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Liebesleben

Er war nicht mein Vater und nicht meine Mutter, weshalb öffnete er mir dann ihre Haustür, erfüllte mit seinem Körper den schmalen Eingang, die Hand auf der Türklinke, ich begann zurückzuweichen, schaute nach, ob ich mich vielleicht im Stockwerk geirrt hatte, aber das Namensschild beharrte hartnäckig darauf, dass dies ihre Wohnung war, wenigstens war es ihre Wohnung gewesen, und mit leiser Stimme fragte ich, was ist mit meinen Eltern passiert, und er öffnete weit seinen großen Mund, nichts ist ihnen passiert, Ja'ara, mein Name rutschte aus seinem Mund wie ein Fisch aus dem Netz, und ich stürzte in die Wohnung, mein Arm streifte seinen kühlen glatten Arm, ich ging an dem leeren Wohnzimmer vorbei, öffnete die verschlossene Tür ihres Schlafzimmers. So beginnt Ja'ara ihren inneren Monolog über ihr Liebesleben. Aus derartig langen, vielfach unterteilten Sätzen, hat Zeruya ihren ganzen Roman gestaltet und ihn in 13 unbenannte Kapitel gegliedert. Ja'ara wollte offensichtlich ihre Eltern besuchen, aber die öffneten ihr nicht, sondern ein Mann mit einem großen Mund, aus dem ihr Name wie ein Fisch aus dem Netz rutschte. War sie in ihm schon lange gefangen gewesen und freute er sich, sie endlich befreien zu können? Offensichtlich kannte er sie, sie aber nicht ihn. Im Schlafzimmer ihrer Eltern sah es so aus, als ob ihre Mutter erkrankt war und ihr Vater sich um seine Frau kümmerte. Also hielt die Tochter den Mann in der Tür für einen Arzt. Wieso Arzt, mein Vater lachte, das ist mein Freund Arie Even, erinnerst du dich nicht an Arie? Und meine Mutter sagte, warum sollte sie sich an ihn erinnern, sie war noch nicht geboren, als er das Land verlassen hat. War vielleicht Arie der Grund für die Indisposition der Mutter? Das ist eine lange Geschichte, sagte sie, dein Vater schätzt ihn, sie haben zusammen studiert, vor dreißig Jahren, er war sein bester Freund, aber ich habe immer gedacht, dass Arie nur mit ihm spielt, ihn sogar ausnützt, ich glaube nicht, dass er überhaupt in der Lage ist, etwas zu fühlen. Schau doch, jahrelang haben wir nichts von ihm gehört, und plötzlich taucht er hier auf, weil Papa etwas für ihn arrangieren soll. Wer Netze auswirft, wie soll der etwas fühlen können? Aber was steckte hinter dem harten Urteil der Mutter? Hatte Arie sie womöglich einstmals schroff zurückgewiesen? Die klarsichtige wie feinfühlige Ja'ara spürte Faszination und Unbehagen Arie gegenüber. Lange Zeit wird sie nicht mehr von ihm loskommen. Erst als sich ihr das Familiengeheimnis enthüllt, das ihre Eltern mit dem Fremden teilen, wird sie geleutert zu sich selber finden. Sie lässt sich über Nacht in der Uni-Bibliothek einschließen und widmet sich der Lektüre zur Vorbereitung ihrer Abschlussarbeit in vergleichender Religionswissenschaft. Nur ich und mein Buch. Zum ersten Mal seit alles angefangen hatte, atmete ich erleichtert auf, ich kroch zu dem blassen Licht und setzte mich darunter, nur das Rascheln der Blätter war in der Stille der großen Säle zu hören, und ich suchte weiter, bis ich die Geschichte vor mir sah und sofort wusste, dass ich gefunden hatte, was ich brauchte, die Geschichte von der Tochter des Priesters, die sich kurz vor der Tempelzerstörung taufen ließ, und ihr Vater saß Schiwa für sie, und am dritten Tag kam sie, stellte sich vor ihn hin und sagte, mein Vater, ich tat es nur, um dein Leben zu retten, aber er weigerte sich, sich von seinem Trauerplatz zu erheben, und aus seinen Augen fielen Tränen, bis sie starb, und da stand er auf, wechselte seine Kleider und bat um ein warmes Essen, und ich war sicher, dass ich diese Geschichte schon einmal gehört hatte, vor vielen Jahren hatte meine Mutter sie mir einmal abends vorgelesen, bei einem Stromausfall, als wir zu dritt um eine Kerze saßen, und mein Vater sagte, was erzählst du ihr da, siehst du nicht, dass sie das traurig macht?

Hatte Ja'ara sich ersteinmal selbst zu befreien bevor sie sich ernsthaft der Religionsgeschichte widmen konnte? Warum war ihr die Familiengeschichte verheimlicht worden? Nachdem sich Ja'ara wieder einigermaßen im Griff hatte, setzte sie sich dem unerwarteten Gast gegenüber, während sich ihr Vater an ein Foto aus alten Zeiten erinnerte, ins Nebenzimmer ging und zu suchen begann - aber vergeblich: ich hustete verlegen, suchte nach etwas, was ich sagen könnte, und am Schluss sagte ich, er findet es bestimmt nicht, er findet nie etwas. Er wird es nicht finden, weil das Foto bei mir ist, bestätigte der Gast flüsternd, und genau in dem Moment war ein Krachen zu hören, dann ein Fluch, und mein Vater kam hinkend ins Zimmer zurück, mit der Schublade, die ihm auf den Fuß gefallen war, wo kann es nur sein, dieses Foto, und der Gast blickte ihn spöttisch an, lass gut sein, Schlomo, was spielt das für eine Rolle, und ich wurde ganz nervös, warum sagte er ihm nicht, dass das Foto bei ihm war, und woher wusste er, dass ich es nicht sagen würde, wie zwei Betrüger beobachteten wir die geschäftige Sucherei, bis ich es nicht mehr aushielt und aufstand, Joni wartet zu Hause auf mich. Spielte Arie gerne mit Schlomo? War er der Stärkere in der Männerfreundschaft? Und spielte er vielleicht bloß mit allen Menschen, also auch mit Ja'ara? Das wäre eine Herausforderung für eine junge Frau. Sie nahm das Spielangebot an. Wer würde sich als der stärkere Partner herausstellen? Ging es ihr um eine Machtprobe? Ihrem Mann Joni gegenüber war sie die Stärkere. Während er an das Wir in der Ehe appellierte, sagte sie, dass es kein wir gibt, es gibt ein ich und ein du, und jeder hat das Recht auf seine eigenen Gedanken. Immer, wenn sie von ihm wegging, hatte sie das Gefühl, sie würde ihn nicht wiedersehen. Und überhaupt kam Ja'ara besser mit Katzen als mit Männern aus. Im Überschwang flüchtiger Verliebtheit hatte sie wohl nur der Konvention folgend geheiratet. Aber unversehens bot sich ihr die Gelegenheit auf ein doppeltes Abenteuer: Neben der Machtprobe mit Arie konnte sie die Familiengeschichte enträtseln und damit ihre Eltern verstehen lernen; ihren Vater in seiner Unsicherheit und seinem Minderwertigkeitskomplex und ihre Mutter in ihrer Aversion gegen den vermeintlich guten Freund ihres Mannes.

Das nächste Zusammentreffen zwischen Ja'ara und Arie ließ nicht lange auf sich warten. Die junge Frau hatte in einem Schaufenster ein schönes Kleid gesehen, das ihr gefiel. Kurz entschlossen betrat sie die Boutique und bat um eine Anprobe. Mit dem Objekt ihres Wunsches in Händen hielt sie Ausschau nach einer Umkleidekabine. Wie es der Zufall so wollte und das Schicksal es eingefädelt hatte, trat aus einer der Kabinen geradewegs Arie heraus und steuerte zielstrebig mit neuer Hose und neuem Hemd eine junge, attraktive Frau an, die selbstgefällig an einer Zigarette zog, die auf einer filigranen Spitze steckte. Ohne gesehen worden zu sein, folgte Ja'ara spontan einer Eingebung und betrat den freigewordenen Ort. Wie selbstverständlich probierte sie nicht ihr Kleid an, sondern zog sich die zurückgelassene Hose Aries über und verharrte erregt in banger Erwartung. Die Tochter von Korman, sagte er. Mit einer Hand hielt ich mein Kleid, mit der anderen versuchte ich, den Reißverschluss hochzuziehen, in dem sich ein paar Schamhaare verfangen hatten, meine nackten Füße traten auf seine Hose, und ich sah vor mir seine Knöpfe, die einer nach dem anderen aufgingen, bis er das Hemd ausgezogen hatte, wobei ein scharfer Geruch von seinen glatten Achselhöhlen ausging, der komprimierte Geruch nach verbrannten Tannennadeln, ... mit einer Hand drehte er meinen Kopf und drückte ihn nach unten, genau so, wie man eine Puppe im Schaufenster zurechtdreht, mit der anderen nahm er meine Hand und legte sie auf die heiße Wölbung. Ich fühlte wie sich seine schwarze Unterhose mit Leben füllte, als wäre da der zusammengerollte Rüssel eines Elefanten, der sich jubelnd aufrichten wollte, und meine Hand krümmte sich ihm entgegen, ich ließ das Kleid los und legte auch die zweite Hand auf die Stelle, ... Kurz darauf hatte seine Begleiterin nach ihm gerufen und Ja'ara war wieder allein. Verstohlen klaubte sie sich aus der Kabine und bekam noch mit, wie Arie der Kassiererin seine Telefonnummer mitteilte; zweimal hinreichend laut, so dass sie sich ihr bleibend einprägte. Was war nur mit ihr geschehen? In einem Café suchte sie Ruhe. Aber auf einmal packte mich ein Schwächeanfall, ein plötzliches Erschlaffen aller Glieder, ich ließ den Kopf auf den kleinen, runden, von der Herbstsonne erwärmten Tisch fallen wie auf ein Kissen und versuchte, mich an meinen Lebensplan zu erinnern, an die Abschlussarbeit, die ich bis zum Jahresende einreichen musste, an das Baby, das wir nach der Dissertation machen wollten, die Wohnung, die wir nach dem Baby kaufen würden, ... War ihr Lebensplan vielleicht zu einschränkend und hatte sie sich etwas vorgemacht, sich womöglich selbst belogen, als sie ihn schmiedete? Die Ablenkung währte nicht lange, schon kam ihr wieder Arie in den Sinn, seine Kohlenaugen hatten mich wie Kugeln getroffen, ich zitterte, er hatte den Gang eines Jägers, den Blick eines Jägers, ich sah ihn vor mir, auf dem Gehsteig, mein Körper hing wie tot über seiner Schulter.

Wie lange konnte Ja'ara den Anruf hinauszögern? Aber was sollte sie sagen? Sie begann mit einer Gefälligkeit für ihren Vater. Das war unverfänglich. Ich wusste nicht, was ich noch sagen könnte, ich wollte nur nicht, dass er auflegte, deshalb sagte ich schnell, leg nicht auf, und er fragte, warum nicht, und ich sagte, ich weiß es nicht, und er fragte, was willst du, und ich sagte, dich sehen, und er fragte weiter, aber warum, und wieder sagte ich, ich weiß nicht, und er lachte und sagte, es gibt viel zu viel, was du nicht weißt, und ich stimmte in sein Lachen ein, aber er unterbrach mich mit einer förmlichen Stimme, ... Sie konnte es kaum mehr abwarten, aber er hielt sie hin. Als sie endlich erwartungvoll an seiner Haustür klingelte, ließ er sich merklich lange Zeit mit dem Öffnen. Er trug seine neue braune Hose und das neue braune Hemd, doch ausgerechnet die neue Kleidung betonte sein Alter, er wirkte plötzlich alt, älter als mein Vater, mit diesen scharfen Falten auf den Wangen und der Stirn, Falten, die aussahen wie Narben, und den Haaren, die eigentlich eher weiß waren als silbergrau und eher dünn als dicht, und mit schwarzen Ringen um den Augen. Ein gleichgültiger alter Sack und ein verliebtes süßes Mädel. Aber wie witzelte schon Woody Allen? Liebe erzeugt Spannung, Sex löst sie. Vielleicht hätte sie ihn überhaupt nicht besuchen sollen? Er nahm meine Hand wie im Laden, legte sie mit einer natürlichen, sogar müden Bewegung auf seinen Hosenschlitz und sagte, dafür bist du doch gekommen, und drückte sie fest dagegen, ... er drehte mich um, mit dem Rücken zu sich und dem Gesicht zur Tür, ich hob die Arme, als wäre ich in Gefangenschaft geraten, meine Hände griffen nach den Kleiderhaken an der Tür, meine halb heruntergerutschte Hose fesselte mich an den Knien, und sein steifes Glied nagelte mich mit einem Schlag an die Tür, ohne dass er mich auch nur mit dem kleinen Finger berührt hätte, und die ganze Zeit, gleichgültig, mit roher Stimme und ohne Fragezeichen, verkündete er, gut für dich, gut für dich, ... Wie der Schleim einer Schnecke klebte meine Spucke an der Tür, durchsichtig und klebrig, ... Aus dem Mal an der Wand war bei Zeruya die Schleimspur der Leidenschaft geworden, während Juli es in Engelszungen verwandelt hatte und zu einer naturverbundenen Untergrundbewegung werden ließ. Nachdem er das stolze Glied herausgezogen, den Reißverschluss und die Gürtelschnalle wieder geschlossen hatte, bot der Adler seinem Engel etwas zu trinken an. Sie wünschte sich Kaffee, aber er verwies nur auf Orangensaft; denn seine Frau käme gleich nach Hause. Die Zigarettenspitze? Nein, das war die Nichte seiner Frau aus Paris, warum? Ja, warum? War sie etwa eifersüchtig? Zurück im ehelichen Schlafzimmer begann das schlechte Gewissen Ja'ara zu beißen, ihr das Eingeständnis der Erniedrigung klar zu werden und sie sich ihre Liebe einzugestehen. Aber dennoch. Nur noch ein einziges Mal, versprach ich mir, dieses eine Mal, das das vorherige auslöschen und die Demütigung in einen Sieg verwandeln würde, wie lange konnte man mit dieser Erinnerung an die erhobenen Hände an der Tür leben? Nicht nur mit ihrem Lebensplan hatte sich Ja'ara selbst belogen, sondern auch mit dem Selbstversprechen nur noch ein einziges Mal. Die Verliebtheit gleicht physiologisch einer Zwangsneurose und ein Liebesjunkie ist seiner Droge genauso verfallen wie jeder andere Süchtige.

Ja'ara war eine intelligente und gebildete junge Frau, die nicht einfach so vor sich hin lebte. Sie hatte einen Lebensplan, der Studium, Heirat, Beruf, Kinder und ein Haus einschloss. Trautes Heim Glück allein? Nein; denn der zersetzenden Wirkung der Reflexion vermag kaum eine Lebenslüge lange standzuhalten. Warum hatte sie eigentlich vergleichende Religionswissenschaft zu studieren begonnen? Wollte sie die Geschichte ihrer Heimat mit kulturellen Alternativen konfrontieren? Die immer noch grassierenden Religionskonflikte verstehen lernen? Da war Ada schon als Kindweiter gewesen; hatte sie doch die Religionen bloß als Abfallprodukte der höheren Hirnfunktionen verworfen. Und ihre eigene Geschichte? Der Zugang zu ihr schien sich nur über Arie zu erschließen. Aber warum hatte er in ihr eine solche Leidenschaft für ihn hervorrufen können? War ihr Wissensdrang so stark, dass er all ihre erotischen Energien zu mobilisieren vermochte? Was liebst du an mir?, hatte er sie mit dem Lächeln eines Lehrers seiner Schülerin gegenüber gefragt, als sie ihm sagte, dass sie ihn liebe. Ihre Liebe für ihn machte sie keineswegs blind, bestimmte nur ihr Handeln, das sie gleichwohl zu bedenken verstand, wenn auch nicht zu ergründen vermochte: Was ich an ihm liebte? Ich kannte ihn doch gar nicht, was konnte ich schon an ihm lieben, und trotzdem, wenn ich es gesagt hatte, musste ich dazu stehen, und so zögerte sich meine Anwort hinaus, und je länger sie sich hinauszögerte, umso verlegener wurde ich, dabei merkte ich, dass er angespannt wartete, und schließlich stotterte ich, ich weiß nicht, ich kann nicht klar beantworten, was ich an dir liebe, und trotzdem weiß ich, dass ich dich liebe. Über dieses Eingeständnis machte er sich natürlich nur lustig; denn wie könne man etwas behaupten, ohne zu wissen warum? Das sei ziemlich gefährlich. Es gibt kein Gleichgewicht zwischen uns, du bist so hungrig, und ich bin so satt. Sofort nahm ich die Finger von der angenagten Schokoladenkugel, versuchte, seine Worte zu ignorieren, und wusste doch, dass er recht hatte, ich fühlte, wie der Hunger mich innerlich auffraß, das war das Wort, Hunger, nicht Begierde, denn ein Verhungernder isst alles. Wenn sie schon nicht ihren Hunger zu zügeln wusste, wie konnte sie ihn beherrschen? Und was war mit Joni? Aber man konnte zwei Männer lieben, es war sogar leichter, zwei zu lieben, denn das schaffte ein seelisches Gleichgewicht, die beiden Lieben ergänzten einander, und das war keineswegs beängstigend, wieso hatte ich nie zuvor daran gedacht? Einige Wochen später hatte Ja'ara den Eindruck, dass sich das Blatt wendete und sie den Anfang eines Sieges davon trug. Arie rief an und hatte beiläufig erwähnt, dass er allein nach Jaffo fahre. Natürlich zierte sie sich scheinbar und fragte, warum er nicht mit einer seiner anderen Freundinnen fahre, aber die hätten keine Zeit, auch nicht die Zigarettenspitze?, sie sei die letzte auf seiner Liste. Aber vielleicht habe ich auch zu tun, sagte ich, und er lachte, vielleicht. Das hatte ich wirklich. Ich hatte morgens Vorlesung und anschließend ein Treffen mit dem Dekan, um mit ihm das Thema meiner Arbeit zu besprechen. Er glaubte hartnäckig an mich, dieser senile Alte, und wollte mich fördern, immer hatte er Zeit für mich und meine glanzlosen Pläne. Aber wie lange würde die Sympathie, die Schwärmerei (die Liebe gar?) des Alten für die Junge noch andauern? Denn Gefühle entstehen, schwanken und vergehen.

Zieren und Necken, Hinhalten und Nachgeben, gehöhrt zum Spiel der Verliebten. Aber worüber konnte ich mit ihm reden? Mir sagte man nach, ich sei charmant, fröhlich, anziehend, und alles, was ich wollte, war schlafen, schade, dass ich nicht bloß eine Tramperin war, die er mitgenommen hatte, dann wäre alles zwischen uns viel einfacher, viel offener und natürlicher gewesen. Vielleicht tun wir, als wäre ich Tramperin, schlug ich zögernd vor, und er war begeistert, hielt sogar das Auto an, um mich hinauszulassen und später wieder abzuholen. Das erotische Spiel zwischen Anhalterin und Fahrer begann. Sie stellte sich als Avischag vor und er war als Reiseveranstalter unterwegs. Auf ihre neue Identität eingehend, sprach er davon, dass die Pariserinnen unter ihren Strumpfhosen keine Höschen trügen. Zieh deinen Slip aus, Avischag, und du wirst sehen, dass du ihn nicht brauchst (Zur Zeit Jane Austens trugen die Menschen auch keine Unterhosen). ... Also begann ich, mich im Auto auszuziehen, ... schlüpfte wieder in die Strumpfhose und wedelte mit dem Slip in seine Richtung, und er lächelte zufrieden, nahm ihn und steckte ihn ein wie ein Taschentuch, und mein Slip guckte aus seiner Hosentasche, als wir das Auto verließen und zu Fuß weitergingen. Für sie trug die Ungewissheit über sein Ziel zum Abenteuer bei, auf das sie sich eingelassen hatte. Er besuchte einen alten Freund, Schaul, der Anwalt oder Richter war, sie freundlich überrascht begrüßte und bewirtete. Zum reichlichen Inhalt seines großen Kühlschranks genossen die Drei reichlich Alkohol, so dass sich die Stimmung zunehmend schlüpfriger entwickelte. Ein aufziehendes Gewitter sorgte dann für die passende Außenkulisse der Entladungen. So bist du also wirklich, dachte ich, immer hatte ich ihn erregt sehen wollen, immer hatte er Kälte und Fremdheit ausgestrahlt, wie eine Maschine, und jetzt war da etwas anderes, seine Hände betasteten mich weniger gelangweilt, waren gespannter und geschmeidiger. Und wie von selbst fanden sich alle Drei auf einem Bett wieder. Arie zog sich mit einem Mal heraus, und ich spürte Schauls weiche Hände, die mich streichelten, und die ganze Zeit suchte ich Aries Körper und hielt ihn fest, ich wollte nicht mit Schaul allein bleiben und war nur bereit, ihn als eine Art Gesandten Aries zu empfangen, und ich fühlte, wie er in mich einzudringen versuchte, sein weißes, weiches Glied stocherte herum wie der Stock eines Blinden, und Arie hielt mich fest, als fürchte er, ich könnte fliehen, und sagte, in Ordnung, in Ordnung, du hast das gern, und seine Stimme war so klar und überzeugend, dass ich es schließlich selbst zu mir sagte, und Schaul sagte, du bist schön, du bist schön, ... und ich dachte vielleicht hat es sich trotzdem gelohnt, geboren zu werden, und Arie gab mir seinen Schwanz zurück, und ich lehnte mich an Schaul, und beide bewegten wir uns im Takt seiner starken Stöße, bis ich beide kommen hörte, fast gleichzeitig, als wären sie das vollkommene Paar, und ich fühlte am Rücken den Samen Schauls und vorn den Samen Aries und fühlte mich wie ein saftiger Knochen, den Hunde und Katzen von allen Seiten ablecken, und mir fiel der Hund ein, der das Kätzchen zerfleischt hatte, und die geheimnisvolle Krankheit meines Vaters, die Verabredung mit dem Dekan, und ich fing an zu weinen, und die ganz Zeit hallte in meinem Kopf der Satz, vorbei ist vorbei, vorbei ist vorbei. Satte alte Säcke leiden an Langeweile und Desinteresse, deshalb brauchen sie immer stärkere Reize. Und was für Sex und Gespräche gilt, trifft auch auf Gefühle zu: Arie weiß schon nicht mehr, was das ist. Im Lauf der Jahre wird der Mensch immer tierischer oder kindlicher, was die entscheidende Rolle spielt, sind die Bedürfnisse. Ich empfand eine plötzliche Enttäuschung, eine totale, endgültige Enttäuschung, als hätte ich Gift geschluckt und könnte es nicht mehr aus meinem Körper bekommen, ... Ich machte mir mein Leben kaputt, und er kam um vor Langeweile. Sollte Ja'ara die Fahrt mit Arie womöglich bereut haben? Nein; denn sterben kann man immer, sagte ich mir, los, gib dem Leben noch eine Chance. Du siehst ihn jetzt, wie er wirklich ist, gut, dass du mit ihm gefahren bist, denn nur so hast du ein klares Bild bekommen, er ist durstig mach Beifall und nach Bestätigung, so wie du durstig nach Liebe bist, aber so ist das nun mal im Leben, wer durstig ist, bleibt durstig, er bekommt nichts. War es nicht auch bei Onkel Alex so gewesen? Tante Tirza war er tierisch auf die Nerven gegangen, aber er fand ziemlich schnell eine jüngere Frau, die ihn bewunderte, und er wurde tatsächlich wunderbar. Alten Frauen geht es nach Trennungen häufig sehr viel schlechter. Es ist besser, mitten im Leben in Liebe zu sterben, als bis hundert allein zu leben, flüsterte mir Tirza zu, und ich sah den Neid in ihren Augen.

Ja'ara hatte das Leben noch vor sich, Tirza hatte es bereits hinter sich ... und ebenso Arie. Wie leben zwei Menschen zusammen, die keine gemeinsame Zukunft haben können, weil sie zwar noch jung, er aber schon zu alt dafür ist? Ist es für sie ein Experiment, um Erfahrungen zu sammeln und Lebensweisheit zu erlangen, während es für ihn ein Wiederaufleben seiner Jugend bedeuten könnte, wie ein Erinnerungstraum und letztes Hochgefühl vor dem Ableben? Die offene Zukunftsperspektive verspricht allemal den Reiz des Neuen und Unerwarteten, gerade richtig für die Jugend. Aber was, wenn die einst verschlossene Jugenderfahrung für den Alten eine nie richtig verheilte Wunde wieder weit aufrisse? Versprach die Aneignung ihrer verdrängten Kindheit für Ja'ara eine Befreiung zum selbstgewählten Leben, während Arie seine Jugendzeit am liebsten nie mehr aufleben lassen wollte, um sich nicht vollends selbst zu zerstören? Tante Tirza war es auf der letzen Familienfeier wieder einmal sehr schlecht gegangen. Fühlte sie ihre Einsamkeit unter Menschen noch stärker als allein? Alle hatten zu viel getrunken, auch Ja'ara, aber dennoch hatte sie das Buch vom Dekan mit ins Bett genommen. Plötzlich wurde mir klar, dass ich darüber meine Arbeit schreiben würde, über die Geschichte von der Zerstörung des Tempels, und ich dachte, was für ein Glück, dass es jetzt keinen Tempel mehr gibt, denn sonst würde ich bei jeder Sache, die ich falsch mache, glauben, er würde meinetwegen zerstört, wie der Gehilfe des Zimmermanns, der durch Betrug dem Zimmermann die Frau stahl, ... und Ja'ara kamen Parallelen zwischen der gelesenen und ihrer erlebten Geschichte in den Sinn, aber dann dachte sie, einen Moment mal, und was ist mit dir, wo ist deine Liebe, und entschied, ich sei vielleicht die Frau in dieser Geschichte, von der man nicht wissen konnte, was sie wirklich fühlte, man konnte es nur an dem erraten, was sie tat. War sich Ja'ara so fremd oder verhielt sie sich so distanziert zu sich selbst, dass sie ihr eigenes Fühlen nur aus ihren Taten meinte erraten zu können? War ihr Selbst in frühen Jahren gleichsam aus Sicherheitsgründen versiegelt worden? Wenn ja, was mag der Grund dafür gewesen sein? Und war es bei Arie etwa ganz ähnlich? Das würde zumindest seine Distanziertheit und Gleichgültigkeit und ihre unbeteiligt scheinende Selbstreflexion verstehen helfen, mit der sie sich ständig selbst beobachtend und kommentierend in ihrem Verhalten und Handeln begleitete. Wenn man sich klar macht, wie verschieden andererseits das eigene Fühlen bei den gleichen Taten sein kann, wird man die Taten nur als ein sehr vages Indiz dafür annehmen, was Menschen gerade fühlen, wenn sie etwas tun, was man auch schon selbst einmal tat. Am einfachsten mag es noch bei stark physiologisch bestimmten Taten sein, wie z.B. das Durstlöschen mit Wasser nach körperlicher Erschöpfung. Aber wie verhält es sich bei dem weitaus komplexeren Begehen einer - Hochzeitsnacht? Auch an die musste sich Ja'ara wieder erinnern: In unserer Hochzeitsnacht redete ich ihm ein, es sei zu banal, zu ficken, wenn alle es tun, und wir sollten uns etwas Besseres einfallen lassen und dieser Nacht einen anderen Inhalt geben. Noch bevor ich zu Ende gesprochen hatte, war er eingeschlafen, und ich lag wach da und versuchte mich zu erinnern, wie die Dinge sich entwickelt hatten, eine Art Zwischenbilanz dessen zu ziehen, was man mit einem bisschen Spott mein Liebesleben nennen könnte, herauszufinden, warum ich Joni nicht gleich am Anfang verlassen hatte, warum ich so schnell entschieden hatte, dass es für Reue zu spät sei, und ich dachte, er ist der einzige, der versprochen hat, mich immer zu lieben, und darauf hatte ich offenbar nicht verzichten können. Noch hatte Ja'ara beides, lauwarme Ehe und leidenschaftliche Affäre. Und in Aries so gehütetes Privatleben war sie ebenfalls eingedrungen. Aufgrund eines häuslichen Unfalls war ihre Mutter kurzzeitig ins Krankenhaus eingeliefert worden und die Geliebte war den aufgeschnappten Spuren der Ehefrau gefolgt. Denn nur deshalb war Arie überhaupt von Paris nach Jerusalem zurückgekommen. Seine Frau Joséphine war totkrank und brauchte informell unbedingt Morphium, das der Apotheker und alte Freund Schlomo ihm besorgte. Nahezu im letzten Moment erreichte Ja'ara das Zimmer Joséphines und - war bei ihr, als sie starb. Nur sie hatte ihre letzten Worte gehört. Die hatte sie längst vergessen, kostete aber voll ihre Macht aus, die sie damit über Arie gewann. Nunmehr hatte sich das Blatt tatsächlich gewendet, Ja'ara begann die Stärkere in ihrer Liebschaft zu werden. Joni gegenüber war sie das ja bereits lange und so überraschte es sie auch nicht, dass ihr Ehemann nicht längst etwas bemerkt hatte. Aber das hatte er sicher schon, nur glaubt man so leicht, was man glauben will, und vergisst die Tatsachen. Kann man so leicht wie die (äußeren) Tatsachen die (inneren) Gefühle verleugnen? Und verhielt es sich nicht ganz ähnlich wie bei ihrem Mann auch - bei ihrem Vater?

Die Geschichten von der Zerstörung des Tempels boten Ja'ara immer wieder Halt und einen Zufluchtsort, in dem sie ihre eingene Lebensgeschichte mit der ihrer Familie und ihres Volkes zusammendenken konnte. Ausgerechnet zwischen ihrer Reizwäsche stieß sie auf einen harten Gegenstand; es war aber kein Dildo, sondern das Buch aus der Privatbibliothek ihres Dekans. Ich umarmte es innig und begann darin zu blättern, entdeckte glücklich meine alten Freunde, so wie man in einem fremden Haus plötzlich ein bekanntes Bild entdeckt, die Ehebrecherin, die aus der Hand ihres Sohnes, des Hohepriesters, den Becher empfing und ihn austrank, ... und ich traf die Tochter des Priesters, deren Vater vor ihren Augen abgeschlachtet wurde, durch ihre Schuld, und als sie schrie, tötete man auch sie und mischte ihr Blut mit seinem, ... auch Marta, die Tochter des Bitus, traf ich wieder und die anderen Töchter Zions, ... und über ihnen der Schatten des Propheten Jeremia, der von Anathot nach Jerusalem heraufsteigt und über die abgeschlagenen Gliedmaßen weint ... Und am meisten freute ich mich, die Frau des Zimmermanns zu treffen, die den Gehilfen geheiratet hatte, wieder und wieder las ich die Geschichte, versuchte zwischen den wenigen Worten herauszufinden, was sie wirklich empfunden hatte, als ihr Mann sie bediente und seine Tränen in die Gläser fielen, in dieser Stunde, in der das Urteil unterschrieben wurde. Trotz der vielen gedachten und erlebten Metamorphosen gelang es Ja'ara mehr oder weniger sie selbst zu bleiben. Sie musste endlich hinter das Geheimnis ihres Lebens gelangen und es aus ihm herauslocken. Auf der Trauerfeier nach dem Tod Joséphines konnte sich das ungleiche Liebespaar natürlich nicht in der Familienöffentlichkeit zeigen und so schloss Arie Ja'ara kurzerhand ins Schlafzimmer ein. Hier würde sie ihre letzte Schlacht mit ihm schlagen können. Aber noch hatte sie ihre Zweifel: Ich war erwünscht oder unerwünscht, aus Gründen, die nicht von mir abhingen, ich war so etwas wie ein blasser Mond, der kein eigenes Licht hat und von der Gnade der Sonne abhängt. Während der tage- und nächtelangen Familienzusammenkunft nutzte Ja'ara die Zeit, um nach dem Foto zu suchen, das schon ihr Vater vergeblich zu finden gehofft hatte. Und wieder überschritt sie eine Schwelle; denn sie fand viele private Bilder Aries in den noch unausgepackten Kartons nach dem unvollendet gebliebenen Umzug. Sein ganzes Leben erschloss sich ihr in den Bildern, seine ungestüme Jugend und einstige Lebensfreude, nicht nur mit vielen wechselnden Freundinnen und seiner späteren Frau, sondern auch mit - Ja'aras Eltern. Das war es also!? Frühe Erinnerungsbilder an ihre Mutter, schemenhaft verschwommen, nur vage auszumachen, überschritten ihre Bewusstseinsschwelle und dehnten sich mehr und mehr in ihrem Erleben aus, wie Wellen sich nach heraufblubbernden Luftblasen über einem tiefen, dunklen Teich ausbreiten. Hatte Arie einst ihre Mutter geliebt, diese aber Schlomo geheiratet? Arie und Joséphine hatten keine Kinder, weil er unfruchtbar war. Aber das hieße ja, dass es sie gar nicht gegeben hätte, wenn ihre Mutter sich für Arie entschieden hätte. Eine Frau musste sich zwischen zwei Männern entscheiden, die sie beide liebten. Aber der, den sie liebte, war unfruchtbar und dabei wollte sie doch so gerne Kinder haben. Arie und Schlomo hatten sich ihr Leben lang etwas vorgemacht, indem sie ihre Jugendzeit verdrängt und versiegelt hatten. Und nun hatte die Tochter das Siegel gebrochen - und die beiden Alten stürzten in den Abgrund ihres dunklen Vorbewussten. Wäre die Seele ein Organ, hätte man sie herausoperieren können, als dynamischer Zustand des Gehirns aber bleibt sie stets latent oder sensibel präsent und man hat mit ihr zu leben. Warum hatte ihre Mutter nicht einfach mit beiden Männern zusammenzuleben versucht oder Arie geheiratet, nachdem sie von Schlomo ein Kind erwartete? Freiheit und Toleranz vertragen sich wohl nicht mit Leidenschaft und Besitzanspruch. Ja'ara sollte ihr Leben fortan selbst in die Hand nehmen und vorerst keinen neuen Lebensplan schmieden. Befreit von ihren beiden Männern sehen wir sie am Schluss allein mit ihrem Buch. Würde sie es besser machen als ihre Elterngeneration?


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ingo 2009-09-20