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Der kleine Pastor und Radio Days

Friedrich Wilhelm Nietzsche wurde am 15. Okt. 1844 in Röcken bei Lützen im heutigen Bundesland Sachsen-Anhalt geboren. Im gleichen Jahr trafen sich erstmals Marx und Engels in Paris, veröffentlichte Heine sein Wintermärchen und kam es in Schlesien zum Weberaufstand. Der kleine Fritz wuchs in der spießbürgerlich-tugendhaften Atmosphäre des protestantischen deutschen Pfarrhauses auf, da sein Vater ein Pfarramt bekleidete. 1846 kam Fritzens Schwester Elisabeth auf die Welt. Als der Vater 1849 in der Folge eines Sturzes an einer Gehirnerkrankung starb, bestimmten fortan ausschließlich Frauen die Erziehung des Knaben; neben der jungen Mutter die Großmutter, zwei Tanten und später zunehmend die Schwester. Unter dieser Allmacht frömmelnd-moralisierender Weiber muss der aufgeweckt-sensible Junge schwer gelitten haben.

1850 war die Familie aus dem ländlichen Pfarrhaus in eine Stadtwohnung in Naumburg an der Saale gezogen. Wie wenig ihn die engstirnig-verklemmten Frauen auf die Lebenswirklichkeit vorbereitet hatten, zeigte sich durch Fritzens Versagen in der städtischen Bürgerschule. Neben den äußeren familiären Einflüssen war es aber auch ein innerer wild-herrischer Zwang des Schülers, der es ihm erschwerte, sich in einen autoritär-regelgeleiteten Schulalltag einzufügen bzw. sich im Kreis seiner Mitschüler zu behaupten. Fritz schwankte zwischen dominantem Führungsgehabe und grüblerischem Rückzug in die Einsamkeit. Die Verhältnismäßigkeit normalen sozialen Umgangs bereitete ihm Schwierigkeiten. Seine Mitschüler hänselten ihn als den kleinen Pastor, weil er es verstand, mit inbrünstiger Hingabe Bibeltexte zu rezitieren oder dadurch auffiel, dass er sogar bei strömendem Regen gemessenen Schrittes ging, ganz so wie es die Schulordnung verlangte. Früh wurde er sich seines Talentes und Schaffensdranges bewusst; denn wie seine Schwester berichtete, fiel ihm immer wieder auf, wie wenig seine Mitschüler wussten und für wie wenig sie sich wirklich interessierten. Mit zehn Jahren begann er zu komponieren und Gedichte zu schreiben. Im Alter von 14 Jahren reflektierte er bereits in seiner ersten Autobiographie seine frühe Schaffensphase: Ein gedankenleeres Gedicht, das mit Phrasen und Bildern überdeckt ist, gleicht einem rotwangigen Apfel, der im inneren den Wurm hat. Phrasen zeugten von einem Kopf, der nicht fähig sei, selbst etwas zu schaffen.

Trotz schwacher Gesundheit und sozialer Inkompetenz, erlaubte es ihm seine künstlerisch-intellektuelle Begabung, 1858 in die berühmte Erziehungsanstalt Schulpforta aufgenommen zu werden. Seiner Lust entsprechend, schöpferisch tätig zu sein, gründete Nietzsche 1860 mit zwei schon aus Naumburg bekannten Schülern die literarisch-musikalische Vereinigung Germania. Der Aufgabe, einmal monatlich ein kleines Werk zu produzieren, kam er natürlich nur selbst nach. In Jean Paul, Friedrich Hölderlin und Lord Byron fand der Schüler die Poesie des Weltschmerzes und den Sturmdrang des Feuergeistes, der nur einem geisterbeherrschenden Übermenschen gemäß sei. Eine Vision vom Übermenschen hatte Nietzsche also schon als Jungendlicher durch das Studium der Romantik erlangt.

Die Schrift Fatum und Geschichte, die Nietzsche 1862 für den Verein Germania verfasste, enthält bereits im Kern sein ganzes philosophisches Programm: Ein vorurteilsfreies und unparteiisches Urteil über Religion und Christentum gelinge nur auf der Grundlage von Naturwissenschaft und Geschichte, die wundervollen Vermächtnisse unserer ganzen Vergangenheit, die Verkünderinnen unserer Zukunft. Die babylonische Sprachverwirrung in der bisherigen Philosophie habe als trostloses Resultat eine unendliche Gedankenverwirrung im Volke zur Folge gehabt; denn Sitte und Moral seien bloß das Ergebnis einer allgemeinen Menschheitsentwicklung: Alles bewegt sich in ungeheuren immer weiter werdenden Kreisen um einander; der Mensch ist einer der innersten Kreise. Will er die Schwingungen der äußeren ermessen, so muss er von sich und den nächst weiteren Kreisen auf noch umfassendere abstrahieren. Diese nächst weiteren sind Völker-, Gesellschaft- und Menschheitsgeschichte. Das gemeinsame Centrum aller Schwingungen, den unendlich kleinen Kreis zu suchen, ist Aufgabe der Naturwissenschaft; jetzt erkennen wir, da der Mensch zugleich in sich und für sich jenes Centrum sucht, welche einzige Bedeutsamkeit Geschichte und Naturwissenschaft für uns haben müssen. Indem der Mensch aber in den Kreisen der Weltgeschichte mit fortgerissen wird, entsteht jener Kampf des Einzelwillens mit dem Gesammtwillen; hier liegt jenes unendlich wichtige Problem angedeutet, die Frage um Berechtigung des Individuums zum Volk, des Volkes zur Menschheit, der Menschheit zur Welt; hier auch das Grundverhältniß von Fatum und Geschichte. Spekulationen über die Universalgeschichte blieben Prophetie. Fangen wir lieber beim einzelnen Menschen an und versuchen in ihm das Allgemeine zu erkennen: Was bestimmt unser Lebensglück? Haben wir es den Ereignissen zu danken, von deren Wirbel wir fortgerissen werden? Oder ist nicht vielmehr unser Temperament gleichsam der Farbenton aller Ereignisse? Tritt uns nicht alles im Spiegel unsrer eignen Persönlichkeit entgegen? Und geben nicht die Ereignisse gleichsam nur die Tonart unsres Geschickes an, während die Stärke und Schwäche, mit der es uns trifft, lediglich von unsern Temperament abhängt? Letztlich erscheint der freie Wille als das Fessellose, Willkürliche und ist als das unendlich Freie, Schweifende, der Geist nur aus seinem Gegensatz verständlich, d.h. der freie Wille nicht ohne Fatum wie Gutes nicht ohne Böses und der Geist nicht ohne Reelles. Und der noch nicht einmal 18jährige Schüler beschließt seine Gedanken mit der Vermutung: Vielleicht ist in ähnlicher Weise, wie der Geist nur die unendlich kleinste Substanz, das Gute nur die subtilste Entwicklung des Bösen aus sich heraus sein kann, der freie Wille nichts als die höchste Potenz des Fatums. Weltgeschichte ist dann Geschichte der Materie, wenn man die Bedeutung dieses Wortes unendlich weit nimmt. Denn es muss noch höhere Principien geben, vor denen alle Unterschiede in eine große Einheitlichkeit zusammenfließen, vor denen alles Entwicklung, Stufenfolge ist, alles einem ungeheuren Ozeane zuströmt, wo sich alle Entwicklungshebel der Welt wiederfinden, vereinigt, verschmolzen, all-eins.-

Dieser Lebensentwurf für Jahrhunderte entsprang wohl einem postpubertären Befreiungsschlag; denn in diese Zeit enormer intellektueller Produktivität fallen auch erste Alkoholräusche und lustvoll-feuchte Träume. Nietzsches Stimmungen wechseln in geradezu manisch-depressiver Folge: So phantasiert er in der Novelle Euphorion von einer sittsamen Nonne, dünn und schmächtig, die er als Arzt schon bald dick gemacht habe und ihrem Bruder, fett und blühend, den er mager wie eine Leiche gemacht habe. Andererseits äußert sich der Leidensdruck in seinem christlichen Sittsamkeitsgefängnis in Gedichten wie:

Ich weiß nicht, was ich liebe

Ich hab nicht Fried', nicht Ruh'

Ich weiß nicht, was ich glaube,

Was leb ich noch, wozu?

Ich möchte sterben, sterben,

Schlummern auf grüner Heid'.

Über mir ziehen die Wolken,

Um mich Waldeinsamkeit.

Zur Bewältigung seiner krisenhaften Stimmungsschwankungen wendet er sich der griechischen Antike zu, einer Sublimierung, aus der er als ein Neo-Kyniker und Jünger des Dionysos hervorgeht. Seine wirkliche erste Liebe zu der Geheimratstocher Anna Redtel, die er in einem Ausflugslokal kennengelernt hatte, scheiterte nach wiederholten schicklichen Annäherungsversuchen und hinterlässt ihn in Schwermut und Melancholie. 1864 besteht er (ausser in Mathematik) mit herausragenden Leistungen das Abitur und schreibt sich zum Wintersemester in Bonn zum Studium der Philosophie und Theologie ein. Als Selbstschutz vor seinen romantischen Anwandlungen wählt er dann aber die Philologie zu seinem Hauptfach. Ein Jahr später siedelt Nietzsche mit seinem Lehrer Ritschl nach Leipzig über, wo er im Herbst 1865 sein Erweckungserlebnis mit Schopenhauer hat. Ich hing damals gerade mit einigen schmerzlichen Erfahrungen und Enttäuschungen ohne Beihilfe einsam in der Luft, ohne Grundsätze, ohne Hoffnungen, ohne eine freundliche Erinnerung. Mir ein eigenes passendes Leben zu zimmern, war mein Bestreben von früh bis abends. Als Nietzsche in dieser Stimmung ein Antiquariat aufsuchte, griff er nach einem Buch, blätterte darin und nahm es einer Eingebung folgend mit. Zu Hause warf ich mich mit dem erworbenen Schatze in die Sofaecke und begann, jenen ernergischen düsteren Genius auf mich wirken zu lassen. Hier war jede Zeile, die Entsagung, Verneinung, Resignation schrie, hier sah ich einen Spiegel, in dem ich Welt, Leben und eigen Gemüt in entsetzlicherer Großartigkeit erblickte. Hier sah mich das volle interessenlose Sonnenauge der Kunst an, hier sah ich Krankheit und Heilung, Verbannung und Zufluchtsort, Hölle und Himmel. Das Bedürfnis nach Selbsterkenntnis, ja Selbstzernagung packte mich gewaltsam.

Neben dem Erweckungserlebnis mit Schopenhauer gab es für den bieder-korrekten und sexuell-verklemmten jungen Mann in diesem Jahr auch noch ein Entdeckungserlebnis mit den Damen eines Bordells, an das er sich später zu erinnern glaubte; denn während eines Besuchs in Köln wurde er von einem Dienstmann statt in ein Restaurant in ein Freudenhaus geführt: Ich sah mich plötzlich umgeben von einem halben Dutzend Erscheinungen in Flitter und Gaze, welche mich erwartungsfroh ansahen. Sprachlos stand ich eine Weile. Dann ging ich instinktmäßig auf ein Klavier als das einzige seelenhafte Wesen in der Gesellschaft los und schlug einige Akkorde an. Sie lösten meine Erstarrung und ich gewann das Freie. Auch wenn er diese Geschichte so erfunden haben mag, zeigt sie doch, wie schwer er es sich mit den Frauen machte und wie eingeschränkt damals in der Restaurationszeit der Umgang der Geschlechter war. Visconti nahm die Bordellerfahrung Nietzsches in seinen Film Der Tod in Venedig auf und Thomas Mann verarbeitete sie im Dr. Faustus. Nietzsche hatte wohl auch leibliche Freuden mit Dirnen genossen und sich vielleicht schon früh mit Syphilis infiziert.

Hundert Jahre später, im Paris der swinging sixties, hatte Woody Allen es da leichter mit den süßen Pariserinnen, vor allem, wenn er ihnen im Crazy Horse beim Aus- und Ankleiden behilflich sein konnte. Allen hatte das Drehbuch zu dem Film What's new, Pussycat? geschrieben, der 1965 in Paris gedreht wurde und in dem er auch selbst mitspielte. Obgleich Produzent und Regisseur sein Drehbuch ziemlich verhunzten, wurde der Film durch seine vielen Witze und Anspielungen, Komik- und Slapstick-Einlagen ein riesen Erfolg beim Publikum, wodurch Woody ganz groß herauskommen sollte. Pussycat traf den Nerv der Zeit, in der die Sitten lockerer und der Spaß ausgelassener wurden. Konsum und Popmusik beflügelten die Jungendkultur der Babyboomer, die die bürgerlichen Freiheiten ausreizten und die gesellschaftliche Toleranz erprobten. Ein ideales Klima für die anarchische Komik Woodys. Begleitend zum Film sorgte der gleichnamige Popsong für Popularität, mit dem Tom Jones die Hitparaden erreichte. Aber ähnlich wie die Beatles mit Rubber Soul den POP intellektuell zu unterlaufen begannen, betrat mit Woody Allen ein Intellektueller die Bühne der Popkultur.

Pussycat hebt an mit dem Geschlechterkampf. In einem Streit des Psychoanalytikers Fritz Fassbender mit seiner Frau Anna versteigt sich der erregte Analytiker gegenüber seiner nebenbei als Walküre auftretenden Furie zu dem Aufschrei: Ich hasse dich seit dem ersten Tag unserer Ehe! Als Walküre verkörpert seine Frau dabei nicht nur die stählerne Eifersucht, sondern eine Macht, die einst ganz Europa unterjochte. Die Ehe ist der Tod der Liebe und auf Wagner bezog sich Hitler. Zudem spielt der Vorname Fritz auf Friedrich Nietzsche und der Nachname Fassbender auf Diogenes (in der Tonne) an. In der zweiten Szene lässt Woody in dem Pariser Café La Closerie des Lilas am Boulevard Saint-Michel, wo sich der von ihm gespielte Striptease-Assistent und Bücherwurm Victor Shakapopolis mit einer reizenden Existentialistin zum Schachspielen trifft, am Nebentisch van Gogh, Toulouse-Lautrec und Zola Platz nehmen. Und ins regelgeleitete Schachspiel baut er in unterhaltsamer Weise den Zufall ein, indem er Victor seiner Spielgefährtin wiederholt eine Figur entwenden lässt. Als Shakapopolis rüttelt er gleichsam an der Akropolis und damit an den Grundfesten der altgriechischen Kultur. Darüber hinaus spielt diese Szene natürlich auf die Filme Ein Amerikaner in Paris und Van Gogh an. Als sich Victor später mit seiner Traumfrau Carol in einer Buchhandlung trifft und sie im Angesicht einer blonden Bestie einen Liebesbeweis von ihm verlangt, ist guter Rat teuer. Der muskulös-hochgewachsene, blond-blauäugige Nazi-Neandertaler ist nur durch List und Witz abzuschütteln. Victor kämpft darüber hinaus ständig mit der Technik. So scheitert er bravourös beim Anlegen einer Rüstung an eine Stripperin, da er wohl gerade davon träumt, ihr hautenger Unterrock zu sein. Beim Date mit Carol kommt ihm nach dem Öffnen einer Tür seines Küchenschranks der ungeschickt verstaute Inhalt entgegen und während des Ausflugs mit einem Crazy-Horse Girl im Auto hat er Probleme mit dem Fahren, so dass Fußgänger und Gäste der Straßencafés nur durch reaktionsschnelles Ausweichen davon kommen. Don Juan Michael dagegen steht wiederholt vor dem Problem, dass seine Schönen überraschend zum Freitod neigen oder lieber revolutionäre Gedichte vortragen, statt der Sinnesfreuden zu frönen. In Alpträumen sieht sich der Lebemann als Bändiger seiner Verehrerinnen wie ein Dompteur, der in der Zirkusarena drohend die Peitsche vor gezähmten Tieren schwingt. Diese eigentlich unbewusste Sicht auf die ungestümen Frauen, spielt auch auf den Film Achteinhalb Fellinis an und greift den Tanz Zarathustras mit dem Leben auf: Nach dem Takt meiner Peitsche sollst du mir tanzen und schrein! Ich vergaß die Peitsche nicht?- Nein! Tagsüber wünscht sich der in der Arbeitsroutine als Redakteur einer Modezeitschrift Gefangene immer wieder, endlich einmal einen anspruchsvollen Roman schreiben zu können. Aber dafür müsste er nicht nur der Damenwelt entsagen, sondern auch noch seinen Beruf aufgeben.

Der als oberflächliches Don Juan-Lustspiel mit Starbesetzung geplante Hollywoodfilm gewann durch Allens Drehbuch eine polit-philosophische Grundierung, die auch den griesgrämigen Intellektuellen das Lachen erlaubte. So versammelte Woodys erster Film bereits alle Themen und Probleme, die ihn fortan in seinen Werken immer wieder beschäftigen sollten:

Geübt hatte Allen das Drehbuchschreiben während seiner Zeit als stand-up Comedian. Die dramaturgische Gestaltung einer Folge von Witzen hatte er durch zahlreiche Auftritte in den Clubs New Yorks erprobt. Da blieb es nicht aus, dass eines Tages der Filmproduzent Charles K. Feldmann auf ihn aufmerksam wurde. Seiner Begleiterin Shirley MacLain gefiel Woodys Bühnenkomik im Blue Angel so gut, dass sie nur schwer aus dem Lachen wieder heraus fand. So machte Woody z.B. eine kurze Pause, um ein Wort über orale Empfängnisverhütung zu sagen: Vor zwei Wochen habe ich ein sehr gutes Beispiel oraler Empfängnisverhütung erlebt. Ich habe ein Mädchen gefragt, ob sie mit mir ins Bett gehen wolle, und sie sagte Nein. Pause und Überleitung auf ein späteres Problem: Sie war Atheistin und ich war Agnostiker. Wir wussten nicht, in welcher Religion wir die Kinder nicht aufwachsen lassen sollten. Und zum Abschluss ein Fall für den Analytiker: Was passiert mit der Seele nach dem Tode? Wie wird sie damit fertig? Die Geburt der Filmkunst aus dem Geist der Komik. Ich werde darauf zurückkommen.

Als Gagschreiber erschuf sich der 16jährige Schüler Allan Stewart Konigsberg im Frühjahr 1952 selbst, indem er sich zur Vermarktung seiner Witze den Künstlernamen Woody Allen gab. Der Klarinettist Woody Herman, die jüdischen Komiker Dayton und Marty Allen sowie der TV-Entertainer Steve Allen mögen ihn dabei beeinflusst haben. Fortan erschienen in verschiedenen Zeitungen regelmäßig Witze von ihm: Ich war sechzehn, ging morgens zum Unterricht und lieferte nachmittags in einem Büro meine fünfzig oder sechzig Witze ab. Sein Schreibtalent war natürlich schon in der Schule aufgefallen. Besonders gerne schrieb er lustige Essays mit vielen Sexwitzen. Humorlose Lehrer stellten ihn dafür allerdings immer wieder zur Rede; z.B. mit der Frage: Was meinst du mit: Sie hat eine Stundenglasfigur und ich würde gerne im Sand spielen? Allans Mutter wurde nahegelegt, ihn zum Psychiater zu schicken. Die pralle Blondine Mae West dagegen konnte nach der Umarmung zur Begrüßung eines Freundes im Fernsehen trocken zum besten geben: Hast du eine Wumme in der Tasche oder freust du dich so, mich zu sehen? Nachhaltigen Eindruck auf den jungen Allan machte auch der Wahlspruch der coolen Blonden: It's hard to be funny when you have to be clean. Hätte er doch nur Mae West als Klassenlehrerin gehabt! So aber erschien ihm die Schule bloß als eine Verwahranstalt für emotionsgestörte Lehrer, die sich ungehemmt an den Kindern schadlos halten konnten. Da ging er als Jungendlicher lieber ins Kino, amüsierte sich mit den Marx-Brothers oder ließ sich von der Intensität der Bergman-Filme gefangen nehmen.

Sein erstes Kinoerlebnis hatte Allan mit drei Jahren als er fasziniert in die Lichtspiele Schneewittchens mit den sieben Zwergen eintauchte. Das Kino bot dem Eigenbrötler immer wieder Gelegenheit, der rauhen Straßenwirklichkeit zu entkommen, um sich an den derben Sprüchen und dem anarchischen Klamauk Grouchos zu erfreuen oder sich erotisch in Bergmans Zeit mit Monika hineinzuträumen: Ich habe den Sommer immer gehasst. Ich hasste heißes Wetter, ich hasste die Sonne. Also ging ich in ein Kino mit Klimaanlage. Mehrmals wöchentlich ging er ins Kino und besonders liebte er die Doppelfeatures, die es zum Glück damals meistens gab. Das Heraustreten aus dem Leinwandzauber in die rohe Wirklichkeit deprimierte ihn allerdings immer wieder: Die Menschen im wirklichen Leben enttäuschen dich. Sie sind grausam, und das Leben ist grausam. Der Maler Munch hat seine Lebenserfahrung auf seinem Grabstein hinterlassen: Je mehr ich die Menchen kennenlernte, desto mehr liebte ich meinen Hund. Und dem Existentialisten Satre gerieten die Menschen in geschlossener Gesellschaft sogar zur Hölle: die Hölle, das sind die anderen.- Vor allem, wenn es sich um Versicherungsvertreter handelt, könnte man mit Woody ergänzen.

Vor den traumhaft nachleuchtenden Kinoerlebnissen des Jugendlichen erschloss sich dem Kind die Welt des Hörfunks. In dem Film Radio Days hat Woody 1987 seine von Radiogeschichten inspirierte Phantasie zu einem heiter-melancholischen Episodenfilm versponnen. Aus dem Off kommentiert Joe die ersten Bilder, die einen stürmisch-verregneten Küstenort zeigen: Ich liebe alte Radiogeschichten, ich kenne Tausende davon. In vielen Jahren habe ich sie gesammelt, es war ein Hobby. Anekdoten, Klatsch und Privatgeschichten über Stars. Außerdem erinnere ich mich an so viele Persönlichkeiten aus meiner Kindheit, als ich eine Sendung nach der anderen hörte ... Jetzt ist alles vergangen, außer der Erinnerung. Der Schauplatz ist Rockaway. Die Zeit ist meine Kindheit. Es ist meine alte Gegend. Verzeihen sie mir, wenn ich dazu neige, die Vergangenheit zu verklären. Ich meine, es war nicht immer so stürmich und regnerich wie jetzt. Aber ich habe es so in Erinnerung, weil es dann am schönsten war. An solchen Tagen lief das Radio bei uns zu Hause von morgens bis abends. Stürmisch und regnerisch, nicht lauhlüftig unter heißer Sonne, war es am schönsten! Und von dem Abspann des maskierten Rächers konnte Klein-Allan gar nicht genug bekommen: Nehmt euch in acht Bösewichte, wo immer ihr auch seid! Die Radio Days wurden aber nicht nur von Abenteuergeschichten und Hörspielen, sondern auch vom Jazz bestimmt; eine Musik, die der damaligen Zeit ihren Rhythmus verlieh und Allans Lebensgefühl wie seine Filme bis heute prägen sollte. Wir verbrachten viele, viele, viele Stunden damit, nichts anderes zu tun als dieser Musik zuzuhören. Mit fünfzehn Jahren begann Allan dann selbst mit dem Klarinettenspiel, dem er bis heute regelmäßig mit Freude nachkommt. Barbara Kopple hat die Europatournee Woody Allens mit seiner New Orleans-style Jazz Band 1997 in dem Film White Man Blues einfühlsam dokumentiert.

Zauberei und Kartentricks, Radiogeschichten und Kinoerlebnisse, das Witzeschreiben und Klarinettenspiel ließen dem Naturtalent Woody Allen kaum mehr Zeit für die Schule, die er so leidlich hinter sich brachte. Nach der High School schreibt er sich 1953 an der New York University im Studiengang Filmproduktion ein - und scheitert. Ähnlich ergeht es ihm wenig später am City College. Den Filmproduktionskurs bricht er ab und beginnt mit dem dramatischen Schreiben. Nach einem ungenügend in Englisch widmet sich der Komiker lieber ganz dem Gagschreiben, den Bühnenauftritten und dem Schreiben für Fernsehshows. Hinzu kommen noch Humoresken und Satiren für den Playboy, New Yorker und Esquire, die später gesammelt als Bücher erscheinen. 1964 verdient er bereits einige Tausend Dollar in der Woche! Das war genug Geld, um sich privat nach eigenen Vorstellungen von Professoren in die Philosophie und Literatur, Musik und Kunst der westlichen Zivilisation einführen lassen zu können. Kein Wunder also, dass er sich zeitlebens über die miserablen Schulen und die lebensferne Uni-Bildung lustig macht, indem er immer wieder das hohle Gerede der Intellektuellen karikiert. Als Neo-Kyniker bleibt ihm die Lust am Körper wichtiger. Und so lässt er Boris am Schluss von Love and Death als Fazit bekennen: Human Beings are divided into mind and body. The mind embraces all the nobler aspirations, like poetry and philosophy, but the body has all the fun. Ganz im Gegensatz zu seinen Filmhelden, hat Woody selten Probleme mit den Frauen. Im März 1956 heiratet er die 17jährige Philosophiestudentin Harlene Rosen. Die weist ihm zwar immer wieder nach, dass er überhaupt nicht existiere; eine lustvolle Nummer danach lässt ihn aber schnell darüber hinweg kommen. Wie seine ständig streitenden jüdischen Eltern seine Zeugung hinbekamen, bleibt ihm lebenslang ein Rätsel. Allan Steward Konigsberg erblickte jedenfalls am 1. Dez. 1935 in den kleinbürgerlichen Verhältnissen der Bronx New Yorks das Licht der Welt. Im gleichen Jahr wurde in Berlin der erste Fernsehsender in Betrieb genommen, die Nazis begannen mit den Nürnberger Gesetzen ihre widerwärtige Rassenpolitik und Judenverfolgung und in China beendete Mao seinen langen Marsch. Als Lichtblick im Dunkel dieser Zeit sei die Geburt Hubert Fichtes erwähnt, der sich als Ethno-Schriftsteller ebenfalls zum Intellektuellen des POP entwickeln sollte. Und der bissig-antiklerikale Humor war ihm auch nicht fremd: Am Gründonnerstag wünschte Judas Jesus ein schönes Wochenende.

Dass Religion bloß Opium fürs Volk sei, über das man sich ungehemmt lustig machen sollte, lernte Allen bereits in früher Kindheit. Die nächsten Nachbarn der Konigsbergs in Rockaway waren jüdische Kommuninisten, die sich z.B. einen Dreck um die heiligen Feiertage scherten und statt zu fasten, sich den Essensfreuden hingaben oder an Sonntagen provozierend die Wäsche zum Trocknen in den Wind hängten. Für Woodys Eltern war das natürlich wieder ein willkommener Anlass zu streiten. In Radio Days vermittelt Allen gleichwohl eine insgesamt warmherzige Atmosphäre im Elternhaus, obwohl seinen Eltern nicht selten die Hand ausrutschte. Die meiste Zeit verbrachte der rotschopfige Junge allerdings in der Abgeschiedenheit seines Zimmers, übte Zaubertricks ein oder sponn die Radiogeschichten weiter. 1943 wurde seine Schwester Letty geboren, mit der er sich bis heute gut versteht. Zu Radio Days erzählte Allen Björkman: Ich habe in einer Familie mit vielen Leuten im Haus gelebt, Großeltern, Tanten, Onkeln. Und ein Teil meiner Kindheit habe ich auch in einem Haus gleich am Wasser verbracht. In Long Beach.

Woody liebt bis heute die melancholische Atmosphäre regnerischer Tage. Immer wieder prägen einfühlsam mit dem fließenden Fluidum komponierte Szenen seine Filme. Besonders schön ist z.B. die Szene, in der die einfach hinreißende Studentin Rain ihren Professor Gabe in Husbands and Wives zu ihrem 21. Geburtstag vor verregnetem Fenster um einen Kuss bittet: Einen romantischeren Augenblick kann man sich doch gar nicht erträumen. Ich mein, es ist mein 21. Geburtstag, und wir stecken mitten in einem Gewitter, und die Lichter sind aus, und der Wind und der Regen umtosen die Skyline von New York. Das hat doch etwas Magisches. Ja, das hat es! Aber Gabe zögert noch, parodiert die Situation, wiegelt ab, und - wird dann aber einfach überwältigt von dem süßen Mädel: Gabe küsst Rain lange auf den Mund. Die Blitze und der Donner werden stärker. Hatte die Annäherung der Geschlechter womöglich atmosphärische Auswirkungen? Oder sollte das stärker werdende Gewitter bloß die Gefühlsintensivierung symbolisieren? Der Name Rain verweist dabei nicht nur auf Regen, sondern auch auf Rainer, den Vornamen des neoromantischen Dichters Rilke.

So wie Allen ein Freund der Hochhäuser und des Regens ist, hielt Nietzsche sich gerne im Gebirge oder am Meer auf. Das Meeresmotiv klingt bereits in Aufsätzen und Gedichten des Schülers an und durchzieht sein gesamtes Werk. In Fatum und Geschichte fühlt er sich mit seinen Ideen wie ein Seefahrer im Ozean: Aus der Mitte des unermeßlichen Ideenozeans sehnt man sich dann oft nach dem festen Lande zurück: wie oft überschlich mich nicht bei fruchtlosen Spekulationen die Sehnsucht zur Geschichte und Naturwissenschaft. Im Gegensatz zur filmästhetischen Metaphorik Allens ist das Meeresmotiv bei Nietzsche erkenntnismetaphorisch gemeint. Genau wie Woody findet auch Fritz halt vor philosophischen Höhenflügen am Anker der Natur. Und hält Allen die Gleichgültigkeit und Banalität des Universums für boshaft, kommt bei Nietzsche noch das Mitleid mit der Natur hinzu. In der Morgenröte schreibt er über das Schweigen der Natur am Meer: Aber ich bemitleide dich, Natur, weil du schweigen mußt, auch wenn es nur deine Bosheit ist, die dir die Zunge bindet: ja ich bemitleide dich um deiner Bosheit willen! Ein Naturphilosoph wie Einstein war da natürlich ganz anderer Meinung: Raffiniert ist die Natur, boshaft ist sie nicht, ließe er sich paraphrasieren. Man muss halt im Buch der Natur zu lesen verstehen. Aus einem metaphysischen Nihilismus heraus, seinen Lebensweg der Vervollkommnung in einem gleichgültig schweigenden Universum zu verfolgen, darum geht es Allen und Nietzsche. Filmkünstler und Lebensphilosoph eint darüber hinaus, das Bestreben zu unterhalten. Eine Verschönerung der Wissenschaft könnte womöglich sogar die Religion entbehrlich machen, welche bei den früheren Menschen die höchste Gattung von Unterhaltungskunst abgegeben hat, wie der Erkenntniskünstler in der Morgenröte weiter ausführt. Mit Sandy hätte sich Fritz sicher gut verstanden; denn beim Papst handele es sich ja nur um eine Figur aus dem Showgeschäft. Sind auch Kirche und Papst POP? Schon der altkluge 14jährige Schüler hatte die Zeilen formuliert:

Ein Spiegel ist das Leben.

In ihm sich zu erkennen,

Möcht' ich das erste nennen,

Wonach wir nur auch streben.

Philosophie, Kunst und Wissenschaft aus dem Leben heraus zu verstehen und zu gestalten; darum geht es Allen und Nietzsche. Grundieren zumeist Humor und Komik Allens Filmästhetik, bestimmen Musikalität und Stil die philosophische Rhetorik Nietzsches. Bevor ich mich etwas genauer mit ausgewählten Arbeiten der beiden beschäftigen werde, möchte ich vorab einige Zugänge zu den jeweils umfangreichen Werken der philosophisch-ästhetischen Kulturkritiker eröffnen. Für den wirklich an Nietzsche Interessierten, der sich ernsthaft in Leben, Werk und Wirkung dieses aristokratischen Radikalisten einarbeiten möchte, gibt es das von Ottmann herausgegebene Nietzsche Handbuch. Aufgrund einer alphabetischen Übersicht der Begriffe, Theorien und Metaphern ist es auch für Anfänger geeignet, die einen möglichst schnellen Einstieg suchen. Wem eher ein persönlicher Zugang liegt, nehme die Autobiographie Ecce Homo zur Hand. Persönlich gefärbt ist auch Salomés Nietzsche in seinen Werken; geht es ihr doch darum, den in seinen Werken verborgenen Entwicklungs- und Erkenntnisweg aufzuzeigen. Ergänzend dazu kann man Safranskis Biographie seines Denkens lesen. Nietzsches tragisches Leben wird von beiden Autoren gleichsam von der Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik erweitert zur Wiedergeburt der Philosophie aus dem Geiste seines eigenen Lebens. Als direkten Zugang zu seinem Werk empfehle ich die Morgenröte und die Fröhliche Wissenschaft. Ist der Ecce Homo bereits vom Beginn seiner Paralyse überschattet, bezeichnen die zuletzt genannten Bücher schon vom Titel her Nietzsches Aufbruchstimmung zur Entlarvung hehrer Philosophie und Wissenschaft.

Mehr noch als Nietzsches Poesie und Prosa ist natürlich Allens Filmkunst auf Unterhaltung angelegt. Gleichwohl sind z.B. die großartigen Filme Stardust Memories, Zelig und Shadows and Fog aufgrund ihrer reflexiv-essayistischen Struktur nicht so unvermittelt zugänglich wie etwa die Beziehungskomödien Annie Hall oder Hannah and Her Sisters. Zum persönlich gefärbten Einstieg ins Werk Allens eignet sich neben Radio Days auch Broadway Danny Rose; in dem es um die Berufserfahrungen der stand-up Comedians geht, zu denen Woody einmal selbst gehörte. Glücklicherweise sind unterdessen fast alle Filme Allens auf DVD erhältlich. Als seriöse Biographie des Lebens Woody Allens sei das Buch von Eric Lax genannt und als Werkschau Woodys Welten von Hans Gerhold. Auszüge aus seinen Werken enthält das schön gestaltete BilderLeseBuch, herausgegeben von Linda Sunshine. Und was Woody jeweils selbst zu seinen Filmen zu sagen hat, findet sich in den Interview-Bänden Stig Björkmans Woody über Allen sowie zeitlich ergänzend in Woody Allen im Gespräch mit Jean-Michel Frodon. Weitere Verweise können der Literaturliste entnommen werden.


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Ingo Tessmann 2007-04-15