
Tonio Kröger hatte versprochen, seiner Freundin, Lisaweta Iwanowna,
aus dem Norden einen Brief zu schreiben. In diesem Nachspiel wollte er auf gute Art
etwas Allgemeines sagen, anstatt Geschichten zu erzählen. Vom verirrten Bürger,
vom Künstler mit schlechtem Gewissen wollte er sich zur Bürgerlichkeit im Sinne
des Humanismus hinaufschwingen: Denn wenn irgendetwas imstande ist, aus einem Literaten
einen Dichter zu machen, so ist es diese meine Bürgerliebe zum Menschlichen, Lebendigen
und Gewöhnlichen. Und der zum Dichter geläuterte Literat schließt mit dem Bekenntnis:
Meine tiefste und verstohlenste Liebe gehört den Blonden und Blauäugigen, den hellen
Lebendigen, den Glücklichen, Liebenswürdigen und Gewöhnlichen.
Das Ganze ist Metaphysik, Musik und Pubertätserotik:- Ich komme nie aus der Pubertät heraus, bekennt Thomas im März 1901 seinem Bruder Heinrich in einem Brief mit Bezug auf die Buddenbrooks. Als Vorspiel dazu kann der Friedemann gelten und das Nachspiel ist im Tonio Kröger zu sehen. Gerda von Rinnlingen wurde Johannes Friedemann zum Verhängnis und Thomas Buddenbrook ehelichte Gerda Arnoldsen, Here und Aphrodite, Brünnhilde und Melusine in einer Person ... . Ihre Leidenschaft war die Musik, während er eine Schwäche für die Metaphysik hegte. Thomas war eher ein zärtlicher Träumer als ein nüchterner Geschäftsmann. Und dennoch wählte er die kühle Erotik Gerdas statt der wärmenden Liebe des Blumenmädchens,- weil es seinem Stande entsprach. Wem erklingt da nicht das Entsagungsmotiv aus dem Ring :
Nur wer der Minne
Macht versagt,
nur wer der Liebe
Lust verjagt,
nur der erzielt sich den Zauber,
zum Reif zu zwingen das Gold.
Indem Alberich die Liebe verflucht und sich des Rheingoldes bemächtigt, besiegelt er das
Schicksal über die Walküre und Siegfried bis hin zur Götterdämmerung. Und so kläglich
wie der Nibelunge endet auch Thomas Buddenbrook in Matsch, Schlamm und Kot. Dem Verfall
der Familie Buddenbrook unterliegt Schopenhauers Todesmetaphysik und Wagners Nibelungentragödie.
Das Entsagungsmotiv war auch bestimmend im Leben Albert Einsteins und Thomas Manns, die beide
früh ,,gestorben`` waren, um ganz ,,Schaffende`` sein zu können. Die
Pubertätserotik zwischen Hanno Buddenbrook und Kai Graf Mölln bleibt ebenso
unerfüllt wie die zwischen Tonio Kröger und Hans Hansen - und die zwischen
Thomas Mann und Armin Martens, Williram Timpe, Paul Ehrenberg, Wladyslaw Baron Moes, Klaus
Heuser, Franz Westermeier ... Thomas Mann blieb in der Tat sein Leben lang der Pubertätserotik
verfallen, obgleich er ihr abgeschworen hatte.
Das erste Leitmotiv der Buddenbrooks wird bereits im ersten Satz plaziert:
Was ist das. Es bezieht sich auf den christlichen Schöpfungsmythos wie er im kleinen
Katechismus Luthers volksnah formuliert wird. Die kleine Tony hat ihn herzusagen und
der Großvater macht sich darüber lustig, was seine Enkelin so alles ihr Eigen nennt. Das
Leitmotiv erscheint erneut, nachdem der kleine Hanno einen Schlußstrich im Familienbuch
gesetzt hat. Vater Thomas ist entsetzt und ruft: Was ist das. Mit Hanno endet
die Geschichte, die am Schluß ein ironisch gebrochenes Echo findet in der Wendung: Es ist so.
Während mit Hanno die todessüchtig-dekadente Seite der Kunst verschied, symbolisiert
Kai die lebensfreundlich-klassische Perspektive der Literatur. Ein Ausgang, wie ihn Thomas
Mann auch für den Tonio Kröger wählt. Nietzsche sprach von der Geburt der Tragödie
aus dem Geiste der Musik Wagners. Mit den Buddenbrooks ist Thomas Mann gleichsam die Geburt
der Literatur aus dem Geiste der Bürgerlichkeit der Manns gelungen.
Im November 1901 gibt Thomas in einem Brief seinem Freund Otto ein paar Winke, die
Buddenbrooks betreffend. Der Freund sollte durch positive Rezensionen die Verbreitung des
Buches befördern. Musik und Philosophie seien zwei echt deutsche Ingredenzien. Als seine
Meister sehe er Dickens und die großen Russen an. Zu tadeln sei die Hoffnungslosigkeit
und Melancholie des Ausgangs sowie eine gewisse nihilistische Neigung des Verfassers.
Aber das Positive und Starke an ihm sei sein Humor. Zusammenfassend sei es dem Autor gelungen,
den epischen Ton vortrefflich festzuhalten sowie die eminent epische Wirkung des
Leitmotivs einzusetzen. Das Wagnerische in der Wirkung dieser wörtlichen
Rückbeziehung über weite Strecken hin, im Wechsel der Generationen werde durchgehalten und
dabei die Verbindung eines stark dramatischen Elementes mit dem epischen Dialog erreicht.
Auf die Leitmotivtechnik griff Thomas Mann auch beim Tonio Kröger wieder zurück, aber
weniger strukturbildend. Die Novelle lebt von der Variation der Gegensätze, die der Autor
einmal als Mischung aus Wehmut und Kritik, aus Innigkeit und Skepsis, Storm und Nietzsche,
Stimmung und Intellektualismus bezeichnet hat. Zeit seines Lebens, versuchte er Herr der
Gegensätze zu bleiben. Die erlösende Wirkung im Erschauen der großartigen äußeren Natur
blieb ihm versagt. Einstein und Goethe gelang es, ihr enges Dasein zur Ewigkeit zu weiten.
Der junge Dichter hatte es zu reimen vermocht:
Wie sehn ich mich, Natur, nach dir,
Dich treu und lieb zu fühlen!
Ein lust'ger Springbrunn, wirst du mir
Aus tausend Röhren spielen.
Wirst alle meine Kräfte mir
In meinem Sinn erheitern
Und dieses enge Dasein hier
Zur Ewigkeit erweitern.
Ein Trost blieb den Buddenbrooks wie den Manns der Spruch von der bloß
symbolischen Bedeutung alles menschlichen Tuns. Denn alles ist bloß ein Gleichnis
auf Erden, schrieb Mann mit Goethe den Buddenbrooks ins Stammbuch. Thomas Mann suchte
sein Heil in der Literatur. Vom dekadenten Ästhetizisten entwickelte er sich zum Künstler
der Erkenntnis, ein Weg, den er auch Kai Graf Mölln am Ende der Buddenbrooks
beschreiten läßt. Und im Tonio Kröger schildert er die Widrigkeiten eines in die
Kunst verirrten Bürgers. Seine Bürgerliebe zum Menschlichen bewahrte ihn vor dem Abgleiten
in die Subkultur der Boheme. Aber auch die Angst vor den Versuchungen der Geschlechtlichkeit
mit ihren asozialen Folgen und das damit verbundene Absinken in die halbkriminelle Unterwelt,
ließ ihn den Weg in die unwirklich-illusionäre Existenzform des Künstler-Hochstaplers
wählen.
Hans Wysling hat im Rahmen der Thomas Mann Studien 1990 den Narzißmus und die illusionäre Existenzform am Beispiel der Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull untersucht. Und Eckard Heftrich hat 1982 in seinem zweiten Band über Thomas Mann den Weg Vom Verfall zur Apokalypse nachgezeichnet. Damit komme ich zu den Plänen und Motiven des Doktor Faustus und des Felix Krull, die bestimmend für das Werk und das Leben des Autors waren. Den Faustus hat Mann auch als sein persönlichstes Werk bezeichnet; als seine ,,Lebensbeichte``. Und im Anschluß an Wagners Spätwerk: Was da, vielleicht, eines Tages zu machen sein würde, nannte ich im stillen meinen ,,Parsifal``, heißt es in der Entstehung des Doktor Faustus. Der Plan zum Faustus geht auf das Jahr 1904 zurück. Thomas Mann durchlebt gerade die Ablösung von Paul Ehrenberg und die Hinwendung zu Katja Pringsheim. Gleichsam infiziert durch sein Künstlertum und die Homoerotik, notiert er einen ,,Drei Zeilen-Plan`` für einen Roman: Der syphilitische Künstler nähert sich von Sehnsucht getrieben einem reinen, süßen jungen Mädchen, betreibt die Verlobung mit der Ahnungslosen und erschießt sich dicht vor der Hochzeit. Und als Novellenstoff faßt er ins Auge: Figur des syphilitischen Künstlers: als Dr. Faustus und dem Teufel Verschriebener. Das Gift wirkt als Rausch, Stimulans, Inspiration; er darf in entrückter Begeisterung geniale, wunderbare Werke schaffen, der Teufel führt ihm die Hand. Schließlich aber holt ihn der Teufel: Paralyse. Die Sache mit dem reinen, jungen Mädchen, mit dem er es bis zur Hochzeit treibt, geht vorher. Aus dieser Keimzelle sollte der Roman einer Epoche werden, verkleidet in der Geschichte eines Künstlerlebens. Soweit war es aber noch nicht.
Ebenfalls in der Entstehung schreibt Mann 1949: Ein Tag brachte trotz allem die Auflösung der Materialpakete zum Hochstapler, die Wiederlesung der Vorarbeiten - mit wunderlichem Ergebnis. Es war ,,Einsicht in die innere Verwandtschaft des Faust-Stoffes damit (beruhend auf dem Einsamkeitsmotiv, hier tragisch-mythisch, dort humoristisch-kriminell);`` ... Goethes Faust und Manns Krull entstammten je auf ihre Weise dem Einsamkeitsmotiv des Erkenntnis-Künstlers. Schon Tonio Kröger wurde für einen Hochstapler gehalten. Als komödiantischen Nur-Künstler hatte Thomas auch seinen Bruder Heinrich kritisiert. In den Notizen taucht das Motiv wieder auf: Der Litterat als Abenteurer. Typus Henry. Auch eine erste Konzeption zum Krull notiert sich Thomas Mann bereits Anfang 1906: Der Hochstapler lernt einen jungen Grafen kennen, der ein Liebesverhältnis hat und dem seine Familie, um ihn los zu machen, eine Reise um die Welt verordnet hat. Sie hat ihm eine große Summe dazu geschickt und verlangt Briefe von Stationen. Felix macht ihm den Vorschlag, zu tauschen. Er empfängt das Geld, sie schreiben zusammen nach dem Bädeker die Briefe, und Felix reist als Graf u. gibt die Briefe an den betreffenden Stationen auf, während der wirkliche Graf bei seinem Liebchen bleibt ... Weder mit dem syphilitischen Künstler noch mit dem Lebenskünstler sollte es vorerst aber was werden. Zunächst erlebte der Autor den Rausch der Verliebtheit und verklärte seine Verlobungszeit 1909 heiter-ironisch in dem Prinzenmärchen Königliche Hoheit. Im Lebensabriß führt er dazu aus: Nach der Zurücklegung von Königliche Hoheit hatte ich die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull zu schreiben begonnen - ein sonderbarer Entwurf, auf den, wie viele erraten haben, die Lektüre der Memoiren Manolescus mich gebracht hatte. Es handelte sich natürlich um eine Wendung des Kunst- und Künstlermotivs, um die Psychologie der unwirklich-illusionären Existenzform. Was mich aber stilistisch bezauberte, war die noch nie geübte Direktheit, die mein grobes Muster mir nahelegte, und ein phantastischer geistiger Reiz ging aus von der parodistischen Idee, ein Element geliebter Überlieferung, das Goethisch-Selbstbildnerisch-Autobiographische, Aristokratisch-Bekennerische, ins Kriminelle zu übertragen. Ein erster Text aus den Bekenntnissen erschien 1911 unter dem Titel Der Theaterbesuch. Er wurde als fünftes Kapitel in das 1922 veröffentlichte Buch der Kindheit aufgenommen. Als sechstes Kapitel erschien darin ein 1919 in Umlauf gebrachter Text über Die Schulkrankheit.
Mit dem Werk der Weckuhr ließ Thomas Mann bereits 1901 eine Betrachtung über den Schulalltag
aus dem Leben des kleinen Hanno Buddenbrook beginnen. Dem Genre des Schulromans nahmen
sich Anfang des 20. Jahrhunderts mehrere bedeutende Schriftsteller an: 1902 erschien Freund
Hein von Emil Strauß, 1905 Bruder Heinrichs Professor Unrat und 1906 Hermann Hesses
Unterm Rad sowie Robert Musils Die Verwirrungen des Zöglings Törleß. Und 1913
schrieb Thomas Mann ein Vorwort zu einem Roman für den Schulroman Nacht und Tag
des früh verstorbenen Erich von Mendelssohns. Bemerkenswerterweise bezieht sich Mann darin
aber nicht auf die Schulproblematik, sondern hebt das Autobiographische aus dem Leben eines
Schriftstellers hervor. Mit Goethe feiert er die Schicksalsfähigkeit wahren Talents:
Alles geben die Götter, die unendlichen,
Ihren Lieblingen ganz:
Alle Freuden, die unendlichen,
Alle Schmerzen, die unendlichen, ganz.
Die Liebe zu sich selbst mag zwar der Anfang eines romanhaften Lebens sein;
zur Kunst reiche sie nicht, denn die Wirklichkeit sei genialer als jedes Genie. Und
nur wo das Ich eine Aufgabe ist, hat es einen Sinn, zu schreiben.
Unter dem Titel Der Entwicklungsroman nimmt Thomas Mann in der Einführung zu
einer Lesung aus dem Krull, die am 5. November 1916 in Berlin stattfand, auf sein
Vorwort von 1913 bezug. Die Anfänge seines bisher unvollendeten Buches gäben sich
danach illusionsweise als Autobiographie eines Schwindlers, eines Hochstaplers. Um
einer deutschnationalen Kritik zuvorzukommen, grenzt Mann seinen Krull als
Entwicklungsroman gegen den Ruch der Gesellschaftskritik ab: Der Roman
überhaupt, in seiner Gemischtheit aus synthetisch-plastischen und analytisch-kritischen
Elementen, ist eigentlich keine sehr deutsche Gattung. Er ist es am wenigsten, sofern er
politisch, sofern er Gesellschaftskritik ist. Es gibt unterdessen eine Spielart des Romans,
die allerdings deutsch, typisch deutsch, legitim national ist, und dies ist eben der
autobiographisch erfüllte Bildungs- und Entwicklungsroman. Im Gegensatz zu seinem Bruder
Heinrich verwahrte sich Thomas davor, mit Erzählungen aus der Schulzeit oder
Hochstapler-Bekenntnissen eine gesellschaftskritische Absicht zu verfolgen. Nach
einer weiteren Teil-Veröffentlichung bis zur Mitte des zweiten Buches 1937
nahm er die Arbeit am Schluß des zweiten und am dritten Buch erst zwischen 1951
und 1954 wieder auf. Auch die letzte Ausgabe blieb Fragment. Thomas Mann hat seine
Travestie von Dichtung und Wahrheit und Faust ins hochstaplerisch-kriminelle
nicht abzuschließen vermocht.
Die erste Unterbrechung in der Arbeit am Krull veranlaßte eine Italienreise im Frühling 1911. Am 2. Juni begegnete Thomas Mann im Hotel des Bains zu Venedig dem 14jährigen Wladyslaw Baron Moes, der das Vorbild für den Tadzio aus der Novelle abgeben sollte. Seine homoerotische Erschütterung vergeistigte der Autor zu einer Novelle von formvollendeter Klassizität. Genauso wie in der für Thomas Mann typischen Gegenüberstellung, ist Krull vorwiegend eine Travestie des komödiantischen Nur-Künstlers, während Aschenbach aus dem Tod in Venedig die Rolle des Literaten zu übernehmen hatte, dem alle sittliche Veredelung zukommen sollte. Dem Komödiantentyp des naiv-sinnlichen Künstlers steht der asketische Moralismus des vergeistigten Literaten gegenüber. Mit Gustav Aschenbach wählt Thomas Mann dabei einen Namen, der an den frühen Tod Gustav Mahlers denken läßt und das Bild der Totenasche heraufbeschwört. Zugleich steht der Musiker aber auch für den Hinweis, daß sich Thomas Mann in seiner Literatur der Kompositionskunst verpflichtet fühlt. Im Vorwort zu einer Bildermappe zum Tod in Venedig schreibt er 1921: In der Konzeption meiner Erzählung spielte, Frühsommer 1911, die Nachricht vom Tode Gustav Mahlers hinein, dessen Bekanntschaft ich vordem in München hatte machen dürfen, und dessen verzehrend intensive Persönlichkeit den stärksten Eindruck auf mich gemacht hatte.
Die bloß in Entwürfen und Skizzen angedachten Werke, die Thomas Mann nicht gelingen wollten, läßt er Gustav Aschenbach vollenden: Der Autor der klaren und mächtigen Prosa-Epopöe vom Leben Friedrichs von Preußen, der geduldige Künstler, der in langem Fleiß den figurenreichen, so vielerlei Menschenschicksal im Schatten einer Idee versammelnden Romanteppich, ,,Maya`` mit Namen, wob; der Schöpfer jener starken Erzählung, die ,,Ein Elender`` überschrieben ist und einer ganzen dankbaren Jugend die Möglichkeit sittlicher Entschlossenheit jenseits der tiefsten Erkenntnis zeigte; der Verfasser endlich (und damit sind die Werke seiner Reifezeit kurz bezeichnet) der leidenschaftlichen Abhandlung über ,,Geist und Kunst``, deren ordnende Kraft und antithetische Beredsamkeit, ernste Beurteiler vermochte, sie unmittelbar neben Schillers Raisonnement über naive und sentimentalische Dichtung zu stellen. Die gelungene Verbindung von Geist und Macht sah Thomas Mann in der aufgeklärten Monarchie Friedrichs verwirklicht, die er in einem historischen Roman zu einem Idealbild auszugestalten plante. Unter dem Titel Maya hatte der Schriftsteller in Analogie zum Verfall einer Lübecker Kaufmanns-Familie die Thematisierung der Dekandenz im Münchner Kulturleben erwogen, aber nie ernsthaft in Angriff genommen. Er scheute sich wohl, seiner Wahlheimat den ironischen Spiegel vorzuhalten. Auch ein eher sozialkritisches Werk, worauf der an Hugo gemahnende Titel verweisen mag, hat der Autor nie ausgeführt. Und ebenso verhielt es sich mit der Abhandlung über Geist und Kunst, von der schon die Rede war. Mit dem Tod in Venedig meisterte Mann gleichsam seine Schaffenskrise, indem er einen anerkannten Literaten erfand, auf den er seine eigenen Wünsche und künstlerischen Ansprüche projizieren konnte. So hatte es auch Aschenbach gelernt, von seinem Schreibtische aus zu repräsentieren und seinen Ruhm zu verwalten. Und ebenso weit entfernt vom Banalen wie vom Exzentrischen, war sein Talent geschaffen, den Glauben des breiten Publikums und die bewundernde, fordernde Teilnahme der Wählerischen zugleich zu gewinnen. Neben dem Talent, naive Geschichtenleser und gebildete Kunstverständige gleichermaßen anzusprechen, einte Aschenbach und Mann auch die Ansicht, daß es eine ,,Übereinstimmung`` zwischen der Erfahrungswelt des Künstlers und dem Menschheits-Geschehen geben müsse, die einem Kunstwerk erst seine Wirkung ermögliche: Damit ein bedeutendes Geistesprodukt auf der Stelle eine breite und tiefe Wirkung zu üben vermöge, muß eine geheime Verwandtschaft, ja Übereinstimmung zwischen dem persönlichen Schicksal seines Urhebers und dem allgemeinen des mitlebenden Geschlechtes bestehen.
Nach einem Ausbruch des Ekels gegen den unanständigen Psychologismus der Zeit, nach
dem alles verstehen schon alles verzeihen hieß, gelang Aschenbach der Durchbruch
zu Meisterlichkeit und Klassizität, schreibt Thomas Mann in der Novelle, den Tonio Kröger
fortführend und das Thema behandelnd, nach dem seine eigene Schrift konzipiert ist. Im Krull
hat sich Mann auf Dichtung und Wahrheit und Faust bezogen, mit Aschenbach nimmt
er den Mann von fünfzig Jahren aus dem Wilhelm Meister auf und variiert Goethes
Spätliebe zu Ulrike von Levetzow. Die Heimsuchung eines alternden Mannes durch ein junges Weib
hatte Mann schon 1907 in seinem Versuch über das Theater beschrieben. Und in einem Brief an
eine Leserin von 1915 heißt es: Ich hatte ursprünglich nichts Geringeres geplant als die
Geschichte von Goethe's letzter Liebe zu erzählen ... Über Goethe und die Erotik gelangt
er zwanglos zum klassischen Schönheitsideal: Aschenbach erschrak geradezu über
die wahrhaft gottähnliche Schönheit des Menschenkindes. Das Haupt des Eros war von
unvergleichlichem Liebreiz. Dem Logos des Literaten drohte die Krise. Aber Sokrates
hatte eine Lösung parat: Denn die Schönheit, mein Phaidros, nur sie, ist liebenswürdig
und sichtbar zugleich: sie ist, merke das wohl! die einzige Form des Geistigen, welche wir
sinnlich empfangen, sinnlich ertragen können. Gustav und Tadzio tauschten nur
Blicke aus - und der Schriftsteller schwelgte in Sehnsucht. Denn der Mensch liebt und ehrt
den Menschen, solange er ihn nicht zu beurteilen vermag, und die Sehnsucht ist ein Erzeugnis
mangelhafter Erkenntnis. Der Literat durchlebte die Einsamkeit, Fremde und das Glück
eines späten und tiefen Rausches, wohl vage ahnend, daß auch der schöne Jüngling nur ein
weiterer Todesbote in der leitmotivischen Reihe seiner Vorgänger war, die mit der nicht
ganz gewöhnlichen Erscheinung des Fremden an der Freitreppe der Aussegnungshalle begann.
Weitere Todesboten auf der mythisch-symbolischen Reise des Künstlers in den Hades sind
Schiffsangestellte und Fahrkartenverkäufer, der Greis als Jüngling, der Gondolier, der
Bademeister und die Komödianten am Hotel. Aschenbachs Aufstieg vom ,,Nur-Persönlichen``
ins ,,Platonisch-Ideale`` wird vom Eros durchkreuzt, der ihn am verseuchten Ort hält,
wo er der Cholera anheim fällt. Nur der glänzt in der Kunst, den Eros unterweist.
Gustav Aschenbach hatte sich im Werk formal zur Klassik erhoben, durchlebt hatte er sie aber
nicht. Der Erkenntnis-Künstler Thomas Mann sah in der Schönheit nicht nur den
versinnlichten Geist, sondern auch den Weg zur Wahrheit durch Vergeistigung der Sinne.
Während der Arbeit am Tod in Venedig hatte er wiederholt die Wahlverwandschaften gelesen. In Goethes Prosa erblickte er die klarste Mischung aus Eros und Logos, Verleiblichung und Vergeistigung. Und das Ineinander von Plastik und Idee sieht er im Anschluß an Schiller als eine wechselseitige Durchdringung des naiven und sentimentalischen Wesens an. Die hohe Begegnung von Natur und Geist auf ihrem sehnsuchsvollen Weg zueinander münde ein - in den Menschen. Zum Generalmotiv von Goethes Leben und Werk wurde dabei auf dem Wege der Naturvergeistigung das spinozistische Motiv der Entsagung; im Unterschied zur Idee der Freiheit bei Schiller und der Erlösungssehnsucht bei Wagner. Das Entsagungsmotiv mag auch für Thomas Mann selbst bestimmend gewesen sein. Aufschlußreich dazu ist sein Brief an Hermann Keyserling über Die Ehe im Übergang. Wenngleich er im Wandel der ehelichen Umgangsformen eher eine Art von beiderseitiger Vermenschlichung sah, die sogar Kameradschaft ermögliche, gerät ihm der Text insgesamt eher zu einer Abhandlung über die Homoerotik: Alles, was die Ehe ist, nämlich Dauer, Gründung, Fortzeugung, Geschlechterfolge, Verantwortung, das ist die Homoerotik nicht; und als sterile Libertinage ist sie das Gegenteil der Treue. Im Anschluß an Platen ist die Homoerotik für Mann geradezu erotischer Ästhetizismus zu nennen:
Wer die Schönheit angeschaut mit Augen,
Ist dem Tode schon anheimgegeben.
Wird für keinen Dienst der Erde taugen,
Und doch wird er vor dem Tode beben,
Wer die Schönheit angeschaut mit Augen!
Thomas Mann legt sich den Zusammenhang zwischen Schönheit und Tod bzw. erotischem
Ästhetizismus und steriler Libertinage wie folgt zurecht: Das Prinzip der Schönheit
und Form entstammt nicht der Sphäre des Lebens; seine Beziehung zu ihr ist höchstens
streng kritischer und korrektiver Natur. Es steht dem Leben in stolzer Melancholie
entgegen und ist im Tiefsten mit der Idee des Todes und der Unfruchtbarkeit verbunden.
Der Gegensatz zwischen dem metaphysischen Individualismus des erotischen
Ästhetizisten und der lebensgutwilligen Bravheit des treusorgenden Familienvaters
war schon den Buddenbrooks einbeschrieben.
Der entsagende Homoerotiker und verfaßte Familienvater Thomas Mann führt
weiter aus: Diese Abwendung von der Idee der Familie und Geschlechtsvereinigung,
diese Flucht ins Metaphysische ist Ausdruck desselben Prozesses von Auflösung der
Lebenszucht, von ,,Heimkehr`` in die orgiastische Freiheit des Individualismus,
den ich im ,,Tod in Venedig`` in Gestalt der Knabenliebe noch einmal geschildert
habe.
Wenn man die Verantwortung für Haushalt und Kinder den Frauen überläßt, gelingt eine
Flucht in den metaphysischen Individualismus auch dem Familienvater; mag es sich
gar um einen heteroerotischen Ästheten mit abstrakt-mathematischem Schönheitssinn
handeln. Mit seiner Geometrisierung der Gravitationstheorie hatte sich Einstein ebenfalls
dem Erschauen des ,,Platonisch-Idealen`` zugewandt. Ebenso wie die
Übereinstimmung zwischen der Erfahrungswelt des Schriftstellers Mann mit dem
Menschheitsgeschehen, gab es auch eine Übereinstimmung zwischen der Erfahrungswelt
des Physikers Einstein mit dem Naturgeschehen. Aber darüber steht das marmorne
Lächeln der unerbittlichen Natur, die uns mehr Sehnsucht als Geist verliehen hat,
wie Einstein sich einmal geradezu poetisch ausgedrückt hat. Von der Sehnsucht nach einer
einheitlichen Weltbeschreibung blieb er zeitlebens erfüllt. Die Zeilen aus Platens
Venedig-Epigramm Rückblick erschließen die Stimmung des Literaten und Physikers
gleichermaßen:
Es wird in der Seele des zärtlichen Schwärmens
Jedes Gefühl Sehnsucht, jeder Gedanke Gefühl.
Erlebnisse führen zu vagen Empfindungen, die in deutliche Gedanken überführt werden
müssen, damit sie sprachlich verständlich geäußert werden können. So macht es der
Literat. Und im Anschluß an Einsteins Wissenschaftsauffassung ist Literatur der Versuch,
der chaotischen Mannigfaltigkeit der Sinneserlebnisse ein episch einheitliches gedankliches
System zuzuordnen. Wie die Feldtheorie versagt auch die Epik beim Unvorhergesehenen, Zufälligen,
Spontanen. Da nie alle Umstände und Randbedingungen vollständig oder genau genug bekannt sind,
beschreiben Theorien und Romane die Situationen meistens nur im Nachhinein. Niemand bleibt
ganz, der er ist, indem er sich erkennt, schreibt Mann in seinem Lebensabriß. Kunst
und Wissenschaft eint das Paradoxon der Erkenntnis. Erkennen können wir nur das Unveränderliche
der Vergangenheit. Das Veränderliche der Zukunft dagegen bleibt unerkennbar. Der feiner
Besaitete ist sich beim Anblick des nächtlichen Sternenhimmels der Reise des Lichtes aus
der Vergangenheit des Universums bewußt. Man hat keine Seele, wenn man keine Ehrfurcht
vor dem Universum hat, pflegte Einstein zu sagen. Selbst unser so stabil erscheinendes
Planetensystem ist noch weitgehend unerkannt. In seinen Asteroidengürteln halten sich
Riesengesteine verborgen, die jederzeit durch kleinste Instabilitäten aufgrund
stochastischer Schwankungen auf Kollisionskurs mit der Erde geraten können. Das Naturgeschehen
hält aber nicht nur kosmische Heimsuchungen bereit, sondern äußert sich auch als Krankheit
im Organismus.
Im Januar 1912 schreibt Thomas Mann in einem Brief an Ludwig Ewers: Ich habe seit Monaten viel Sorge mit meiner kleinen Frau, deren Gesundheit viel zu wünschen läßt. Und im Lebensabriß führt er dazu aus: Im Jahre 1912 war meine Frau an einem Lungenspitzenkatarrh erkrankt und mußte zweimal in diesem Jahre und aufs neue im übernächsten, eine Reihe von Monaten im Schweizer Hochgebirge verbringen. Im Mai und Juni 1912 verbrachte ich drei Wochen als Hospitant bei ihr in Davos und sammelte - aber das Wort entspricht sehr schlecht der Passivität meiner Erlebnisse - jene wunderlichen Milieueindrücke, aus denen die Hörselbergidee zu einer knappen Novelle sich bildete, gedacht wiederum als rasche Einlage in die Schwindlerbekenntnisse, die durchaus zur Fortsetzung lockten, und als Satyrspiel zu einer novellistischen Tragödie der Entwürdigung, von der ich kam. Von seinen wunderlichen Erlebnissen auf dem Zauberberg in Davos berichtet Thomas Mann Hans von Hülsen: Ich leiste hier meiner gebesserten aber noch keineswegs hergestellten Frau Gesellschaft und gewöhne mich recht mühsam an die 1600 m. Ein paar Tage machten sie mir sogar Fieber, sodaß der Professor mich schon profitabel lächelnd für offenbar etwas tuberkulös und einer längeren Kur bedürftig erklärte. Der ironische Unterton sollte vortrefflich die Novelle Der verzauberte Berg grundieren. Die Schwindlerbekenntnisse waren durch die Arbeit an der Entwürdigungstragödie ein Jahr liegen geblieben. Im Juli 1913 schreibt Thomas Mann an Ernst Bertram: Ein dreiwöchiger Aufenthalt am südlichen Meer war wieder recht wohl gethan. Trotzdem lasse ich meinen wunderlichen Roman noch weiter liegen und bereite zunächst noch eine Novelle vor, die eine Art von humoristischem Gegegenstück zum ,,Tod i. V.`` zu werden scheint.
Auch der als Novelle geplante und zum Roman ausgeweitete Zauberberg sollte mit
einer Reise beginnen, die ins Abenteuerliche und mythisch-symbolische überführt und
mit Krankheit und Tod enden sollte. Das erwogene humoristische Satyrspiel wie die
Entwürdigungstragödie hatten die Faszination durch Liebe und Tod zum Thema,
beide sollten den Triumpf rauschhafter Unordnung über ein auf Ordnung fußendes
Leben zeigen, schreibt Hans Wysling mit Bezug auf den Lebensabriß im
Thomas Mann Handbuch. Als Triumpf rauschhafter Unordnung mag Albert Einstein
den Erfolg der Heisenbergschen Quantenmechanik empfunden haben. Ging es ihm doch
zeitlebens um die Zurückführung statistischer Schwankungen auf eine unterliegende
Schicht deterministischer Ordnung. Im März 1928 beteiligte sich der Physiker
an den Davoser Hochschultagen, die vielen wertvollen Menschen innere Bereicherung
bringen und manche aus der Armut des Sanatoriumsdaseins befreien sollten; denn ebenso
wie mäßige körperliche Arbeit sei auch mäßige geistige Arbeit der Gesundheit
indirekt zuträglich. Nach diesem Auftakt spannte er in seinem Festvortrag
Grundbegriffe der Physik und ihre Entwicklung den Bogen von den primitiven Animisten,
die alles Geschehen als Willenstätigkeit unsichtbarer Geister verstanden, über die
deterministische Kausalität der aufgeklärten Mechanisten bis hin zu den Geisterbeschwörern
von ,,Gespensterfeldern`` in der modernen Physik, die sich nicht
mehr mit den Dingen selbst, sondern nur noch mit ihrem Auftreten in statistischen
Korrelationen zwischen experimentellen Ereignissen befaßten.
Für Thomas Mann dagegen, der die Physik nur aus kommentierenden Zeitungsartikeln oder
sonstigen popularisierten Darstellungen kannte, war bereits die streng
deterministisch-kausale und sich noch mit den Dingen selbst beschäftigende
Relativitätstheorie der reinste Okkultismus. In seinem Essay Okkulte Erlebnisse
von 1923 bekennt er, natürlich nicht ohne ironischen Unterton: Ich bin den
Okkultisten in die Hände gefallen. Seinem beliebten Gegensatz von Geist und
Natur folgend, hat er Zweifel daran, ob Würde und Geschmack als Kategorien
des Geistes in jenem Prozeß, in dem die Natur durch den Menschen sich selbst
ergründet, überhaupt angemessen seien. Denn bei den okkulten Phänomenen handele
es sich nicht länger um Geist, Niveau, Geschmack, um nichts in Kühnheit
Schönes; hier ist Natur im Spiel und das ist ein unreines, skurriles, boshaftes
und dämonisch-zweideutiges Element. Einstein sagte demgegenüber einmal, wobei
er Gott mit Natur identifizierte: Raffiniert ist der Herrgott, aber boshaft
ist er nicht. Einsteins und Manns Naturverständnis lagen weit auseinander. Aber
ähnlich wie Mann sich ironisch über die okkulten Phänomene ausließ, spottete
Einstein über die Behandlung der Quantenerscheinungen durch ,,Gespensterfelder``
in den Arbeiten seiner Kollegen. Die Quantentheorie kannte Mann nicht;
von der Relativitätstheorie hatte er aber gehört. Und so fährt er fort: Die
Tatsache, daß ich von der Lehre des berühmten Herrn Einstein sehr wenig weiß und
verstehe (außer etwa, daß demnach die Dinge eine ,,vierte Dimension``
besitzen, nämlich die der Zeit), hindert mich so wenig wie jeden anderen intelligenten
Laien, zu bemerken, daß in dieser Lehre die Grenze zwischen mathematischer Physik
und Metaphysik fließend geworden ist. Ist es noch ,,Physik``, oder was ist
es eigentlich, wenn man sagt (und man sagt heute so!) die Materie sei zuletzt und
zuinnerst nicht materiell, sie sei nur eine Erscheinungsform der Energie, und ihre
,,kleinsten`` Teile, die aber bereits weder klein noch groß sind, seien
zwar von zeiträumlichen Kraftfeldern umgeben, aber sie selbst seien zeit- und
raumlos? Im Bereich der Literatur hielt sich Mann nicht an das, was man so sagte.
Warum hat er nicht zumindest mal in die populären Schriften
Einsteins geschaut?
Dort hätte er jedenfalls nicht derartige Metaphysik zu lesen bekommen.
Die faszinierenden Entwicklungen in Mathematik und Philosophie, Technik und
Physik blieben dem Literaten leider verborgen. Probleme hatte er aber auch
mit der Politik und dem Zeitgeschehen, da seine Anlagen und Bildungsüberlieferungen,
moralisch-metaphysischer und nicht politisch-gesellschaftlicher Art seien,
wie er im Lebensabriß anmerkt. Im November 1913 bekennt er resigniert
seinem Bruder Heinrich: Es ist schlimm, wenn die ganze Misere der Zeit und
des Vaterlandes auf einem liegt, ohne daß man die Kräfte hat, sie zu gestalten.
Aber das gehört wohl eben zur Misere der Zeit und des Vaterlandes. Oder wird
sie im ,,Unterthan`` gestaltet sein? Ich freue mich auf deine Werke mehr,
als auf meine. Du bist seelisch besser dran, und das ist eben doch das Entscheidende.
Ich bin ausgedient, glaube ich, und hätte wahrscheinlich nie Schriftsteller
werden dürfen. Bruder Heinrich hatte mit der Freilegung der Untertanenhaltung
im deutschen Kaiserreich einen wesentlichen Aspekt des Zeitgeschehens zu fassen
vermocht; er hatte sich auf die Seite der Zivilisation geschrieben und offen zur
Republik bekannt. Sein gesellschaftskritischer Roman konnte allerdings 1914 nicht
mehr erscheinen, da sich im aufbrandenden Patriotismus kein Verleger mehr fand.
Lediglich Privatdrucke machten die Runde und erreichten auch den Anti-Patriotisten
und Gefühlssozialisten Albert Einstein
, der das Buch mit
Interesse und Zustimmung las.
Der Mord in Sarajewo hatte das Faß des Wettrüstens zwischen den Großmächten
Europas zum Überlaufen gebracht. Ein winziger Anlaß mit gewaltigen Folgen;
vergleichbar mit einer überkritischen Instabilität in der nichtlinearen
Dynamik eines hinreichend komplexen Systems. Thomas Mann verglich die Situation
Kaiser Wilhelms II. mit der Friedrich II. von Preußen. In einem Artikel für das
Svenska Dagbladet schreibt er im Anschluß an seinen Essay Friedrich
und die große Koalition im Mai 1915: Wer die Geschichte Friedrichs des
Großen kennt und liebt, ist erschüttert und fast entzückt über die erstaunliche
Ähnlichkeit der inneren Sachlage vom Hochsommer 1914 und der vom Hochsommer 1756.
Wie sehr muß der König die Beflissenheit verachtet haben, mit welcher der Klüngel
drüben sich unschuldig zu halten, defensiv zu tun und ihm das Odium des
Angreifers zuzuschreiben trachtete. Der 1. Weltkrieg bildete wiederum eine Heimsuchung
im Leben Thomas Manns, die ihn zutiefst erschüttern sollte. Politisch wie ästhetisch
allerdings ging er gereift aus ihr hervor. Auch die gerade aufgenommene Arbeit am
Zauberberg mußte wiederum unterbrochen werden. Im Lebensabriß heißt
es dazu: Es war für die Form des ,,Zauberbergs`` noch ein Glück,
daß der Krieg zu jener Generalrevision meiner Grundlagen, dem mühsamen Gewissenswerk
der ,,Betrachtungen eines Unpolitischen`` zwang, durch welches dem Roman das
schlimmste an grüblerischer Beschwerung abgenommen oder doch zu seinen Gunsten
spiel- und kompositionsreif gemacht wurde. Das klingt sehr bedacht und ausgewogen.
In Wahrheit hatte ihn eine Formulierung Heinrichs in dessen ,,Zola-Essay``
tief verletzt und den Bruderzwist erneut angeheizt. Heinrich nutzte in wahrlich
infamer Weise die Schaffenskrise des Bruders nach den Buddenbrooks, um ihn
öffentlich zu demütigen, wenn er 1915 schreibt: Sache derer, die früh vertrocknen
sollen, ist es, schon zu Anfang ihrer zwanzig Jahre bewußt und weltgerecht hinzutreten.
Das saß! In seiner später sogenannten künstlerischen Eroberung und Erkundung
der melancholisch-reaktionären Sphäre der Betrachtungen holte Thomas zum
Gegenschlag weit aus. Auf der Woge des deutschnationalen Hurra-Patriotismus wandte
er sich wortreich und stilvoll mit dialektischer Beredsamkeit gegen den französischen
Zivilisationliteraten und stellte ihm den deutschtümelnden Kulturdichter entgegen.
Als deutschnationaler Monarchist trat er vehement für den Erhalt des Kulturerbes
ein, das vor der Zivilisation geschützt werden müsse.
1919 kam die Arbeit am Zauberberg wieder in Fluß, schreibt Thomas Mann im Lebensabriß und ergänzt: Aber kritische Aufsätze, von denen die drei umfangreichsten: ,,Goethe und Tolstoi``, ,,Von deutscher Republik`` und ,,Okkulte Erlebnisse``, unmittelbare prosaische Ableger des Romans waren, begleiteten die Arbeit daran und zogen sie in die Länge. Zu seinem öffentlichen Bekenntnis für die deutsche Republik ließ sich Thomas Mann aber erst 1922 anläßlich der Ermordung Walter Rathenaus hinreißen. Als ein prosaischer Ableger verweist der Essay Von deutscher Republik auch auf seine epische Vorlage: Wer sich für das Organische, das Leben, interessiert, der interessiert sich namentlich für den Tod; und es könnte Gegenstand eines Bildungsromans sein, zu zeigen, daß das Erlebnis des Todes zuletzt ein Erlebnis des Lebens ist, daß es zum Menschen führt. Der Essay endet mit dem Aufruf: ,,Es lebe die Republik!`` Gleichwohl blieb seine Hinwendung zur Republik halbherzig. Man könnte ihn als ,,Herzensmonarchist`` und ,,Vernunftrepublikaner`` bezeichnen. Der ,,Gefühlssozialist`` und ,,Freigeist`` Einstein dagegen war seit seiner Schweizer Jahre immer wieder gegen Nationalismus und Patriotismus sowie für Pazifismus und Sozialsimus eingetreten . Seiner Persönlichkeit nach war er Weltbürger und Kosmopolitiker und engagierte sich nach dem 1. Weltkrieg sogar im Völkerbund. 1924 endlich konnte Thomas Mann seinen Zauberberg abschließen, an dem er über zwölf Jahre immer wieder gearbeitet hatte. In seinem Lebensabriß findet er 1930 Vergnügen daran, wie in seinem Lebensplane die beiden Haupterzählungen zu den großen Romanen und diese zueinander stehen, ,,Tonio Kröger`` mit ,,Buddenbrooks``, ,,Der Tod in Venedig`` mit dem ,,Zauberberg`` korrespondiert und wiederum dieser genauso das dichterische Gegenstück zu dem Roman des Fünfundzwanzigjährigen bildet wie die venezianische Untergangsgeschichte dasjenige der nordischen Jünglingsnovelle. Auf seine episch kunstvoll ausgestaltete Ideenkomposition des Zauberbergs konnte er mit Recht stolz sein. War der Verfall der Familie Buddenbrooks noch ganz im Geiste des 19. Jahrhunderts verfaßt worden und Königliche Hoheit nur ein amüsantes Zwischenspiel geblieben, ist der Zauberberg als ein Meisterwerk des 20. Jahrhunderts anzusehen. Im Anschluß an die Entwürdigungstragödie verkörpert der Roman etwas ausnehmend Logisches, Formvolles und Klares, etwas zugleich Strenges und Heiteres. Im Gegensatz zu den Buddenbrooks wird nicht nur der Verfall einer Familie thematisiert, sondern der in den 1. Weltkrieg einmündende Zerfall einer ganzen Nation. Der Dekandenz im Lübecker Bürgerhaus entspricht die Krankheit im international belegten Sanatorium. Wie schon im Tod in Venedig unterliegen den Schicksalen der Menschen klassische Mythen, die wiederum mit Werken Goethes, Schopenhauers und Wagners verwoben werden. Pessimistische Zeitstimmungen wie der Untergang des Abendlandes werden ebenso verarbeitet wie der Fortschrittsglaube in Wissenschaft und Technik.
Thomas Mann ging es um einen dritten Weg zwischen Religionswahn und aufgeklärtem
Intellektualismus. Der Großschriftsteller hatte sich endgültig als Repräsentant
der Literatur etabliert und versärkte seine kulturpolitischen Aktivitäten, um im
Schmelztiegel der Weimarer Republik
die ,,deutsche Kultur``
zu bewahren. Seinen dritten Weg zwischen ,,Zivilisationsliteratur`` und
,,Kulturdichtung`` diskutierte er 1925 am Beispiel des Ost-West-Gegensatzes
zwischen russischer Volksdichtung und westlicher Ideenliteratur in dem Essay
Goethe und Tolstoi. Dem Sentimentalischen, dem Subjektiven, dem Kranken und
dem Romantischen stellt er das Naive, das Objektive, das Gesunde und das
Klassische gegenüber. Wie zwischen Goethe und Tolstoi einerseits sowie Schiller
und Dostojewski andererseits, wird ewig die Ruhe, Bescheidenheit, Wahrheit und
Kraft der Natur gegen die groteske, fieberhafte und diktatorische Kühnheit des
Geistes stehen. Der Mensch als die hohe Begegnung von Geist und Natur auf
ihrem sehnsuchtsvollen Weg zueinander hat den Widerstreit produktiv in der
kulturellen Veredelung der Natur aufzuheben. Nur aus einer Verbindung von Marx
und Hölderlin sei echter Nationalismus zu gewinnen als der Instinkt
vorbehaltvoller Selbstbewahrung des weltbürgerlich-mittleren Volkes der Deutschen
zwischen Ost und West. Dem mit Goethe zum Weltbürger geläuterten Schriftsteller
treibt dabei das nach wie vor drängende Problem der Universalisierbarkeit des
Humanismus um: Die Frage ist heute gestellt, ob die
mediterran-klassisch-humanistische Überlieferung eine Menschheitssache
und darum menschlich-ewig oder ob sie nur Geistesform und Zubehör einer
Epoche, nämlich der bürgerlich-liberalen, war und mit ihr sterben kann.
Darauf werde ich im nächten Kapitel zurückkommen.
Im Zauberberg hatte Thomas Mann in epischer Breite eine hohe Begegnung von Geist und Natur auf ihrem sehnsuchtsvollen Weg zueinander entwickelt. Albert Einstein hatte sich der Ruhe, Bescheidenheit, Wahrheit und Kraft der Natur überantwortet und sah ihr gegenüber die Kühnheit des Geistes nicht als grotesk, fieberhaft und diktatorisch an. Mit der Relativitätstheorie war ihm ebenfalls eine hohe Begegnung von Geist und Natur gelungen, die nicht nur menschlich-ewige, sondern sogar natürlich-ewige Gültigkeit beanspruchte. Der ,,Menschlichkeit`` des Zauberbergs entspricht dabei die ,,Natürlichkeit`` der Relativitätstheorie. Das ,,Buch des Menschen`` wird in der Umgangssprache geschrieben, während das ,,Buch des Natur`` in der Sprache der Mathematik gelesen werden kann. Schöne Kunstwerke gestalten Menschheitsgeschehen, wahre Wissenschaftswerke Naturgeschehen. So wie ein Roman nicht nur beim Schreiben verwirklicht wird, sondern auch beim Lesen jeweils neu entsteht und sich gleichsam im Menschen reproduziert, wird auch eine Theorie nach ihrer Formulierung erst durch das Lösen ihrer Formeln gleichsam zur Reproduktion von Natur. Ebenso wie das lebendige Erleben und kluge Interpretieren eines Romans ihn erst verwirklicht, so sind auch erst die raum-zeitlichen Abläufe der Lösungsfunktionen einer Theorie ihre Verwirklichung, sei es in der Simulation, im Experiment oder in der technischen Anwendung. Ein Roman wird zum Klassiker, wenn er sowohl Zeitgeschehen erfaßt als auch allgemein Menschliches enthüllt, im Besonderen immer auch das Allgemeine sieht. Ebenso verhält es sich mit einer Theorie, die Bestand haben soll. Sie hat sich nicht nur im speziellen Experiment oder in einer nützlichen Technik zu bewähren, sondern auch die Naturgeschichte zu erschließen. Der ,,Menschlichkeit`` des Romans entspricht die ,,Natürlichkeit`` der Theorie.
Im April 1940 spricht Thomas Mann im Rahmen seiner Professur an der Princeton University über Die Kunst des Romans und hält natürlich ein Loblied auf den Genius der Epik. Der epische Kunstgeist ist ihm ein gewaltiger und majestätischer Geist, expansiv, lebensreich, weit wie das Meer in seiner rollenden Monotonie, zugleich großartig und genau, gesanghaft und klug-besonnen; er will nicht den Ausschnitt, die Episode, er will das Ganze, die Welt mit unzähligen Episoden und Einzelheiten, bei denen er selbstvergessen verweilt, als käme es ihm auf jede von ihnen besonders an. Von den spät-griechischen und indischen Fabel-Monstren gebundener Epik entwickelte sich der Roman über die Heldensagen bis hin zu den Wahlverwandtschaften. Dabei ist es für Thomas Mann nunmehr das Prinzip der Verinnerlichung, das den Roman diesen menschlich bedeutenden Weg hat gehen lassen. Im Anschluß an Schopenhauer tritt damit die Verinnerlichung für die Beseelung ein, von der er noch 1906 in Bilse und Ich fabuliert hatte. Sogleich fällt ihm wieder ein national naheliegendes Beispiel ein: Was ist der deutsche Bildungs-, Erziehungs und Entwicklungsroman, was ist Goethes ,,Wilhelm Meister`` anderes, als die Verinnerlichung und Sublimierung des Abenteurer-Romans? Zur Charakterisierung des Romans hält er auch wieder Gegensatzpaare bereit: Der Roman repräsentiert als modernes Kunstwerk die Stufe der ,,Kritik`` nach derjenigen der ,,Poesie``. Sein Verhältnis zum Epos ist das Verhältnis des ,,schöpferischen Bewußtseins`` zum ,,unbewußten Schaffen``.