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Postmoderne Beliebigkeit

Postmodernisten haben aus der Not der Moderne die Tugend der Orientierungslosigkeit gemacht, indem sie die hehren klassischen Prinzipien als bloße Setzungen ,,relativierten`` und ,,dekonstruierten``. Auf den damit verbundenen Verfall der wissenschaftlichen Standards in den Geisteswissenschaften hat der Physiker Alan Sokal durch einen Aufsehen erregenden Scherz aufmerksam gemacht. Mit dem Kollgen Bricmon hat er darüber ein Buch geschrieben: Intellectual Impostures. Darin heißt es: The book grew out of the now-famous hoax in which one of us published, in the American cultural-studies journal Social Text, a parody article crammed with nonsensical, but unfortunately authentic, quotations about physics and mathematics by prominent French and American intellectuals. Die als Scherz gedachte Parodie einer geisteswissenschaftlichen Arbeit wurde ernsthaft eingereicht und anstandslos akzeptiert, obwohl schon der Titel schwerlich ernst gemeint sein konnte: Transgressing the Boundaries : Towards a Transformative Hermeneutics of Quantum Gravity. Im Anschluß an die QG formuliert Sokal seine (scheinbare) Absicht wie folgt: In quantum gravity, as we shall see, the space-time manifold ceases to exist as an objective physical reality; geometry becomes relational and contextual; and the foundational conceptual categories of prior science - among them, existence itself - become problematized and relativized. This conceptual revolution, I will argue, has profound implications for the content of a future postmodern and liberatory science. Der Inhalt seiner Arbeit besteht dann aus einem ,,plausibel`` angeordneten Mix von Zitaten und Interpretationen verbreiteter geistes- und naturwissenschaftlicher Arbeiten mit folgender Gliederung:

Eine von Grundprinzipien und methodischen Standards befreite Wissenschaft ist keine Wissenschaft mehr, sondern bloß noch (schlechte) Literatur. Im strukturalistischen Denken der Postmodernen ist alles irgendwie ,,Text`` und somit ist es auch egal, um was für Texte es sich handelt. D.h. geistes- und naturwissenschaftliche Texte können nahezu beliebig kombiniert werden. Die reale Basis der menschlichen Existenz und des natürlichen Seins verflüchtet sich in der geisteswissenschaftlichen Textmetapher ebenso wie im naturwissenschaftlichen Informationskonzept. Um einem illusionären Idealismus zu entgehen, ist im Auge zu behalten, daß jeglicher Informationsfluß einergiebasiert ist und noch das letzte Quantenbit mindestens ein Wirkungsquantum voraussetzt. Wer denkt schon daran, daß die angeblich so immateriellen Texte und Informationen als Ergebnis unserer Hirntätigkeit auf jeweils über 1035 Wirkungsquanten basieren? Im Anschluß an v. Weizsäcker formuliert Holger Lyre in seiner Quantentheorie der Information zusammenfassend: Ure als Information sind der Baustoff sowohl unserer Welt als auch unseres Wissens von der Welt. Die Ur-Theorie erlaubt daher die These der direkten Identifikation der theoretischen Quantisierungsstufen als Stufen einer Kosmogonie. Eingedenk der Tatsache, daß mit jedem Ur ein Energiebeitrag von 10-32 eV verbunden ist, klingt diese phantastisch anmutende These allerdings wieder recht harmlos. Wissen und Materie sind gleichermaßen energiebasiert und nur mehr oder weniger verdichtet. Im Gegensatz zu den Idealisten verkennen die Realisten aber nicht die energetische Basis allen Seins. Der Energie gleichsam vorausgehend wäre nur die potentielle Information, nicht aber die aktuelle Information als Wissen in Aktion. Um Mißverständnissen vorzubeugen, plädiert der Physiker John Bell unter dem Titel Against Measurement 1990 in Phys. World dafür, einige Worte aus den physikalischen Theorien zu verbannen: Here are some words which, how ever legitimate and necessary in application, have no place in a formulation with any pretension to physical precision: system, apparatus, environment, microscopic, macroscopic, reversible, irreversible, observable, information, measurement. Sollte der Informationsbegriff in der Physik ebenso überflüssig sein wie der Mengenbegriff in der Mathematik; nützlich in den Anwendungen, aber entbehrlich in den Grundlagen?

Zu den Grundlagentheorien der Physik gehört die QG, auf die auch Sokal mit seinem Scherz Bezug genommen hatte. Da sie ebenso in der physikalischen Kosmologie grundlegend ist und kaum ein Geisteswissenschaftler sie kennen dürfte, möchte ich kurz bei ihr verweilen. Lee Smolin hat in seiner lesenswerten populärwissenschaftlichen Einführung Three Roads to Quantum Gravity beschrieben, und zwar über die Thermodynamik schwarzer Löcher, die Stringtheorie und die Schleifen-Quantengravitation. Ist die string theory aus den Schwierigkeiten der QFT beim Verständnis der Kernkräfte hervorgegangen, entstammt die loop quantum gravity dem Versuch, die QM im Rahmen der ART zu verstehen. Rund 100 Jahre nach Einsteins berühmter Trilogie zur Klärung der Ungereimtheiten in den physikalischen Theorien seiner Zeit, ist die Situation heute wieder ganz ähnlich. Dem damaligen Bemühen, die Existenz der Atome nachzuweisen und ihre Stabilität zu erklären, entspricht das heutige Ringen darum, die Existenz schwarzer Löcher nachzuweisen und aus ihrer Dynamik das Schicksal des Universums zu erahnen. Aus der Thermodynamk der Brownschen Bewegung zum Nachweis der Atome ist die Thermodynamik schwarzer Löcher geworden, für die Entropie und Wärmestrahlung nachgewiesen wurden. Aus dem Wechselwirkungsbild des Austausches von Bosonen zwischen Fermionen über die Kopplung von Eich- und Materiefeld in der QFT des Standard-Modells ist die supersymmetrische Wechselwirkung von Saiten (strings) hervorgegangen. Die Schwingungszustände geschlossener Strings liefern dabei auch noch die Gravitonen als Quanten des Gravitationsfeldes. Aber erst mit der loop quantum gravity (LQG) wird wieder das Einsteinsche Reflexionsniveau der ART nach weitestgehender Koordinatenunabhängigkeit erreicht. Mathematiker nennen das auch Invarianz unter Diffeomorphismen. In der Stringtheorie ist die Raumzeit bloß ein fixer Hintergrund, ein passives Gefäß, vor dem oder in dem die wechselwirkenden Strings ihre Weltflächen gestalten. In der LQG wird die background independence der ART ernst genommen und die damit verbundene Dynamisierung der Raumzeit mit ihrer Quantisierung verbunden.

Lee Smolin hat kürzlich in einem Übersichtsartikel zum Forschungsstand unter der Frage: How far are we from the quantum theory of gravity? zwei Postulate der LQG formuliert:

1.
The quantum theory of gravity is the quantization of general relativity, or some extension of it, involving matter fields, such as supergravity.
2.
The quantization must be done in a manner that preserves the bachground independence of classical general relativity, and hence exactly realizes diffeomorphism invariance.

Als Hauptergebnis der LQG gilt ihm: The states of the theory are known precisly. The Hilbert space Hdiffeo of spacially diffeomorphism invariant states of general relativity in 3+1 dimensions has an orthonormal basis, whose elements are in one to one correspondence with the diffeomorphism equivalence classes of embeddings of certain labeled graphs, called spin networks. Aus der geometrischen Struktur der spin networks auf dem Planck-Niveau folgt auch die von Beckenstein und Hawking semiklassisch ermittelte Proportionalität zwischen der Entropie und der Horizontfläche eines schwarzen Loches. So wie die thermodynamische Analyse der Brwonschen Bewegung auf die Existenz der Atome schließen ließ, steht die Entropie schwarzer Löcher im Einklang mit der Quantisierung des Raumes durch die spin networks. In Analogie zum quantisierten Magnetfluß in Supraleitern kann im Rahmen der LQG der durch die spin networks quantisierte ,,Raumfluß`` verstanden werden. Die ,,Flußströmung`` durch eine Fläche im Raum wird dabei mittels eines Linienintegrals über eine geschlossene Kurve bestimmt. Daher der Name Schleifen-QG. Da mit jeder Plancklänge von 10-33 cm ein ,,Raumbit`` verbunden werden kann, steckt in jedem cm3 die gigantische Information von 1099 bit! Der Flächenanteil von 1066 bit läßt den Informationsfluß im Raum beim ,,Planck-Computing`` weit über die schon phantastischen Möglichkeiten des ,,Quantum-Computing`` hinausgehen. Ist vielleicht sogar das ganze Universum ein gigantischer Computer, der mit den spin networks seines Raumes rechnet so wie wir mit den Nerven-Netzwerken unseres Gehirns denken?

Bevor ich weiter in die Science Fiction abgleite, soll noch erwähnt werden, daß die LQG natürlich falsch sein kann; denn physikalische Theorien sind nicht nur ,,Texte``. So könnten die experimentell nachweisbaren Folgewirkungen der Effekte auf dem Planck-Niveau den theoretischen Voraussagen widersprechen oder der noch ausstehende Nachweis logischer Verträglichkeit mit den Vorgängertheorien im Grenzfall kleiner Energien mißlingen. Was sollten logische Analyse und experimentelle Prüfung mit einer Hermeneutik zu tun haben? Das hätten sich die Gutachter von Social Text fragen sollen. Aber wissenschaftlichen Standards fühlten sie sich offenbar nicht mehr verpflichtet. Sokal und Bricmont heben im Epilog ihres Buches über intellektuelle Hochstapelei folgende Kriterien für einen redlichen Dialog zwischen den beiden Kulturen hervor:

1.
It's a good idea to know what one is talking about.
2.
Not all that is obscure is necessarily profound.
3.
Science ist not a `text'.
4.
Don't ape the natural sciences.
5.
Be wary of argument from authority.
6.
Specific scepticism should not be confused with radical scepticism.
7.
Ambiguity as subterfuge.

Eigentlich Selbstverständlichkeiten seriöser wissenschaftlicher Arbeit; zu wissen, wovon man redet; an nichts zu glauben, nur weil es nicht widerlegt werden kann; Wissenschaft nicht bloß als Text, sondern primär als Handeln aufzufassen; die Naturwissenschaften nicht einfach nachzuahmen; keinen Autoritäten zu folgen, sondern die jeweiligen Argumente zu prüfen; nicht alles auf einmal zu kritisieren und nicht mit Mehrdeutigkeiten zu täuschen versuchen. Darüber hinaus gehende Standards wissenschaftlicher Redlichkeit hat der kritische Rationalist Hans Joachim Niemann unter dem Titel Die Krise in der Erkenntnistheorie - Sokal, Bricmont und die wissenschaftlichen Standards in der Philosophie 1999 in der Zeitschrift CONCEPTUS veröffentlicht. Inwieweit sich der wissenschaftliche Anspruch einer methodischen Philosophie mit der Sehnsuchtskosmogonie eines literarischen Geistes verbinden lassen mag, wird im nächsten Kapitel behandelt.


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Ingo Tessmann
6/9/2003