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Einleitung

Woody Allen versteht es seit über 40 Jahren in meisterhafter Weise, den Frohsinn der Popkultur mit dem Hintersinn der nihilistischen Philosophie filmästhetisch zu verbinden. Die Spannweite seines künstlerischen Schaffens reicht dabei von der irrwitzigen Komödie What's New, Pussycat? bis hin zu der erschütternden Tragödie Match Point. Im Zuge der Befreiung von sexueller Unterdrückung und religiöser Bevormundung häuften sich in den swinging sixties die Lebenskrisen und Freitod-Versuche, weil eine neue Sinnstiftung durch freie Liebe, authentische Kunst oder gelebte Wissenschaft erst wieder gefunden werden musste. In der psychotherapeutischen Praxis verschob sich das Krankheitsbild folgerichtig von der Neurose zur Depression. Die Perspektive grenzenloser Gestaltungsmöglichkeiten in der Persönlichkeitsentwicklung erschöpfte das Selbst, wie es Ehrenberg ausdrückt. Im Gegensatz zur Liberalisierung der persönlichen Lebensverhältnisse auf dem Weg in die glückliche Gesellschaft hat sich der Kapitalismus nach Ziegler allerdings global zu einem Imperium der Schande entwickelt, in dem die 500 größten multinationalen Konzerne über 50% des Weltwirtschaftsproduktes erzeugen und somit faktisch die Weltpolitik bestimmen. Nur selten führten die Industriestaaten seit dem 19. Jahrhundert Kriege zur Durchsetzung der Menschenrechte, in der Regel ging es ihnen um die Sicherung der Rohstoffquellen und die Erschließung von Absatzmärkten. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist die Macht der Geldaristokratie ungebrochen und skrupellos geht sie über Leichen, handelt fahrlässig mit Waffen und schürt Bürgerkriege. Jede Kultur hat ihre Verbrechensformen. Werden im Kapitalismus Menschen der Karriere geopfert, sind in archaischen Kulturen noch immer Ehrenmorde üblich. Die Herrschaft des Patriarchats scheint ungebrochen, so dass Mohammed-Karrikaturen leicht zu Galgenhumor geraten können. Schon Sandy aus Stardust Memories hielt sein Überleben 1935 für reinen Zufall; denn wäre er als Jude nicht in New York, sondern in Berlin zur Welt gekommen, hätte man ihn zu einem Lampenschirm verarbeitet ...

Rassismus und Antisemitismus, Religionswahn und grausame Volksbräuche verbreiten sich mit der immer noch schnell wachsenden Bevölkerung in den unterentwickelten Ländern und durch die verstärkten Wanderungsbewegungen in die Industriestaaten nahezu überall auf der Erde. Um die Zivilisierung der Kulturen mit den friedlichen Mitteln des Humors als Ästhetik des Widerstands im Medienkapitalismus; darum geht es dem Filmkünstler Allen. Da sich die existentiellen Grundfragen des menschlichen Lebens in der analytischen Philosophie des 20. Jahrhunderts weitgehend verflüchtigt haben, nimmt es nicht wunder, dass er an die Philosophie und Literatur des 19. Jahrhunderts anknüpft. Schopenhauer, Nietzsche und Freud; Kierkegaard, Strindberg und Bergman sowie Dostojewskij, Tolstoi und Tschechow sind in wechselnder Besetzung in all seinen Werken präsent. Die folgende Maxime Nietzsches durchzieht sein Werk in wiederkehrenden Variationen: werde, der du bist, indem du dein Talent erkennst und gestaltest, die Möglichkeiten deines Lebensentwurfs ausschöpfst, der Gesetzgeber und Verwirklicher deines Selbst wirst und nicht bloß Idolen und Moden, Ideologien und Religionen nacheiferst! In der Figur des witzig-sympathischen, depressiv-neurotischen Lebenskünstlers geht es Allen um die Behauptung des winzig-bedeutungslosen Individuums angesichts endloser kosmischer Weite und übermächtiger medienkapitalistischer Verblödung. Schon bei Freud heißt es: Der Humor ist nicht resigniert, er ist trotzig. Er bedeutet nicht nur den Triumpf des Ichs, sondern auch den des Lustprinzips, das sich hier gegen die Ungunst der realen Verhältnisse zu behaupten vermag. Ganz ähnlich wie seinerzeit der kauzig-launige Diogenes immer wieder die hehren Ideale Platos provokativ demontierte, vermag es auch Allen, dem hohlen Zeitgeist Mal um Mal den Narren-Spiegel vorzuhalten. In seiner Kritik der zynischen Vernunft spannt Sloterdijk den Bogen vom antiken Kynismus des Diogenes zum zeitgenössischen Zynismus und sieht in Nietzsche einen Neo-Kyniker, der mit Spottlust jeglichen Idealismus der Lebenswirklichkeit aussetzte.

Nietzsche schreibt 1888 unter dem Titel Der Wille zur Macht in sein Arbeitsheft: Was ich erzähle ist die Geschichte der nächsten zwei Jahrhunderte. Ich beschreibe, was kommt, was nicht mehr anders kommen kann: Die Heraufkunft des Nihilismus. Die Dekadenz und der Kitsch des fin de siecle um 1900 entsprechen der Geldgier und Ruhmsucht im Medienkapitalismus um 2000. Vier Philosopheme durchziehen in vielerlei Abwandlugen Nietzsches Werk: Der Wille zur Macht, die ewige Wiederkunft des Gleichen, der dionysische Rausch und der Übermensch. Dabei deprimiert Allen an der Perspektive einer ewigen Wiederkehr des Gleichen, womöglich ewig den schwachsinnigen Fersehshows ausgesetzt sein zu müssen. Nietzsche dagegen sah seinen Wiederkunftsgedanken durch die Existenz seiner Mutter und Schwester in Frage gestellt. Ein kleiner Trost ist es wenigstens, dass langfristig in evolutionärer Perspektive auch kleinste Abweichungen vom Gleichen zu überraschenden Innovationen führen können. Im Anschluss an Darwin lässt sich der genial einfache evolutionäre Optimierungsalgorithmus stichwortartig zusammenfassen: Stoffwechsel, Selbstreproduktion und Mutation haben notwendig Selektion zur Folge. Und ähnlich nüchtern neutral kann auch Nietzsches aristokratischer Radikalismus charakterisiert werden: Der Wille zur Macht, die ewige Wiederkunft des Gleichen und der dionysische Rausch werden auf den Übermenschen hinauslaufen. Ebenso wie alle anderen Lebensformen ist auch der gegenwärtige Mensch nur eine Übergangsform in der Evolution des Lebens und der Naturgeschichte des Universums.

Hundert Jahre nach Nietzsche ist seine mit Spottlust und schwarzem Humor erzählte Geschichte Europas vielfach variiert und erweitert worden. Seine in Essays, Aphorismen und Philosophemen rhetorisch beredt vorgetragene Kulturkritik und Entlarvungspsychologie ist nicht nur in die Literatur und Philosophie eingegangen, sondern auch in der Musik und Filmkunst des 20. Jahrhunderts verarbeitet worden. Die Rezeption Nietzsches begann durch den dänischen Literaturwissenschaftler Georg Brandes, der 1888 in Kopenhagen eine Vorlesung über ihn hielt und 1890 in der Deutschen Rundschau einen Aufsatz veröffentlichte unter dem Titel: Friedrich Nietzsche. Eine Abhandlung über aristokratischen Radikalismus. Eine erste zusammenfassende Würdigung seiner Philosophie erfuhr Nietzsche in dem 1894 publizierten Buch der russischen Schriftstellerin Lou Andreas-Salomé: Nietzsche in seinen Werken. Rund 100 Jahre später entwickelte der amerikanische Psychiater Irvin Yalom in seinem Roman Und Nietzsche weinte aus der Entlarvungspsychologie Nietzsches die Redekur der Psychoanalyse. Hintergrund der fiktiven Romanhandlung war die Verbindung, die Salomé zwischen Nietzsche und Freud hergestellt hatte. Die Schriftstellerin war nicht nur mit den beiden Denkern befreundet, sondern praktizierte später auch als Psychoanalytikerin. Der Zusammenhang von Nihilismus und Psychoanalyse durchzieht ebenso die Werke Allens; wobei sich der Filmkünstler selbst einer nahezu lebensbegleitenden Dauerbehandlung unterzog.

Die erste musikalische Interpretation eines Werkes Nietzsches unternahm Richard Strauss 1895 in seiner Tondichtung für großes Orchester: Also sprach Zarathustra. Die science fiction - Perspektive des Zarathustra mit seiner Vision vom Übermenschen griff 1968 Stanley Kubrick auf in seinem grandiosen Film 2001: a space odyssey. Straussens Naturmotiv aus der Einleitung zur aufgehenden Sonne wird effektvoll den nachempfundenen Filmszenen unterlegt. Ebenfalls 1895 begann Gustav Mahler mit der Komposition seiner 3. Symphonie, der ,,Schöpfungssymphonie``, in der er auch Nietzsches Mitternachstlied aus dem Zarathustra vertonte. Auszüge aus der 3. und 5. Symphonie Mahlers verwendete dann wieder Visconti 1970 in der brillianten Verfilmung der Novelle Der Tod in Venedig Thomas Manns. Sloterdijk stellte den Denker Nietzsche 1986 auf die Bühne, indem er ihn zugleich als Philosoph, Künstler und Wissenschaftler würdigte.

Nietzsches Rhetorik aphoristischen Denkens war auf Wirkung aus. Sie war subtil und grobschlächtig zugleich - und leider auch nicht vor Missbrauch, Unverstand und Ideologisierung gefeit. Breitenwirkung erlangte Zarathustra, indem er neben der Bibel und dem Faust den Soldaten des ersten großen Krieges mit an die Front gegeben wurde. Diesen Missbrauch hat Hesse 1919 auszugleichen versucht, indem er mit Zarathustras Wiederkehr den persönlichkeitsbildenden Aspekt des werde, der du bist hervorhob. Den Nazis dagegen biederte sich Nietzsches Schwester Elisabeth an, die im Nietzsche-Archiv zu Weimar die Nachlassvermarktung ihres Bruders übernommen hatte. Ähnlich wie Winifred Wagner paktierte auch Elisabeth Nietzsche mit Hitler. Diese widerwärtigen Machenschaften der ruhmgeilen Weiber kann man aber schwerlich dem begnadeten Musiker Wagner bzw. dem kühnen Denker Nietzsche vorwerfen; denn beide hatten nichts mit den pöbelhaften Germano-Faschisten zu schaffen. Eine künstlerisch angemessene Würdigung erfuhr Nietzsche dagegen im Dr. Faustus Thomas Manns, der ihn mit dem Untergang des 3. Reiches in die kulturgeschichtliche Entwicklung des Deutschtums der letzten 400 Jahre verwob. Nach dem Niedergang des Sowjet-Imperiums 1989 befinden wir uns gegenwärtig wieder in einer globalen Umbruchsituation; diesmal soll die Welt aber nicht am deutschen, sondern am amerikanischen Wesen genesen. So nimmt es nicht wunder, dass mit dem Erstarken des Islams vermehrt anti-amerikanische und anti-islamische Literatur erscheint, die sich auf die Kulturkritik Nietzsches bezieht. Noch Match Point Allens und die Möglichkeit einer Insel Houellebeqcs thematisieren und gestalten den Immoralismus im Fortgang des Nihilismus. Houellebecqs Daniel wundert sich als eine Art Zarathustra der Mittelschicht darüber, dass seine Artgenossen immer noch nicht begriffen hätten, dass die Liebe tot sei. Und nachdem er im Büro über eine Aktion im Stil DEINE FRAU ERWARTET DICH nachgedacht hatte, ging er wie Zarathustra, der seinen Untergang begann, in Richtung Kantine. Ihren Untergang hatte auch Robin aus Celebrity vor Augen, als sie beim Oralsex an die Kreuzigung denken musste. Lee dagegen konnte im selben Film kaum das Glücksgefühl erwarten, dass ihm ein gazellenhaft-langbeiniges, großäugig-stupsnasiges Supermodel versprach: Ich bin polymorph-pervers. Das ist dionysisch. Ich habe es von einem Griechen gelernt. Mit Dionysos gegen den Gekreuzigten! hatte Nietzsche seinen Ecce Homo unterschrieben.

Dem Sinn der Philosopheme Nietzsches, die längst ein Eigenleben in der Literatur erlangt haben, wird in diesem Essay zur Erheiterung der Philosophie nachzugehen sein. Nietzsche wird von Allen in seinen Filmen aber nicht nur wiederholt wörtlich zitiert; vielmehr gestaltet er mit dem Existentialismus und Nihilismus des 19. Jahrhunderts seine Kunst in grundsätzlicher Weise. Eine philosophisch orientierte Interpretation seiner Arbeiten ist damit naheliegend; bisher aber selten gewagt worden. Hösles Versuch über das Komische ist in den Details anregend zu lesen; in der Grundtendenz aber wenig plausibel. Der Agnostiker Allen befindet sich ebenso wenig auf der Suche nach einem ,,Gott``, wie es dem Atheisten Nietzsche nachgesagt werden kann. In ihren Werken nach Argumenten zugunsten der Existenz eines ,,Gottes`` zu fahnden, hat deshalb bloß Unterhaltungswert und kann den Hirngespinsten der Theologen und dem Religionswahn der Pfaffen überlassen bleiben. Für Sandy aus Stardust Memories ist der Papst eh nur eine Figur aus dem Showbusiness. Und Woody antwortet auf Björkmans Frage nach dem Glauben und ob er so wie bei einem Durchschnittsmenschen sei: Schlimmer! Ich denke, dass das Universum bestenfalls teilnahmslos ist. Bestenfalls! Hannah Arendt hat von der Banalität des Bösen gesprochen. Auch das Universum ist banal. Und weil es banal ist, ist es böse. Es ist nicht diabolisch böse, bloß böse in seiner Banalität. Seine Gleichgültigkeit ist böse. Und ganz im Sinne eines metaphysischen Nihilismus' stellt Allen abschießend fest: Wir schaffen uns eine Welt, die in Wirklichkeit überhaupt nichts bedeutet, bei Licht besehen. Sie hat keinen Sinn. Dennoch ist es wichtig, dass wir irgend einen Sinn schaffen, denn es gibt keinen erkennbaren Sinn.

Die Philosophin Hannah Arendt war 1961 für den New Yorker als Berichterstatterin über den Eichmann-Prozess in Jerusalem und veröffentlichte ihre Reportagen 1963 in dem Buch: Eichmann in Jerusalem. A Report on the Banality of Evil. Darin führte sie aus, dass Eichmann keine festen ideologischen Überzeugungen oder besonders niederträchtige Beweggründe gehabt habe, sondern aus grenzenloser Gedankenlosigkeit sich niemals ausgemalt habe, was er wirklich angerichtet hatte. Da auch Allen für den New Yorker schrieb, wird ihm die Kontroverse um die Banalität des Bösen in Verbindung mit dem Holocaust beim Interview lebhaft in Erinnerung gewesen sein. Und ein depressiver Neurotiker wie Sandy fühlt sich schon in seiner Lebenswelt wie in einem Konzentrationslager, wurde er doch bereits mit der Geburt zum Tode verurteilt ...

In einem bestenfalls teilnahmslosen und in seiner Gleichgültigkeit bösen Universum sein kurzes und belangloses Leben hier auf der Erde zu gestalten und ihm Sinn zu verleihen: auch darum geht es dem Filmkünstler Allen. Dem schweigenden, dunklen und kalten Weltall mit beredtem Esprit, nuancenreich ausgeleuchteten Szenerien und wärmendem Gefühl immer wieder ein kleines, sinnstiftendes Filmgeschehen entgegenzusetzen. Leicht macht er es sich dabei allerdings nicht. So fragt Allan in Play it again, Sam beim Besuch einer Kunsthalle ein süßes Mädel, das versunken vor einem abstrakt-expressionistischen Gemälde steht, nach der Aussage des Bildes: Es bestätigt die Negativität des Universums. Die erschreckende Sinnlosigkeit menschlicher Existenz. Endloses Nichts. Die Ausweglosigkeit des Menschen, der gezwungen ist, im Käfig gottloser Ewigkeit zu vegetieren. Eine kleine zitternde Flamme im Chaos einer sturmdurchtobten Leere; wo es nichts gibt außer Schmutz, Schrecken und Erniedrigung in Form einer sinnlosen bleichen Zwangsjacke in einem schwarzen, absurden Kosmos.- Da half nur noch Selbstverwirklichung, und sei es in einem dionysischen Schaffensrausch.

Seinem Leben durch eigene Produktivität Sinn zu geben und Ausdruck zu verleihen, war auch das Bestreben Nietzsches. Und die flüchtige Verlorenheit der Menschheit hier auf der Erde, hat er ähnlich sinnlos eingeschätzt: In irgend einem abgelegenen Winkel des in zahllosen Sonnensystemen flimmernd ausgegossenen Weltalls gab es einmal ein Gestirn, auf dem kluge Thiere das Erkennen erfanden. Es war die hochmüthigste und verlogenste Minute der Weltgeschichte: aber doch nur eine Minute. Nach wenigen Atemzügen der Natur erstarrte das Gestirn, und die klugen Thiere mussten sterben. Für eine solche von Nietzsche 1873 formulierte nihilistische Weltsicht, wurden noch im 17. Jahrhundert Gelehrte wie Giordano Bruno auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Der Christo-Faschismus war bis zum Anbruch der industriellen Revolution so weit entmachtet worden, dass Nietzsche für das 20. Jahrhundert die Heraufkunft des Nihilismus prophezeien konnte. Die Sklavenmoral des Pöbels bzw. der Viel-zu-Vielen hatte er richtig eingeschätzt. Mit der Entmachtung des Christentums erstarkten Nationalismus und Rassismus in Deutschtum und Antisemitismus, die den Boden bereiteten für die Ernte des Germano-Faschismus. Im Zuge der Zivilisierung der Deutschen durch den american way of life und der nunmehr nach dem Zerfall der Sowjetunion weltumspannenden Vorherrschaft des US-Kapitalismus, ist die Popkultur als neue Macht hervorgetreten. Steenblock versteht sie sogar als erste nachchristliche Universalkultur.

Ähnlich wie seinerzeit nach dem Sieg der Alliierten über das deutsche Kaiserreich, die Donau-Monarchie und das osmanische Reich, erstarkte mit dem Ende des kalten Krieges zwischen den Supermächten USA und UdSSR erneut eine Heilslehre aus der Herdenmoral der Zukurzgekommenen und in ihrem Nationalstolz Gekränkten. Dabei hat der um sich greifende Islamo-Faschismus eine ähnliche, wenngleich stark verzögerte Entwicklungsgeschichte hinter sich wie ehemals der Germano-Faschismus. Mein Kampf und der Dschihad korrespondieren in unheimlicher Weise. Als Folge des Versailler Vertrages wurden in Deutschland die Nazis zur stärksten politischen Kraft, in Ägypten fanden sich die Islamisten zur Moslembruderschaft zusammen und in China gründeten die Kommunisten die KPCh. Der deutsche Kaiser schickte während des 1. Weltkrieges nicht nur Lenin nach Russland, sondern versuchte auch die Moslems zum Kampf gegen die britische Kolonialmacht zu gewinnen. Und siebzig Jahre später unterstützten die USA in Afghanistan die Taliban gegen die sowjetischen Besatzer. Das antikommunistische Spiel mit dem islamistischen Feuer blieb nicht folgenlos im Machtvakuum des zerfallenden Sowjet-Imperiums. Und so ist als weitere Folge in der Heraufkunft des Nihilismus, im 21. Jahrhundert ein Kampf zwischen kapitalistischer Popkultur und islamistischer Heilslehre zu befürchten. Der im Religionswahn befangene Mob lässt sich wieder leicht aufwiegeln gegen die dekadenten ,,Ungläubigen`` und die ,,Weltverschwörer`` des internationalen Judentums.

Wieder einmal geht es um die weltliche Behauptung der Lebensfreude gegenüber den moralischen Rigoristen einer Heilslehre. Die Kritik der Kyniker in der widerständigen Verkörperung des Diogenes und Epikurs Philosophie der Freude im Kontext der atomistischen Kosmologie Demokrits gilt es zu erneuern bzw. wiederzubeleben. Die zersetzende Kritik Nietzsches an der verlogenen Moral der Gehorsamsreligionen sind in Verbindung mit der anarchischen Komik Allens zu einer heiter-subversiven Philosophie der Popkultur zu verbandeln. Wie schon die Swing-Kids im Hamburg der NS-Zeit durch Jazzmusik und Tanzvergnügen die Sklavenmoral der blonden Bestien unterliefen, erreichten es auch die Beatles im Hamburg der Nachkriegs-Restauration, die prüde christliche Sexualmoral und Lustfeindlichkeit der Spießbürger und Proleten zu untergraben. Wer allerdings geglaubt hatte, die westliche Jugendbewegung der 68er habe die vorherrschende Herdenmoral der abrahamitischen Religionen dauerhaft überwunden, muss sich gegenwärtig leider eingestehen, dass unterdessen eine orientalische Jugendbewegung sich anschickt, den mittelalterlichen Gottesstaat wieder ins Werk zu bomben. Welch eine fatale Ironie der Geschichte! Wie schon das anti-zivilisatorische Jungvolk der Wandervögel in der Hitlerjugend aufgegangen war, so rekrutieren die Gotteskrieger ihre Kämpfer aus den anti-zivilisatorischen Koranschulen. Wird es wiederum die Popkultur sein, die mit Musik, Filmen und Fernsehen der letzten unaufgeklärten Heilslehre den Wind aus den Segeln nehmen könnte? Schauen wir zu, was wir von Nietzsche und Allen für die weitere Zivilisierung der Kulturen lernen können.

Ähnlich wie in Nietzsches exemplarischer Existenz die Selbsterfahrung zum Okular der Epochendiagnose wurde, blühte Allens Erkenntniskunst hundert Jahre später in New York auf, dem Athen der Spätmoderne. In seiner Existenz als Filmkünstler gestaltet er gleichsam zur Wendezeit in der Heraufkunft des Nihilismus aus den Alltagsproblemen heraus die Lebensperspektiven in einem nicht nur teilnahmslosen, sondern auch expandierenden Universum. Das Problem beschäftigt schon den Grundschüler Alvy aus Annie Hall, dessen Mutter Mühe hat nachzuweisen, dass deshalb noch lange nicht Brooklyn expandiere ... Jedenfalls nicht merklich, könnte man als Physiker ergänzen. Wie Nietzsche und Allen aufwuchsen, wird im 2. Kapitel behandelt. Beide waren schon als Kinder Sonderlinge, die eigensinnig ihren Weg zu gehen trachteten. Prägend dabei wurden für beide die Frauen; wenngleich in höchst unterschiedlicher Weise. Die Entwicklung Nietzsches von der Geburt der Tragödie bis zum Ecce Homo ist Thema des 3. Kapitels. Die Leibgebundenheit des Denkens, die Musik und der Tanz in ihren Auswirkungen auf das Kunstschaffen und Glückserleben; kurz der dionysische Rausch im Gegensatz zur apollinischen Nüchternheit durchziehen sein gesamtes Werk. Dabei war Nietzsche vor allem ein brillianter Rhetoriker, der mit seinen Essays, Aphorismen und Philosophemen eine weitreichende Wirkung erzielte. Ein Millionenpublikum erreichten auch die Filme Allens, die von Komik, Metaphysik und Pubertätserotik geprägt sind, wie man frei nach Thomas Mann sagen könnte. In Kapitel 4 wird der Weg des licht- und menschenscheuen Allen vom Zauberer, Witzereißer und Klarinettenspieler über den Komiker, Schriftsteller und Dramaturgen bis hin zum Schauspieler, Drehbuchautoren und Regisseur vollendeter Filmkunst verfolgt. Die jeweilige Kulturkritik der humoristisch-metaphysischen Kunst Allens und der fröhlichen Wissenschaft Nietzsches werden in Kapitel 5 zusammengeführt. Dem Bogen von der Geburt der Tragödie bis zum Match Point, wird der Gang vom antiken Kynismus zur Kritik der zynischen Vernunft folgen. Angesichts des entsetzlich humorlosen islamofaschistischen Terrorismus' sollte eine subversiv-heitere Philosophie zur Grundierung der Popkultur im Weltmaßstab taugen. Im 6. Kapitel geht es abschließend um die Perspektiven einer nihilistischen Zivilisierung der Kulturen auf dem Weg zur Weltgesellschaft.


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Ingo Tessmann 2007-04-15