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Zur Perspektive einer wissenschaftlichen Weltanschauung

Die analytische Philosophie, die nach dem Sinn und der Bedeutung unserer Sprache fragt, macht natürlich nicht vor den Wissenschaften halt. Bemerkenswerterweise hat sie gerade durch die Behandlung mathematischer und physikalischer Grundlagenprobleme wesentlichen Auftrieb erhalten. Denn die klassische Physik ist trotz aller Formalismen und Experimente auf die Umgangssprache angewiesen, da sie schlicht aus dem Alltagshandeln hervorgegangen ist. Die Experimente mit der schiefen Ebene und ihre mathematische Behandlung zur Ableitung des Fallgesetzes mögen als Beispiel dienen, das heute jeder zuhause leicht nachvollziehen kann.

In Anwedung auf den Mikro- und Makrokosmos versagte die klassische Physik. Erst die philosophische Reflexion Einsteins und Bohrs auf den Sinn und die Bedeutung der Grundbegriffe von Ruhe und Bewegung, Trägheit und Schwere sowie Welle und Teilchen ermöglichte ein über den Alltag hinausgehendes Verständnis der atomaren und kosmischen Dimensionen. Dabei wurde die Umgangssprache weitgehend durch Mathematik und das handwerkliche Experimentieren durch Hochtechnologie ersetzt. Relativitäts- und Quantentheorie basieren eine allgemeine Theorie der Erfahrung. Ihr Gültigkeitsbereich umfaßt mehr als 40 Größenordnungen und ihre relative Genauigkeit konnte auf bis zu 10-14 vorangetrieben werden. Eine konsistente Vereinheitlichung von Relativitäts- und Quantentheorie steht allerdings noch aus.

Die faszinierende Weite wissenschaftlicher Kosmologie, wie sie sich in den Vereinheitlichkeitsversuchen der Quantengravitation und der Superstringtheorien zeigt, sollte sich auch für eine Vereinheitlichung von Philosophien fruchtbar machen lassen.

Was soll ich tun? Was kann ich wissen? Der Wissenschaftler versucht, diese philosophischen Grundfragen in die Praxis zu übertragen: Wenn ich dies tue, was wird passieren? Diese für den Realwissenschaftler typische Fragestellung ist einfach und verständlich, gleichwohl aber sehr folgenreich. Sokrates genügte ihr, indem er dem Logos folgend, seinen Zeitgenossen ihre Unwissenheit bewußt machte. Er wurde zum Tode verurteilt. Galilei folgte ihr, indem er dem Experiment folgend, seinen Zeitgenossen ihre Irrtümer vor Augen führte. Um dem Todesurteil zu entgehen, mußte er abschwören. Das unbefangene Argumentieren und Experimentieren im Rahmen einer wissenschaftlichen Weltauffassung kollidiert auch heute noch mit den Ideologien und Religionen der Diktatoren in vielen Ländern der Erde.


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Ingo Tessmann
1/31/2000