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Die beiden Kulturen

Nachdem ich ein Stück weit der physikalischen Intuition und Theorie Einsteins sowie der literarischen Phantasie und Komposition Manns gefolgt bin, ist es an der Zeit, einige Folgerungen aus den Gemeinsamkeiten in den Erkenntnis-Kulturen von Kunst und Wissenschaft für eine Vereinheitlichung der beiden Kulturen zu wagen. Mannsche Kompositionskunst und Einsteinsche Invariantentheorie haben sich als einschränkende Prinzipien der literarischen Phantasie bzw. physikalischen Intuition erwiesen. Neben dieser inneren Vollkommenheit des Kunst- bzw. Wissenschaftswerkes kommt es aber auch auf ihre äußere Bewährung an. Das im Roman kunstvoll komponierte Menschheitsgeschehen hat sich in der Sprach- und Literaturwissenschaft, in der Kritik und beim Publikum zu bewähren. Und das in der Theorie mathematisch strukturierte Naturgeschehen hat sich in der scientific community, im Experiment und in der technischen Anwendung zu bewähren. Wie weit reichen diese Analogien zwischen Literatur und Wissenschaft? Zunächst fällt auf, daß es in Deutschland keine Wissenschaftskritik gibt, die den Namen verdient. Der Wissenschaftshistoriker Ernst Peter Fischer weist in seiner Einstein-Biographie mit Recht darauf hin, daß der Wissenschaftskritiker seinen Gegenstand in der Regel weder kennt noch liebt. Der Großkritiker Reich-Ranicki sieht die Literatur gleichsam als seine Heimat an, ein ,,Wissenschaftskritiker`` dagegen verdammt die Naturwissenschaft zumeist in Bausch und Bogen. Aufgrund der mangelnden Begeisterung für die Naturwissenschaften fehlt es auch an historisch-kritischen Darstellungen, die einem Geisteswissenschaftler den Zugang zu den Naturwissenschaften erleichtern würden. Ernst Machs Mechanik in ihrer Entwicklung und Einstein, Infelds Evolution der Physik gehören zu den seltenen Ausnahmen. Die technische Anwendung wissenschaftlichen Wissens gleicht dem Erfolg der Literatur beim Publikum. Massenverbreitung finden dabei nur die einfach zu bedienenden Geräte bzw. leicht lesbaren Bücher, wenn sie zudem auch noch Unterhaltung und Kurzweil versprechen. Wen interessiert schon das Funktionieren des GPS? Oder wer liest die Romane Thomas Manns schon mehrfach, um all ihre Sinnebenen und ihren Beziehungsreichtum erfassen zu können?

Die Bewährung im Experiment ist der entscheidende Unterschied zwischen der literarischen und naturwissenschaftlichen Kultur. Im Experiment zeigt sich die Kontingenz im Wirken der Natur ebenso wie der Widerfahrnischarakter im menschlichen Handeln. Die Numerik in den reproduzierten Meßreihen der technisch überprüften Experimentieranordnungen ist (fast) so schlagend wie die Logik des mathematischen Beweises, der die Prüfung durch die Fachkollegen besteht. Beim physischen Experimentieren wie beim formalen Beweisen erfährt der Mensch neben den Glücksgefühlen und dem Rauscherleben beim Durchbruch zu den jeweiligen Problemlösungen auch Ehrfurcht und Bescheidenheit vor der überpersönlichen Macht der physischen Natur und der Strenge der mathematischen Struktur. D.h. nicht nur im Kunst-, sondern auch im Wissen-Schaffen bilden sich zugleich Persönlichkeiten und Fertigkeiten aus. Seiner Einstein-Biographie stellt Fischer folgenden Satz Lise Meitners voran (eine der seltenen Frauen unter den Physikern): Die Wissenschaft erzieht den Menschen zum wunschlosen Streben nach Wahrheit und zur Objektivität, sie lehrt Menschen, Tatsachen anzuerkennen, sich wundern und bewundern zu können, gar nicht zu reden von der tiefen Freude und Ehrfurcht, die die Gesetzmäßigkeit des Naturgeschehens dem wahren Wissenschaftler schenkt. Auch die Naturwissenschaften tragen zur Persönlichkeitsbildung bei und nicht nur zur Ausbildung von Fertigkeiten. Eine Einsicht, die in Deutschland allerdings noch der Förderung bedarf, worauf Ernst Peter Fischer unermüdlich aufmerksam macht. Ich kann ihm nur zustimmen, wenn er darauf hinweist, daß von ihren geistigen Genußqualitäten her, Mathematik und Naturwissenschaften ebenso zur Bildung gehören wie Musik und Literatur. Die Beispiele Einsteinscher Theorien und Mannscher Romane mögen die These hinreichend belegt haben. In seinem Vortrag über Parallelen in Wissenschaft und Kunst führt Fischer weiter aus: Es ist ein erstaunlicher und nach wie vor unverstandener Vorgang, der sich um 1900 in der Kultur Europas vollzieht. Sowohl die Naturwissenschaften als auch die Kunst verlieren ihren Gegenstand, indem sie ihn durchschauen und hinter diesem neuen Fenster neue Formen finden. Nicht nur die Grundlagentheorien der Naturwissenschaften werden von der Geometrisierung und Quantisierung durchzogen, sondern auch die Avantgarde der bildenden Künste und der modernen Musik. Zeitgleich zur Dramatisierung des Menschlichen durch Shakespeare formalisierten Galilei und Kepler das Natürliche. Die Kunst selbst ist Natur, heißt es im Wintermärchen und des Menschen Natur ist die Wissenschaft, ergänzt Fischer. Gegenwärtig deutet sich ein erneuter Durchbruch in Kunst und Wissenschaft an wie in der noch jungen Neuzeit um 1600 und auf der Höhe der industriellen Revolution um 1900. In der Medientechnik und Computer-Kunst wachsen Kunst und Wissenschaft zusammen. Biologen haben nach dem Genom mit der Entschlüsselung des Protenoms begonnen, d.h. der eher trivialen Syntax der Gene folgt die Erforschung ihrer komplexen Semantik. Welche Gene kodieren in welcher Weise die jeweiligen Proteine? Und in der Grundlagenforschung der Physik ist endlich die vollständige und nicht nur näherungsweise Vereinheitlichung der Relativität mit den Quanten in Angriff genommen worden.

Thomas Mann hat den Naturwissenschaften den allgemeinen Bildungswert immer wieder abgesprochen und ist damit unter den Literaten und Geisteswissenschaftlern bis heute keine Ausnahme geblieben. Mit Goethe war ihm das eigentliche Studium der Menschheit der Mensch. Gleichwohl räumte er ein, daß die moderne Physik phantastischer, wichtiger und verändernder für den Menschen und sein Weltbild sei als die Literatur je sein könne. So etwas sagte der Großschriftsteller allerdings nur aus Höflichkeit; denn eigentlich hielt er den literarischen Geist für die höchste Offenbarung des Menschengeistes. In gesunder Geistigkeit sollte der zugleich Wille und Vorstellung vereinen und dabei logisch, formvoll und klar sowie streng und heiter sein. Nicht auf Erfindung, sondern auf Beseelung oder Verinnerlichung kam es ihm an: auf tiefes, schmerzhaftes Erkennen und schönes, formstrenges Gestalten. Die physikalischen Thorien Einsteins waren auch keine Erfindung, sondern beruhten auf Abstraktion und Veräußerlichung. Tiefes, lustvolles Erkennen wußte der Physiker mit wahrem, invariantem Gestalten zu verbinden. Die Invarianzprinzipien der persönlichen Veräußerlichung wie der mathematischen Abstraktion gewann er durch seine auf Einfühlung in die Erfahrung sich stützende Intuition. Mit einem Mindestmaß von Hypothesen suchte er ein Maximum von Erlebnisinhalten mathematisch einzubeziehen. Der chaotischen Mannigfaltigkeit der Sinneserlebnisse ordnete er ein logisch einheitliches gedankliches System zu. Auch Einstein wußte seinen Willen zur Vereinheitlichung mit der Vorstellung logischer Ordnung in Einklang zu bringen.



 
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Ingo Tessmann
6/9/2003