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Mann und Frau

Als Kind hatte Ja'ara immer geglaubt, die Seele sei ein inneres Organ, so wie das Herz, von dem auch viel gesprochen wurde, allerdings ganz anders. Für Kinder muss es in der Tat verwirrend sein, wenn Erwachsene Substantive wie selbstverständlich für Dinge gebrauchen, die es gar nicht gibt (wie die Seele), oder von wohlbekannten Dingen (wie das Herz) so reden als ob es ganz etwas anderes wäre. Später stört es Ja'ara, wenn Arie über ein dermaßen kompliziertes, schwieriges und schwebendes Material wie die Seele so spricht wie über Steine. Das Studium der vergleichenden Religionswissenschaft hatte sie wohl indoktriniert; denn ohne Geister oder Seelen wären die Religionen gegenstandslos. Was es umgangsprachlich gibt, sind Steine, Pflanzen, Tiere und Menschen. Steine sind leblose Dinge, wie Erde, Wasser und Luft, die aus Atomen und Molekülen aufgebaut sind. Daraus bestehen aber auch Lebewesen, wie Pflanzen, Tiere und Menschen. Was macht den Unterschied aus? Steine liegen rum, Pflanzen wachsen, Tiere laufen umher und Menschen sprechen. Herumliegen können sie alle. Aber wie wachsen Pflanzen? Und wie vermehren sie sich und bilden die ungeheure Vielfalt an Formen und Farben? Der evolutionäre Lebensalgorithmus wurde erst von Darwin entdeckt: Stoffwechsel, Selbstreproduktion und Mutation schaffen Selektion. Photosynthese, genotypischer Zellaufbau und geringfügig fehlerhafte Zellteilungen führen in der jeweiligen Umgebung zu abgewandelten Phänotypen. Bei den Tieren unterhält nicht die Photosynthese, sondern die Atmung den Stoffwechsel, ebenso beim Menschen. Und was steckt hinter der Beweglichkeit der Tiere? Sinnes-, Muskel- und Nervenzellen, die sich offensichtlich auch durch den evolutionären Algorithmus herausgebildet haben. Und je komplexer ein Lebewesen in all seinem Bewegen und Regen, seinem Verhalten und Handeln wird, desto komplizierter und schwieriger wird sein Material im Kopf, das Gehirn. Wozu eine Seele, was sollte damit gemeint sein, was nicht das Gehirn zuwege brachte?

Wir sind nur Körper, egal ob es sich um Herz oder Hirn handelt. Aber so wie schon das Herz in verschiedenen Schwingungszuständen vorkommen kann, ist es in viel stärkerem Maße dem Gehirn möglich, schwebende dynamische Zustände einzunehmen, die gleichwohl charakteristische Invarianten in all' unseren Regungen erkennen lassen, die man als Persönlichkeit, Charakter, Geist oder Seele bezeichnen könnte. Das sind aber keine Organe oder Dinge wie Gehirne oder Steine. Es sind auch keine Eigenschaften, die einem Ding fest zukommen, so wie das Grün des Chlorophylls den Blättern oder das Rot des Karotins den Wurzeln. Es handelt sich vielmehr um Betriebszustände wie beim Motor oder Computer; beim Gehirn nur eben sehr viel komplizierter, schwieriger und schwebender. Das Bewusstsein gleicht am ehesten einem Regenbogen, indem die Sinne in den Nervenzellen des Neocortex ein Selbsterleben generieren so wie sich das Sonnenlicht in den Regentropfen zu einem Farbspektrum auffächert. Dabei bestimmt das Gehirn nicht nur all' unsere Regungen, sondern wird auch umgekehrt durch die Regungen anderer beeinflusst, wenn nicht gar gestört oder dysfunktional. Die Komplexität aller Regungen innerhalb einer Familie ist im einzelnen natürlich nicht analysierbar. Richtschnur bleibt unser Fühlen, bildet es doch gleichsam ein vielfach gewichtetes Mittelmaß unserer vielfältigen Stimmungsschwankungen in Abhängigkeit der wechselnden Situationen. In Freiheit lebende Tiere können z.B. erkranken, wenn sie gefangen gehalten werden. Ihr Fell verliert an Glanz, sie werden träge oder haben Fressstörungen. Ganz ähnlich verhält es sich beim Menschen. Wird ein freiheitsliebendes Exemplar z.B. ins Ehegefängnis gesperrt, kann es ebenfalls körperliche Symptome aufgrund einer unerträglichen Lebenssituation zeigen, wie z.B Sehstörungen oder Teillähmungen. Wir sind halt nur Körper und alles wirkt sich irgendwie früher oder später aus. Bei Schlomo und Joni hatte es von der Wirklichkeitsverleugnung bis hin zur manifesten Verhaltensstörung geführt. Ja'aras Vater musste sogar für einige Jahre psychiatrisch behandelt werden und sein Leben lang Psychopharmaka nehmen. Da traf es sich gut, dass er Pharmazie studiert hatte und Apotheker geworden war. In ihrem nächsten Buch spielt Shalev einen weiteren Fall durch, in dem eine unerträglich erlebte Familiensituation zu Krankheitssymptomen führt. Diesmal sind es aber nicht Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen, sondern Sinnes- und Muskelbeeinträchtigungen mit denen ein Mann auf sein Eheleben reagiert. Auch Zeruyas zweiter Liebesroman ist ein Psychodrama, das sie durch die Sogwirkung ihrer Sprachkunst wiederum zu einem Leseabenteuer macht, dem man sich gerne hingibt.

Im ersten Augenblick des Tages, noch bevor ich weiß, ob es kalt oder warm ist, gut oder schlecht, sehe ich die Arava vor mir, die Wüste zwischen dem Toten Meer und Eilat, mit ihren blassen Staubsträuchern, krumm wie verlassene Zelte. Nicht dass ich in letzter Zeit dort gewesen wäre, aber er war es, erst gestern abend ist er von dort zurückgekommen, und jetzt macht er ein schmales, sandfarbenes Auge auf und sagt, sogar im Schlafsack in der Arava habe ich besser geschlafen als hier, mit dir. Sein Atem riecht wie ein alter Schuh, und ich drehe den Kopf zur anderen Seite, zu dem platten Gesicht des Weckers, der gerade anfängt zu rasseln, und er faucht, wie oft habe ich dir schon gesagt, du sollst den Wecker in Nogas Zimmer stellen, und ich richte mich mit einem Ruck auf, Sonnenflecken tanzen mir vor den Augen, wieso denn, Udi, sie ist doch noch ein Kind, wir müssen sie wecken, nicht sie uns. Wieso bist du immer so sicher, dass du weißt, wie etwas gemacht werden soll, sagt er gereizt, wann verstehst du endlich, dass keiner immer alles wissen kann, und da ist auch schon ihre Stimme zu hören, zögernd, sie springt über die Hefte, die auf dem Teppich liegen, über die Bücherstapel, Papa? Eine alltägliche Familiensituation, gespeist aus einfacher Kindesfreude und drohendem Erwachsenenton. Zugleich ist der Anfang aber auch die Geburt einer Zivilisation aus der Wüste und damit hat Shalev ganz beiläufig den Bezug zur jüdischen Kultur als eines Wüstenvolks hergestellt. Ihr Mann Udi ist Touristenführer und offenbar gern in entlegenen Gegenden unterwegs - möglichst weit weg von der Familie. Als nüchterner Mensch ist er ein rationaler Zweifler, der auch dem emotionalen Selbstverständnis seiner Frau kritisch begegnet. Wird die herzige kleine Tochter von zehn Jahren ihn milde stimmen können? Eher nicht, denn während sie ihn vermisst hat gibt er vor, dass es ihnen ohne ihn doch besser gehe. Anspannung und Frustration nehmen zu und dann will er auch noch bedient werden: Na'ama, ich sterbe vor Durst, sagt er, bring mir ein Glas Wasser, und ich keife, ich habe keine Zeit, mich jetzt auch noch um dich zu kümmern, sonst kommt Noga noch zu spät und ich auch, und er versucht sich aufzusetzen, und ich sehe ihn mit müden Bewegungen über das Bett tasten, die gebräunten Arme zitternd, das Gesicht rot vor Anstrengung und Gekränktsein, als er flüstert, Na'ama, ich kann nicht aufstehen. Solch ein Moment bricht das Leben in zwei Teile, so dass danach nichts mehr dem gleicht, was es vorher gegeben hat. Eine Lähmung hält Udi im Bett während Frau und Tochter ihren Tag beginnen. Später wird er versuchen, seine Frau auf seine herrschsüchtige Art ins Bett zu ziehen, ich weiß genau, was du brauchst, wird er verkünden, warum willst du nicht das von mir annehmen, was ich geben will, und diesmal werde ich nicht anfangen zu streiten, ... sondern das Nachthemd ausziehen und ins Bett springen, wie man in ein Schwimmbecken springt, kurzentschlossen, ohne zu prüfen, wie kalt das Wasser ist, warum eigentlich nicht, schließlich sind wir Mann und Frau, und das ist ein Stück unseres einzigen Lebens. Liebe erzeugt Spannung, Sex löst sie; aber für wie lange? Wenn er auch nur teilgelähmt ist, so kann er nicht einmal aufstehen und ist seiner Frau hilflos ausgeliefert. Ein Alptraum! Sein Weinen begleitet mich, während ich Kleidungstücke aus dem Schrank hole, schon seit Jahren habe ich ihn nicht mehr weinen gehört, seit Nogas Sturz damals, und jetzt hallt es mir in den Ohren, scharf und erschreckend. Schon einmal war das Leben der beiden gebrochen in ein Vorher und ein Nachher, wie bei einem Verzweigungspunkt in der Dynamik eines chaotischen Systems. Udi hatte nicht aufgepasst und die kleine Noga war vom Balkon gefallen, so tief, dass sie hätte tot sein können, sie aber durch einen glücklichen Zufall überlebte. Nie hat die Frau das dem Mann verziehen, dass er nicht auf ihr Kind aufgepasst hatte. Die fraglose Gemeinsamkeit war dahin, das Vertrauen unterminiert. Alles Ungewohnte erschreckte mich, ich war so in Noga versunken, dass ich nicht merkte, wie ich Udi in einem unbemerkten Augenblick auf dem Weg zwischen dem Unglück des Falls und dem Wunder der Genesung verlor, und was noch schlimmer war, sie verlor ihn auch. Und nun der zweite Schicksalsschlag seiner bewegungslosen Beine. Im Krankenhaus sind derartige Fälle psychosomatischer Störungen nicht ungewöhnlich. Aber ohne ihn überkommt Na'ama das Trauma der jüdischen Geschichte. Es trifft mich schlagartig die Erkenntnis, dass sich die Bewegungsfähigkeit von ihm entfernt hat, so wie sich die Gegenwart Gottes aus dem Tempel entfernt hat, bevor er zerstört wurde, und die Wucht der Erkenntnis macht mich klein, so dass mir alle Menschen um mich herum wie Riesen vorkommen. Und wenn sich aus dem Körper die Gegenwart der Seele entfernt hat, droht ebenfalls die Zerstörung? So denken nur wahnhaft Gläubige. Als ob ein Tempelbau oder Organismus auf die herbeiphantasierte Gegenwart von Hirngespinsten wie ,,Göttern`` oder ,,Seelen`` angewiesen wäre. Auf die gesunde Physiologie des Gehirns kommt es an, um die Invarianz einer Persönlichkeit auch unter widrigen Familienverhälnissen zu gewährleisten. Ein Mediziner wird durch Verhaltens- oder Gesprächspsychotherapie und ergänzend mit Psychopharmaka eine Konversionsneurose zu kurieren wissen. Schon der Ortswechsel ins Krankenhaus oder in die Arztpraxis, die Befreiung aus dem Ehegefängnis, könnten heilend wirken.

Na'ama arbeitet als Sozialarbeiterin in einem Heim für Mädchen, die von ihren Eltern befreit werden mussten oder nicht allein zurecht kamen. Über ihren Sozialdienst war sie immer wieder mit Udi in Streit geraten. Udi ist immer noch in seinem hartnäckigen Schlaf versunken, warum verdächtige ich ihn, dass er den Schlaf nur vortäuscht und es genießt, mich erniedrigt zu sehen, und insgeheim unseren alten Streit weiterführt, die Menschen sind nichts wert, hat er immer behauptet, du vergeudest dein Leben für Abschaum, für den letzten Bodensatz, nie wirst du jemanden bekehren, nie wirst du ein Kind retten. Du glaubst, wenn du ein Kind von seinen Eltern losreißt und es in andere Erde verpflanzt, ist es gerettet? Die Natur lässt sich nicht betrügen, eure Anmaßung ist dumm und ohne Vernunft, ihr müsst euch mit der Natur arrangieren, sie so nehmen wie sie ist. Deshalb brach er immer wieder zu seinen Reisen auf, setzte sich gelassen Sandstürmen, Überschwemmungen und Insektenstichen aus und kampierte stoisch unter primitivsten Umständen in der freien Natur. Der Naturalist und die Moralistin, der Naturfreund und die Gottesgläubige, wie hatten die nur zusammenfinden können? War es die übliche Liebesneurose? Dabei suchen Frauen bloß Liebe und Männer nur Sex - und werden regelmäßig enttäuscht. Und Kinder machen es noch komplizierter. Als Noga mit knapp zwei Jahren vom Balkon fiel und zu sterben drohte, nahm sich Na'ama ihrer so vollständig und kompromisslos an, dass Udi keine Chance auf Nähe mehr hatte, weder bei seiner Frau noch bei seinem Kind. Er brach kurz vor der Promotion sein Studium ab, schulte sich zum Reiseleiter um und war fortan meistens unterwegs. Aber nun ist er es, der zu genesen hat. Und da er an ihr leidet, kann sie ihm schwerlich helfen. Annat, ihre feministische Arbeitskollegin, sieht das natürlich ganz anders. Warum solle sich eine Frau um ihren Mann sorgen, das könne der doch wohl selber. Und so besucht Na'ama alte Freunde wieder, die sie lange nicht mehr gesehen hat. Einer ist Maler und will sie porträtieren. Er stellt die Leinwand auf die Staffelei und beginnt, sich rhythmisch zu bewegen, tritt zurück, tritt vor, betrachtet mich mit offenen Augen, und dann kommt er zu mir, berührt meine Haare, hast du ein Gummiband, fragt er, und ich wühle in meiner Tasche und finde eine Spange, ... jetzt sieht man deinen Hals, sagt er, warum versteckst du ihn, du hast den Hals eines Schwans, und ich richte mich unter seinem Blick auf, nie habe ich mich so schön gefühlt, ... Sein Pinsel löst Schichten von Enttäuschung, Qual und Angst von mir, erschafft mich neu, so wie ich immer sein wollte, ein ruhiger, edler Schwan, aufrecht und stolz. Sie hat ihren Körper, ihr Körpergefühl wiedererlangt. Hier kann sie ganz sie selbst sein. Udi schalt sie immer dafür. Du siehst alles von einem menschlichen Standpunkt aus, einem sehr persöhnlichen. Seinen gelehrten Vorträgen vermochte sie selten neutral interessiert zu folgen. Daran sollte sich nichts geändert haben, aber eine gemeinsame Reise sprengte vielleicht das Ehegefängnis. Das Kind bei den Großeltern und stets auf den Spuren ihrer Geschichte wandelnd, besuchen Mann und Frau die Stadt der Toten. Nach dem Bar-Kochba-Aufstand durfte in Jerusalem niemand mehr wohnen und begraben werden. Überhaupt haben sich die Beerdigungszeremonien nach dem Exil geändert, erst danach hat man angefangen, an die Auferstehung der Toten zu glauben. Ich folge ihm in die tiefen, kalten Höhlen, jedes Grab ist mit einem einzigen Licht erleuchtet, das die Dunkelheit drumherum nur noch betont. Und am Grab eines kleinen Mädchens kommt Na'ama natürlich Noga in den Sinn und sie beginnt, sich unwohl zu fühlen. Stolz zeigt er mir die Symbole auf den Grabsteinen, den assyrischen Stier und den römischen Adler und den Pfau, der die Ewigkeit symbolisiert, und den siebenarmigen Leuchter der Göttin Nikea, die römische Siegesgöttin, siehst du, was für eine Toleranz, sagt er staunend, sie haben sich nicht gescheut, auch fremde Symbole zu verwenden. Ihm ging es um die Sachen, ihr um die Menschen, auch in ihrer Ehe. Statt des Zaubers der Befreiung packt sie die Angst. Sie hatte sich voll und ganz für ihn entschieden und ihn zu ihrer Lebensaufgabe gemacht. Für sie ist klar, dass es unmöglich ist, zu wählen, und daher auch unmöglich, sich zu befreien, das ist es, was uns verbindet und uns zu Mann und Frau macht. Mann und Frau als Schicksalsgemeinschaft, der man sich nur unterwerfen kann? Da kann man natürlich nur konversionsneurotisch werden.

Ich sehe nichts, schreit er, seine ausgestreckten Hände fuchteln durch die stickige Luft wie die Fäuste eines Babys, Na'ama, ... deinetwegen bin ich krank! In seiner Verzweiflung fühlt er sich von ihr ausgepresst. Aber wovon redet er? Darüber, dass ich mit dir schlafe, darüber rede ich, darüber, dass du mir meinen Samen herauspresst, ich darf nicht mehr mit dir schlafen, mein Samen ist die Essenz meines Lebens, ich habe zugelassen, dass du mein Leben trinkst, mit allen Lippen deines Körpers. Erschrocken setze ich mich auf das Bett, halte mir beide Hände vor den Mund, genau so hat man die Juden beschuldigt, das Blut eines christlichen Kindes getrunken zu haben, und jetzt ist alles ins Gegenteil verkehrt, er ist durch die Krankheit konvertiert und beschuldigt mich unverfroren. Paradoxerweise bindet er sie mit seinem Gebrechen an sich, obwohl gerade ihre Bindung die Ursache seines Gebrechens ist. Während sie weiter ihrer Arbeit nachzugehen versucht, nimmt er die Sehstörungen zum Vorwand, nicht mehr lesen zu können. Dabei geht es ihm nur um seine geliebte Bibel, die ihm abhanden gekommen ist. Wie schon in Liebesleben spielt Shalev auch in Mann und Frau immer wieder auf die Bibel und die jüdische Geschichte an. In deren Kontext ist Udi erkrankt, weil er nicht nur seinen Glauben verloren hat, sondern auch noch konvertiert ist. Sie sieht nicht, dass er an ihr und ihrer fundamentalen Auffassung über das Zusammenleben von Mann und Frau leidet. Als Sozialarbeiterin sollte sie eigentlich selbstkritisch genug sein, um zu erkennen, dass die Krankheit auch einen Gewinn, die Krise eine Chance beinhalten könnte. Genau das versucht sie immer wieder, ihren gefallenen Mädchen nahezubringen, wenn sie mit ihrer Schwangerschaft hadern. Na'ama begegnet ihnen zunehmend mitleidsloser und gleichgültiger. Denn woran leiden die eigentlich? Sie sind erst 14 und schon schwanger, na und? In neun Monaten ist alles vorbei, das Kind geboren und zur Adoption freigegeben. Haben sie nicht selber schuld? Warum läuft eine niedliche Schulpraktikantin im Büro mit Minirock und ohne Höschen herum - und setzt sich dem Chef auch noch auf den Schoß? Na'ama dagegen liegt nichts an zufälligem Sex, sie will mit Udi schlafen, weil sie Mann und Frau sind. Aber der entzieht sich ihr nur noch und bleibt von Selbstmitleid gequält tagelang im Bett. Immerhin rafft Na'ama sich auf, ihm eine unorthodoxe Psychotherapeutin zu vermitteln; die eines schönen Tages an ihrer Haustür klingelt. Als ich die Tür öffne und sie sehe, jung und mager, mit einem Korb in der Hand und einem dunklen, hungrigen Gesicht, halte ich sie für eine Bettlerin, und will schon nach meinem Geldbeutel greifen, da sagt sie, ich bin Sohara, ... verwundert und enttäuscht betrachte ich sie, sie soll uns retten? Sie sieht doch aus, als würde sie selbst Hilfe brauchen, genau wie die Mädchen, die zu uns ins Heim kommen, jung und verloren, mit einem viel zu schweren Korb, ... Ich zähle zornig ihre Schritte, während sie ruhig im Wohnzimmer hin und her geht, sich leise zwischen den Sesseln bewegt, bis das Baby an ihrer Schulter eingeschlafen ist, dann legt sie es wieder in den Korb und fragt mit erstaunlicher Autorität, was ist das Problem? Am Anfang der Problemlösung steht die möglichst genaue Analyse. Dann folgt ein Lösungsvorschlag, der unparteiisch und optimal sein sollte. So sehen das auch die intellektuell redlichen Philosophen von Sokrates über Nietzsche bis Popper: Finde heraus, worin genau dein Problem besteht und suche unparteiisch nach der bestmöglichen Lösung. Und was wird Sohara im Schlafzimmer mit Udi zur Problemanalyse in Erfahrung bringen? Ihrem nüchternen Bericht sind einige Einsichten zu entnehmen: Jede Krankheit ist eine Möglichkeit. Das ist Na'ama nicht neu, aber die Konsequenzen machen ihr Angst. Sie beide klammern sich zu stark aneinander. Um einen Nutzen aus der Situation zu ziehen, müssen sie loslassen, freigeben, ... Ich spreche nicht davon, ein Fest zu feiern, sagt sie, aber man kann einfach weiterleben, man muss nicht zusammenbrechen, man kann das akzeptieren, was geschieht, ohne Zorn, ohne Schuldgefühle, man kann daran glauben, dass alles Schwere dazu bestimmt ist, uns stärker zu machen, und ich koche vor Zorn, das ist unmenschlich, was Sie da vorschlagen, wie kann man ohne Zorn reagieren, wenn einem das Leben zusammenbricht, und sie sagt, die Tibetaner glauben, dass derjenige, der dich verletzt, dein größter Lehrmeister ist, dabei betrachtet sie ihr Baby, als gälten ihre Worte mehr dem Kind als mir, und dann fügt sie mit leidenschaftlicher Stimme hinzu, manchmal hängen wir an unseren schlechten Gewohnheiten, und wenn sich eine Veränderung anbahnt, zittern wir vor Angst, ohne zu merken, dass dies unsere einzige Chance ist. Dem Erkenntnisgewinn ist es dienlich, seine Feinde zu lieben. Und ist nicht alles Leben schon Problemlösen? Es geht darum, die Signale des Lebens zu verstehen. Sohara tastet Na'ama ab und fühlt ihren Puls; denn der Puls der Frau deutet auch auf den Zustand des Mannes hin. Und was hatte die Frau als Kind am liebsten getan? Als ich ein Kind war, habe ich am liebsten auf der Wiese gelegen und zu den Wolken hinaufgeschaut. Sie wird ganz weich bei meiner Antwort, sie betrachtet mich erstaunt, als wäre ich eine Reinkarnation von Buddha, schön, sagt sie, und das hat dich beruhigt? Viele Erinnerungen stürmen auf Na'ama ein und wühlen sie auf. Sohara steht auf und legt mir den Arm um die Schulter, beruhige dich, sagt sie, versuche loszulassen, versuche, dir einen Weg zur inneren Gelassenheit zu bahnen, hab keine Angst vor Veränderung, wir werden von ihnen geformt wie der Felsen von der Welle, versuche es, denn du hast keine Wahl. Gelassenheit mindert Parteilichkeit und schafft Situationsdistanz. Leichter gesagt als getan. Na'ama vermag zwar Udi loszulassen, aber der nähert sich umso mehr Sohara an; denn die klammert nicht und ruht einem Buddha gleich in sich selbst.

Seiner Frau gegenüber reagiert der Mann nur noch gleichgültig und wie unbeteiligt. Aber was fehlt ihm? Die Anzahl der äußeren Teile ist doch gering, das meiste ist im Inneren verborgen, unter der schützenden Hautschicht, seine Glieder sind da, wo sie hingehören, und trotzdem fehlt etwas, etwas, was alles andere zusammengehalten hat, es ist die Sexualität, die ihn zu einem energischen Ganzen gemacht hat, und plötzlich ist sie aufgeweicht, die Sexualität hat die Herrschaft über ihn verloren, und ohne sie ist er zu einem unbedeutenden, ziellosen Geschöpf geworden, das nicht weiß, was es will. Und dann sind da immer wieder die mahnenden Worte Soharas. Man verändert sich nur durch Leiden, das Leiden spornt unsere geistigen Fähigkeiten an, es provoziert uns, zwingt uns dazu, das Wunder freizulassen, das sich in uns verbirgt. Da treffen Welten aufeinander, das Glücksversprechen der westlichen wird mit dem Leidensgewinn der östlichen Zivilisation konfrontiert. Wie entspannend dazwischen das schlichte Hausfrauendasein sein kann: Es gibt kein ermutigenderes Geräusch als das Rattern der Waschmaschine, ein intensives Gebet der Reinheit und Sauberkeit, durchgewalgte gute Absichten. Stumpfen Alltagsrituale bloß ab oder fördern sie auch - Gelassenheit? Ganz langsam senkt sich eine neue Gelassenheit über mich, es scheint, die Dinge haben sich ein wenig beruhigt, ich kann aufatmen. Mit der Gelassenheit keimt in Na'ama die Einsicht: Ich muss mein Leben ändern. Aber während Udi bei Sohara weilt, erinnert sie alles in der Wohnung von Mann und Frau immer wieder an ihn: ich renne zur Toilette, beuge mich über die Kloschüssel, und eine heiße Breiwelle bricht aus mir hervor, als spuckte ein Drache demjenigen, der ihn töten will, das Feuer seines Hasses entgegen. Und dann ist da noch das Kind, dem es gefällt, der Mama Sorgen zu machen: Ich bücke mich und versuche, sie hochzuheben, nur weg von da, sie legt mir die Arme um den Hals, schwach wie die Läufe eines gejagten Rehs, ihr Körper ist heiß und schwer ... Aber die Tochter sollte doch noch ihren Vater sehen dürfen, auch nach der Trennung. Liegt nicht in jedem Verlust eine Erleichterung?, gibt Sohara gelassen zu bedenken. Wir müssen ohne Bindung und ohne Zorn leben, sagt sie feierlich, wir müssen das vollkommene Gleichgewicht erreichen, wir dürfen nicht alles von glücklichen Ereignissen abhängig machen oder vor unglücklichen zurückweichen, wir dürfen stürmischen Gefühlen keine Herrschaft über uns verleihen. Aber was ist Gelassenheit wert, wenn sie jedes andere Gefühl verdrängt?, wendet sich Na'ama an Sohara, die Therapeutin und - Geliebte ihres Mannes. Das ist einfach ein weiterer Schritt auf den Tod zu, deshalb freut ihr euch über das Sterben, weil ihr keinen großen Unterschied zwischen Leben und Tod kennt, aber zu mir passt das nicht, verstehst du, ich bin bereit, Leid zu empfinden, denn sonst könnte ich keine Freude fühlen, ich will nicht darauf verzichten, nie werde ich das wollen. Die Jüdin tröstet sich mit alten Versen; denn Verstehen bringt Erleichterung. Da ist es nicht mehr weit zum Verständnis. Er ist seinetwegen weggegangen und ebenso darf eine Mutter ihr eigenes Leben führen. Ist Liebe ein Luxus, den man sich nur leisten kann, wenn alles andere in Ordnung ist? Wer sich nicht selbst gefunden hat, sollte sich nicht für Andere verausgaben. Du kannst dich endlich um dich selbst kümmern, viele Jahre lang bist du nur um ihn herumgehüpft, hast Rücksicht auf ihn genommen, hast dir seine Probleme aufgeladen, es ist Zeit, dass das endlich vorbei ist. Werden die Männer vielleicht viel zu sehr von ihren Frauen verwöhnt?, fragt sich Na'ama weiter. Was für ein Fluch die Liebe sein kann. Sollte unser Leben nicht frei sein? Es ist die einzige Art, wie man zusammenleben kann, sie erkundigt sich nie, wo ich war, und ich frage sie nicht aus, wir haben beide gelernt, uns sowohl von der Wahrheit als auch von der Lüge zu befreien. Den Eltern scheint das gelungen zu sein; denn eine Freiheit sollte man nicht besitzen wollen, das wäre unsinnig, da widersprüchlich. Was den Existentialisten möglich ist, gelingt nicht minder den Buddhisten, wie Udi über Sohara zu berichten weiß: Sie lässt mich einfach leben, sie akzeptiert mich so, wie ich bin, sie erwartet von mir nichts, sie versucht nicht, mich zu erziehen. Und was denkt Na'ama? Wie ist es möglich, dass das ganze Leben ein Machtkampf zwischen den Menschen ist, und wenn einer sich aus dem Kampf zurückzieht. Hat sie ihren Mann immer zu beherrschen versucht? Wie angenehm es doch ist, die bedrückende Sehnsucht nach Gerechtigkeit aufzugeben, wie angenehm es ist, die Hände zu heben, in völligem Einklang mit dem Zerfall der Realität. Sie ergibt sich ihm und dann sinkt er mit einem erleichterten Seufzer auf meine Brüste. Nicht schlecht, keucht er, du lernst schnell, Na'ama, du hast noch Chancen. Einfach ein Körper sein können, der es liebt, zu atmen, alles andere ist Luxus. Wer sich selbst genug ist, braucht keine Geschichten der Bibel und am Ende gibt es auch für Na'ama nichts mehr, was man mit Sicherheit wissen kann.


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ingo 2009-10-04